Neue Wege zur Qualität im Pflegeheim
Wie viele Bewohner waren kurzzeitig in der Klinik oder bekamen Antipsychotika? Solche Informationen nutzt das Projekt „Qualitätsmessung in der Pflege mit Routinedaten (QMPR)“. Zwölf Indikatoren stehen jetzt zur Verfügung. Von Susann Behrendt und Dr. Antje Schwinger
Rund 700.000
in der Regel hochbetagte und multimorbide Menschen leben in Deutschland im Pflegeheim. Medienberichte und wissenschaftliche Studien konstatieren eine teils erhebliche Fehl- und Unterversorgung dieser vulnerablen Bevölkerungsgruppe. Die Mängel bestehen in unterschiedlichen Bereichen an den Schnittstellen der pflegerischen und medizinischen Versorgung. Einrichtungsbezogene Informationen hierzu liegen bisher weder den Heimen selbst noch den Pflege- und Krankenkassen, den Bewohnerinnen und Bewohnern oder der Öffentlichkeit vor.
Daten stammen aus rund 5.000 Heimen.
Um sektoren- und berufsgruppenübergreifende Versorgungsprozesse beziehungsweise -ergebnisse im Pflegeheim zu erfassen, steht nun ein Set von Qualitätsindikatoren zur Verfügung (siehe Kasten „Qualitätsmessung mit Routinedaten: Indikatoren für Heime“). Sie basieren auf Routinedaten, also Daten aus der Abrechnung von Versorgungsleistungen mit den Pflege- und Krankenkassen. Im vom Innovationsfonds geförderten Forschungsprojekt „Qualitätsmessung in der Pflege mit Routinedaten (QMPR)“ entwickelte das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) die Indikatoren gemeinsam mit der aQua-Institut GmbH und der Ostfalia Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Das mehrstufige Vorgehen sah dabei eine wissenschaftliche Vorabbewertung möglicher Indikatoren, dann indikatorindividuelle strukturierte Literaturrecherchen und schließlich die Testung auf Basis der anonymisierten Abrechnungsdaten der elf AOK-Pflege- und Krankenkassen (2016 bis 2018) vor. Diese bezogen sich auf rund 260.000 Bewohnerinnen und Bewohner in rund 5.000 Pflegeheimen und schlossen damit rund die Hälfte der vollstationären Einrichtungen in Deutschland ein. Um einen fairen Vergleich der Heime sicherzustellen, gibt es bei QMPR für jeden Indikator ein Adjustierungsverfahren. Es berücksichtigt das einrichtungsbezogene Risikoprofil. Kleine Einrichtungen, aus denen Informationen von weniger als 30 AOK-versicherten Bewohnern vorlagen, gingen nicht in die Berechnungen ein.
Die Indikatoren können das Qualitätsmanagement der Heime erweitern.
Die nun veröffentlichten zwölf wissenschaftlich fundierten Indikatoren eignen sich zur Qualitätsmessung in Heimen an den Schnittstellen der pflegerisch-ärztlichen Versorgung, des Arzneimitteleinsatzes sowie im Zusammenhang mit Krankenhauseinweisungen von Bewohnern. Alle Indikatoren sind so ausgewählt und konzipiert, dass sie sich auf relevante und durch die Beteiligten beeinflussbare Versorgungsdefizite beziehen.
Die Ergebnisse des Projektes zeigen, dass das QMPR-Verfahren ganz grundsätzlich funktioniert. Zudem bestätigen sie die empirischen Befunde zur Fehlversorgung. Die Indikatorergebnisse und damit die Qualität variieren zwischen den Einrichtungen teilweise enorm. So zeichnen die QMPR-Indikatoren unter anderem eine Versorgungsrealität beim Einsatz von Antipsychotika bei Demenz, die nationalen wie internationalen Empfehlungen entgegensteht. Während sich in einem Viertel der Pflegeheime (Perzentil 25) der Anteil an demenziell Erkrankten mit Antipsychotika-Dauerverordnung auf maximal vier Prozent beläuft, reicht er in einem weiteren Viertel (Perzentil 75) von elf bis 40 Prozent je Pflegeheim.
Die im Projekt „Qualitätsmessung in der Pflege mit Routinedaten (QMPR)“ entwickelten Indikatoren betrachten relevante Qualitätsaspekte an den Schnittstellen der Versorgung von Heimbewohnern. Beim Test zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Einrichtungen. So lag etwa der Anteil der Bewohner mit sturzrisikoerhöhender Medikation und sturzassoziierten Klinikaufenthalten im Durchschnitt bei 16 Prozent. Im Viertel der Einrichtungen mit den niedrigsten Werten (Perzentil 25) lag der Anteil lediglich bei 11,4 Prozent, im Viertel der Einrichtungen mit den höchsten Werten (Perzentil 75) hingegen bei 20 Prozent.
Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), 2022
Die Schwankung der Ergebnisse setzt sich bei der Hospitalisierung fort: In einem Viertel der Pflegeheime hatten bis zu 30 Prozent der Bewohner im Verlauf eines Jahres einen kurzzeitigen, das heißt maximal dreitägigen Krankenhausaufenthalt. Im Viertel der Pflegeheime mit den höchsten Anteilen betraf dies 43 bis 81 Prozent der Bewohner. Studien zeigen, dass solche kurzzeitigen Klinikaufenthalte die Heimbewohner körperlich und psychisch erheblich belasten und dass diese Aufenthalte potenziell vermeidbar sind.
Limitationen beachten.
Während im SGB V die Qualitätssicherung mittlerweile Routinedaten einbezieht und sektorenübergreifend angelegt ist, sind analoge Weiterentwicklungen im SGB XI nicht zu erkennen. Die QMPR-Indikatoren erweitern nun auch für den Kontext der Pflegeversicherung die Perspektive der Messung. Sie leisten einen wertvollen Beitrag zur Darstellung der Versorgungsqualität. Dabei sind natürlich auch Limitationen zu beachten: Routinedaten sind Abrechnungsdaten und damit für andere Zwecke erhoben. Einige gleichfalls qualitätsrelevante Merkmale lassen sich mit ihnen nicht abbilden. Hier bedarf es ergänzender Erhebungsverfahren wie Befragungen zur Lebensqualität.
Kassen können Impulsgeber werden.
Die mit Projektabschluss vorliegenden QMPR-Indikatoren belegen nicht nur erstmals, wie stark die Versorgungssituation zwischen den Heimen schwankt. Sie haben auch das Potenzial, das interne Qualitätsmanagement und die externe Qualitätssicherung zu erweitern. Die Covid-19-Pandemie zeigt aktuell, wie wichtig es ist, Qualitätssicherung unabhängiger von Vorort-Besuchen zu gestalten. Die Pflege- und Krankenkassen könnten die QMPR-Indikatoren beispielsweise den Pflegeheimen regelmäßig zur Verfügung stellen, um so die empirische Basis für das interne Qualitätsmanagement zu verbreitern. Darauf aufbauend ließe sich die berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit der Leistungserbringer stärken. Die Kassen könnten so Impulsgeber sein und die Qualitätssicherung im Heim voranbringen.
Impulse sind aber auch denkbar in Hinblick auf die Weiterentwicklung der gesetzlichen Qualitätssicherung – unter anderem durch eine Integration einrichtungsbezogener QMPR-Indikatoren in die regelhaften Qualitätsprüfungen der Pflegeheime. Bestehende Auffälligkeiten ließen sich den Prüfern an die Hand geben, um so die Aufmerksamkeit zu erhöhen und Gesprächsanlässe für Verbesserungen zu schaffen. Ebenso diskutieren lässt sich längerfristig die Nutzung ausgewählter QMPR-Indikatoren für die öffentliche Qualitätsberichtserstattung.
- Der Ergebnisbericht zum Projekt „Qualitätsmessung in der Pflege mit Routinedaten“ (QMPR) ist als kostenloser Download erhältlich: Band 1, Band 2
- Antje Schwinger, Silvia Klein: Qualitätssicherung im Pflegeheim: Welche Lösungen aus dem Krankenhaus lassen sich ableiten? Download
- Antje Schwinger, Susann Behrendt: Reform der Qualitätsprüfung und -darstellung im Pflegeheim: Stand der Umsetzung und offene Fragen. Download
- Susann Behrendt, Antje Schwinger et al.: Qualitätsmessung mit Routinedaten im Pflegeheim am Beispiel Dekubitus. Download
Eine Herausforderung bleibt dabei die Frage, wer dafür verantwortlich sein soll, die Qualitätsdefizite zu beheben. QMPR impliziert hier ein neues Denken: Alle Indikatoren messen Defizite bei berufsgruppen- und sektorenübergreifenden Versorgungsprozessen, sind also nicht von einem Akteur allein zu verantworten. Ein erster Schritt, das sektorenbezogene Denken aufzubrechen, wäre die Veröffentlichung und Nutzung der Ergebnisse auf Systemebene. Sie könnten Grundlage sein für Diskussionen und Entscheidungen in den entsprechenden politischen Gremien auf Kreis- beziehungsweise Bezirksebene, in den Krankenhaus-Planungsausschüssen oder den Landespflegeausschüssen. Vor diesem Hintergrund plant das WIdO, die QMPR-Ergebnisse in einem ersten Schritt auf Kreisebene (nicht einrichtungsindividuell) als regionale Versorgungskennziffern online zu veröffentlichen.
Basis für Verbesserungen.
Das nun vorliegende erste Set der QMPR-Indikatoren liefert Transparenz in bisher wenig ausgeleuchteten Versorgungsbereichen. Dies ist Voraussetzung für die Aufmerksamkeit der Beteiligten auf den verschiedenen Ebenen des Versorgungssystems und damit Basis für jegliche Verbesserungsbemühungen, Strategieentwicklungen und -evaluationen. Die Indikatorergebnisse lassen sich von den Leistungserbringern zudem ohne zusätzlichen Dokumentationsaufwand nutzen.