Werbeverbot für digitalen Arztbesuch
Die Werbung für eine umfassende, nicht auf bestimmte Krankheiten oder Beschwerden beschränkte ärztliche Fernbehandlung ist unzulässig. Sie ist auf solche Erkrankungen zu beschränken, bei denen eine digitale Fernbehandlung anerkannter Standard ist. Dies hat der Bundesgerichtshof entschieden. Von Anja Mertens
– I ZR 146/20 –
Bundesgerichtshof
Durch die Corona-Pandemie
hat die Digitalisierung des Gesundheitswesens einen Schub erfahren. So ist die Zahl der Videosprechstunden stark gestiegen. Diese Entwicklung nutzt Ärzten und Patienten gleichermaßen: Patienten ersparen sich Anfahrt und Wartezeiten. Ärzte können Praxisabläufe effizienter organisieren und Ansteckungsrisiken minimieren. Darf aber eine Krankenversicherung für rein digitale Erstuntersuchungen inklusive Krankschreibung werben? Eine Frage, über die der Bundesgerichtshof (BGH) zu entscheiden hatte.
Von Wettbewerbszentrale verklagt.
Ein Krankenversicherer hatte auf seiner Internetseite mit der Aussage „Erhalte erstmals in Deutschland Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App“ geworben. Die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs sah darin einen Verstoß gegen das Verbot der Werbung für Fernbehandlungen und verlangte von der Krankenversicherung, diese Werbung zu unterlassen. Dem hielt das Unternehmen entgegen, dass die beworbene Fernbehandlung von erfahrenen Ärzten in der Schweiz erbracht werde und dort schon seit Jahren erlaubt sei. Die Beratung beschränke sich zudem auf allgemeine medizinische Probleme, bei denen ein persönlicher Kontakt zwischen Arzt und Patient nicht erforderlich sei.
Schließlich reichte die Wettbewerbszentrale Klage ein. Das Landgericht gab der Wettbewerbszentrale recht. Das Unternehmen legte Berufung ein. Während das Berufungsverfahren noch lief, hatte der Gesetzgeber Paragraf 9 des Heilmittelwerbegesetzes (HWG) um einen Satz ergänzt. Danach gilt das Werbeverbot für Fernbehandlungen nicht, wenn ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem Patienten nach allgemein anerkannten Standards für die Behandlung nicht erforderlich ist. Nachdem das Oberlandesgericht (OLG) das erstinstanzliche Urteil bestätigt hatte, legte die Krankenversicherung Revision beim BGH ein.
Das Werbeverbot dient dem Schutz der Gesundheit, so die Karlsruher Richter.
Die obersten Zivilrichter schlossen sich jedoch der Entscheidung des OLG an. Die Werbung des Krankenversicherers für den digitalen Arztbesuch per App verstoße gegen Paragraf 9 HWG in seiner alten sowie in seiner neuen Fassung. In der bis 2019 gültigen Fassung war eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen beruht (Fernbehandlung), unzulässig. Diese Voraussetzungen für ein Werbeverbot seien im vorliegenden Fall erfüllt.
Die obersten Zivilrichter teilten nicht die Auffassung der Beklagten, das OLG habe zu unrecht die Videosprechstunde als ein ärztliches Handeln angesehen, das nicht auf eigener Wahrnehmung des Arztes beruhe. Eine eigene Wahrnehmung im Sinne von Paragraf 9 HWG setze voraus, dass der Arzt den Patienten nicht nur sehen und hören, sondern auch – etwa durch Abtasten, Abklopfen oder Abhören oder mit medizinisch-technischen Hilfsmitteln wie zum Beispiel Ultraschall – untersuchen könne. Das erfordere die gleichzeitige physische Präsenz von Arzt und Patient und sei im Rahmen einer Videosprechstunde nicht möglich.
Anerkannte Standards als Maßstab.
Die Werbung der Beklagten verstoße auch gegen die neue Fassung des Paragrafen 9 HWG. Das dort geregelte Verbot sei zwar nicht auf die Werbung für Fernbehandlungen anzuwenden, die mit Kommunikationsmedien wie Apps erfolgten. Das gelte aber nur, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem Patienten nicht erforderlich ist. Diese Voraussetzung liege aber hier nicht vor.
Hinsichtlich des allgemein anerkannten fachlichen Standards sei nicht auf die Regelungen des für die Ärzte geltenden Berufsrechts abzustellen. Insofern komme es auch nicht darauf an, dass die beworbene Fernbehandlung Ärzten in der Schweiz schon seit Jahren erlaubt ist.
Vielmehr entspreche der Begriff des allgemein anerkannten fachlichen Standards dem des Paragrafen 630a Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches, der für den Behandlungsvertrag gilt und nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen auszulegen ist. Danach könnten sich solche Standards auch erst im Laufe der Zeit entwickeln und etwa aus den Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften oder den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses ergeben. Dies entspreche auch dem Anliegen des Gesetzgebers, der Weiterentwicklung telemedizinischer Möglichkeiten Rechnung zu tragen.
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Darüber hinaus sei die beanstandete Werbung deshalb unzulässig, weil sie sich nicht auf bestimmte Beschwerden oder Krankheiten beziehe, sondern eine ärztliche Primärversorgung (von der Diagnose über die Therapieempfehlung bis hin zur Krankschreibung) per Fernbehandlung anbieten würde. Davon sei das OLG zurecht ausgegangen. Dass eine so umfassende Fernbehandlung den bestehenden allgemeinen fachlichen Standards entspreche, habe das Berufungsgericht nicht festgestellt und die Beklagte dazu auch nichts vorgetragen.
Gesundheitsschutz betont.
Zugleich unterstrichen die obersten Zivilrichter, dass bei gesundheitsbezogener Werbung besonders strenge Anforderungen an die Richtigkeit, Eindeutigkeit und Klarheit der Werbeaussage zu stellen sind. Denn irreführende gesundheitsbezogene Angaben könnten die Gesundheit des Einzelnen sowie der Bevölkerung erheblich gefährden. Die strengen Anforderungen dienten dem Schutz der Gesundheit und seien für die Beurteilung einer Werbung für Fernbehandlungen im Sinne von Paragraf 9 HWG heranzuziehen.
Kommentar: Der unbestreitbaren Notwendigkeit, die Digitalisierung im Gesundheitswesen schnell voranzutreiben, kann die Patientensicherheit und Behandlungsqualität nicht untergeordnet werden. Der im BGH-Urteil vorgenommenen Ausrichtung am allgemein anerkannten medizinischen Standard ist vollumfänglich zuzustimmen.