Genug Arzneimittel verfügbar? Hersteller und Großhändler müssen Ausfälle von versorgungsrelevanten Medikamenten an das zuständige Bundesinstitut melden.
Arzneimittel

Transparenz beugt Engpässen vor

Die Coronavirus-Pandemie befeuert die Diskussionen um eine sichere Arzneimittelversorgung. Dabei geht es vor allem um die Abhängigkeit von der Wirkstoffproduktion in China und Indien. Von Thomas Rottschäfer

Zum 1. Juli übernimmt Deutschland

die EU-Ratspräsidentschaft. Schon jetzt ist klar: Sie wird ganz im Zeichen der Coronavirus-Pandemie stehen. Alle Ministerien sind inzwischen mit dem Überarbeiten der Programmplanung beschäftigt, um der Krisenlage gerecht zu werden. „Das Bundesgesundheitsministerium dürfte sich unter anderem auf Möglichkeiten für eine bessere Erfassung und den besseren Austausch epidemiologischer Daten sowie auf Lösungen für Lieferengpässe bei Arzneimitteln und Medizinprodukten konzentrieren“, sagt der Europaexperte und Vertreter der AOK in Brüssel, Evert-Jan van Lente.

Lieferwege und -ketten verkürzen.

Das Thema Lieferengpässe stand schon vor Beginn der Krise auf der Europa-Agenda von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Dabei geht es vor allem um die Abhängigkeit der Arzneimittelhersteller von wenigen Wirkstoffproduzenten in China und in Indien. „Es ist falsch, dass nur eine Region in der Welt für die Produktion wichtigster Güter für uns zuständig ist“, betonte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt am 25. März in der Debatte des Bundestages über das Corona-Krisenpaket der Bundesregierung. „Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, damit Firmen wieder bereit sind, in Europa zu produzieren“, fordert auch seine Parteikollegin, Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml. „Wir müssen uns überlegen, welche Umwelt- und Sozialstandards wir bei Importen von außerhalb der EU verlangen“, sagte sie im Gespräch mit G+G. Huml plädiert dafür, zum Beispiel bei der Vergabe von Arzneimittelrabattverträgen Hersteller besonders zu berücksichtigen, die Wirkstoffe aus EU-Produktionsstätten beziehen, um Lieferketten und Lieferwege zu verkürzen. Auch die Importförderklausel benötige man nicht mehr.

Europäische Strategie verfolgen.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat bereits deutlich gemacht, dass er Lösungen auf EU-Ebene sucht. Das sieht auch die AOK so. „Bei globalen Lieferschwierigkeiten ist eine gemeinsame europäische Strategie sinnvoll, die mehr Markttransparenz und eine Mindestbevorratungspflicht für wichtige Arzneimittel im Blick hat“, sagt Johannes Bauernfeind. Der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg ist Federführer für die bundesweiten AOK-Rabattverträge. Sie tragen erheblich zur finanziellen Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen bei. 2019 konnten die Kassen nach vorläufigen Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums rund 4,88 Milliarden Euro durch Versorgungsverträge mit Pharma­unternehmen einsparen.

Bei Arzneimitteln aus einem Rabattvertrag kommt es seltener zu Lieferengpässen als bei Mitteln ohne Vertrag.

Der AOK-Bundesverband warnt deshalb davor, die jetzt einsetzende Diskussion um eine sichere Arzneimittel­versorgung zu einer Diskussion um die Rabattverträge zu verkürzen. „Der Pharmaindustrie sind die Arzneimittelrabattverträge seit ihrer Einführung ein Dorn im Auge. Immer wieder bringen die Interessenverbände sie deshalb mit Lieferengpässen in Verbindung“, sagt Vorstandschef Martin Litsch. Dabei habe Deutschland gerade einmal einen Anteil von vier Prozent am globalen Generikamarkt.

Rabattverträge sichern Versorgung.

Ein aktuelles Positionspapier des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI) zur Rückverlagerung von Produktion nach Europa konzentriert sich dennoch vor allem auf die Arzneimittel­rabattverträge. So fordert der BPI unter anderem einen zwei- bis dreijährigen Ausschreibungsstopp für Arzneimittel, bei denen mehrfach ein Versorgungs­defizit aufgetreten sei. Dagegen sei ein „Zurückholen“ der Wirkstoffproduktion wegen der damit verbundenen großen Investitionen und des höheren regula­torischen Aufwands nur bedingt rea­lisierbar. „Daraus wird deutlich, dass es der Pharmaindustrie nicht um bessere Versorgung und größere Unabhängigkeit von Wirkstoffmonopolisten in Asien geht, sondern um gewinnorientierte Produktionsbedingungen. Die Folge wären höhere Arzneimittelpreise ohne mehr Liefersicherheit.“

