Missbrauch der Wissenschaft
Die Politik hat die Ständige Impfkommission (Stiko) wegen ihres Zögerns bei Corona-Impfungen für über 12-Jährige kritisiert. Das gibt Verschwörungstheoretikern Auftrieb, meint Peter Thelen.
Die Sache ist rechtlich sonnenklar.
Bereits seit 1972 halten sich die Bundesländer beim Infektionsschutz lückenlos an die Empfehlungen der seit 2001 im Infektionsschutzgesetz verankerten Ständigen Impfkommission. Der Gemeinsame Bundesausschuss nutzt ihre Empfehlungen für seine Richtlinien zu den seit 2007 zum Leistungskatalog der Krankenkassen gehörenden Impfungen.
2017 gab der Bundesgerichtshof der Stiko sogar höchstrichterliche Weihen, indem er urteilte, dass bei Uneinigkeit der Eltern über Impfungen gegen Kinderkrankheiten wie Masern, Mumps und Röteln der Elternteil entscheiden soll, dessen Votum dem Kindeswohl besser gerecht wird. Dies sei in der Regel der Elternteil, der den Empfehlungen der Stiko folge. Gerade erst hat das Oberlandesgericht Frankfurt bei einem 16-Jährigen mit Adipositas diesen Grundsatz auch für Corona-Impfungen bestätigt: Dem Kindeswohl dient auch hier am besten, wer der Empfehlung der Stiko folgt.
Die Stiko wurde aus Angst heraus beschädigt.
Damals lautete diese noch, die Impfung sei nur bei Kindern mit Vorerkrankung angezeigt, weil hier der Vorteil des Schutzes vor einer im Normalfall harmlos verlaufenden Infektion den Schaden durch negative Impfwirkungen sicher überwiege.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte deshalb nicht das Kindeswohl im Auge, als er im Juli wie SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und andere die Stiko drängte, die Impfung für alle über 12-Jährigen zu empfehlen. Das gilt auch für die Ländergesundheitsministerkonferenz, die am 2. August genau dies propagierte. Im Auge hatte die Politik nur die eigene Angst vor einem Scheitern der Impfstrategie angesichts der nachlassenden Impfbereitschaft Erwachsener und des drohenden Desasters beim Schulstart nach den Ferien.
Es ist eine Schande, dass die Politik aus dieser Angst heraus in Kauf nahm, eine Institution wie die Stiko zu beschädigen. Dabei ist nur auf den ersten Blick fatal, dass diese inzwischen im Lichte neuer Erkenntnisse ihr Votum den Forderungen der Politik angepasst hat. Tatsächlich hatte die Stiko schon früh darauf hingewiesen, dass sie möglicherweise so entscheide und gebeten, ihre Entscheidung abzuwarten. Doch die Politik zog es vor, die Stiko ins Heer der Experten einzureihen, denen sie in dieser Pandemie mal gefolgt und mal nicht gefolgt ist. Solch missbräuchlicher Umgang mit Wissenschaft ist Wasser auf die Mühlen der Verschwörungstheoretiker.