Nach einer Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) sind Rabattvertragsmedikamente seltener von Lieferausfällen betroffen. Im Untersuchungszeitraum (September 2019) waren laut WIdO 99,3 Prozent der Arzneimittel, die zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden, lieferbar. „Unter den 9.000 Arzneimitteln, für die es einen AOK-Rabattvertrag gibt, lag der Anteil der lieferbaren Präparate demnach sogar bei 99,7 Prozent. Die Arzneimittelrabattverträge erhöhen die Versorgungssicherheit, stärken den Wettbewerb unter den Pharmafirmen und senken die Arzneimittelkosten“, erläutert der stellvertretende WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder.

Gutachter empfehlen Melderegister.

Ein im Februar veröffentlichtes Gutachten des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Bei Arzneimitteln aus einem Rabattvertrag kommt es seltener zu Lieferengpässen als bei Arzneimitteln ohne einen solchen Vertrag.“ Als Hauptursache für Lieferausfälle nennen die Gutachter Produktions- und Qualitätsprobleme seitens der Hersteller.

Für die Analyse hat das Institut Gesundheit Österreich GmbH die Situation in Deutschland mit der in Finnland und Italien (beide ohne Rabattverträge) sowie mit den Niederlanden und Schweden (beide mit ähnlichen Instrumenten wie in Deutschland) verglichen. Die Gutachter kommen zu zwei zentralen Erkenntnissen: Zum einen nehmen Lieferengpässe weltweit zu – unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung der nationalen Gesundheitssysteme. Zum anderen lässt sich kein Zusammenhang zwischen Lieferengpässen und Ausschreibungsinstrumenten wie den Rabattverträgen in Deutschland ableiten.

Hauptgrund für Lieferausfälle sind Produktions- und Qualitätsprobleme bei den Herstellern.

Die Gutachter empfehlen für Deutschland ein verpflichtendes Melderegister, in das neben der Industrie auch Großhändler und Apotheken einbezogen werden müssten. Die Meldungen sollten kontrolliert und Verstöße sanktioniert werden. Aus den Bußgeldern könne man gegebenenfalls eine personelle Aufstockung der kontrollierenden Behörde oder eine finanzielle Abgeltung für Mehraufwand der Apotheken finanzieren.

Politik will Transparenz verbessern.

Das Gutachten hat auch vor dem Hintergrund der Coronavirus-Krise an Aktualität gewonnen. „Deutschland sollte die EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr dafür nutzen, um europäische Lösungen zu finden“, empfehlen die Wissenschaftler. Mögliche Maßnahmen aus ihrer Sicht: besserer Informationsaustausch, ein europäisches Melderegister und eine enge Abstimmung mit der Task-Force der EU-Arzneimittelagentur. „Die Diskussion über ein Zurückholen von Produktionskapazitäten nach Europa kann mit den damit verbundenen Anreizen und Kosten nur als strategischer Dialog zwischen den europäischen Partnern geführt werden“, heißt es im Gutachten.
 
Auf nationaler Ebene hat die Bundesregierung mit dem am 1. April in Kraft getretenen Gesetz für fairen Kassenwettbewerb neue Regeln für mehr Transparenz auf den Weg gebracht. Danach müssen Pharmaunternehmen und Arzneimittelgroßhändler dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Ausfälle von versorgungsrelevanten Arzneimitteln jetzt verpflichtend melden. Sie sollen auf der Website des BfArM veröffentlicht werden. „Die Infor­mationen zu verfügbaren Lagerbeständen, zur Produktion und zur Absatzmenge helfen dem BfArM, die Versorgungslage bei bestimmten Arzneimitteln besser einschätzen und angemessen rea­gieren zu können“, sagt Bundesgesundheits­minister Jens Spahn. In kritischen Situa­tionen kann das BfArM Hersteller und Großhändler nun zur Bevorratung besonders wichtiger Medikamente verpflichten. Ein Beirat beim BfArM soll die Versorgungslage kontinuierlich beo­bachten und bewerten. In dem Gremium sitzen Ärzte, Apotheker, Industrie, Krankenkassen und Patientenvertreter.

Der AOK-Bundesverband hat die Neuregelung begrüßt, bemängelt allerdings, dass die Apotheker nicht in die Meldepflicht einbezogen wurden. „So fehlt leider ein wichtiges Glied in der Informationskette“, sagt Vorstandschef Martin Litsch.

Thomas Rottschäfer ist freier Journalist mit Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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