„Wir brauchen einen Kulturwandel“
Hygieneregeln verstehen, Symptome erkennen, Verhalten im Verdachtsfall: In der Corona-Krise spielt die Gesundheitskompetenz eine bedeutende Rolle. Von der aktuellen Situation erhofft sich Präventionsexperte Dr. Kai Kolpatzik einen nachhaltigen Kulturwandel.
Herr Dr. Kolpatzik, gibt es Menschen, die noch nicht mitbekommen haben, dass zur Vorbeugung vor Corona-Infektionen gründliches Händewaschen gehört?
Kai Kolpatzik: Das will ich nicht ausschließen, doch es dürften angesichts der Dauerinformation eher nur wenige sein. Aber in dieser Krise erleben wir so deutlich wie nie zuvor, wie wichtig Gesundheitskompetenz ist, um zwischen lebenswichtigen Handlungsempfehlungen und zum Teil aberwitzigen Ratschlägen und Fake News im Internet und in den sozialen Netzwerken zu unterscheiden. Ohne die Fortschritte beim Thema Health Literacy in den letzten Jahren wären wir jetzt noch viel schlechter aufgestellt. Die Krise zeigt uns aber auch, dass es weiterer Anstrengungen bedarf.
Zur Person
Dr. med. Kai Kolpatzik, MPH, EMPH, leitet die Abteilung Prävention beim AOK-Bundesverband.
Woran denken Sie dabei konkret?
Kolpatzik: In Deutschland leben immer noch rund 6,2 Millionen Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können. Und wir wissen aus einer im Mai 2019 veröffentlichten Untersuchung, dass trotz aller Bemühungen etwa zwölf Prozent der Deutsch sprechenden 18- bis 64-Jährigen nicht in der Lage sind, schriftliche Informationen zu verstehen, die länger als ein Satz sind. Für diese Menschen ist das Risiko, gesundheitsrelevante Informationen nicht adäquat zu finden, verstehen, beurteilen und anwenden zu können fast doppelt so hoch wie für diejenigen mit guten Lesefähigkeiten. Sozial Benachteiligte werden häufiger krank als andere. Bei der Politik und anderen gesellschaftlich Beteiligten ist durchaus angekommen, dass hier etwas im Argen liegt. Aber der Wille zum Handeln könnte entscheidender sein. Wir müssen diese Gruppen viel stärker in den Blick nehmen.
Besteht nicht die Gefahr, dass dieses Thema angesichts der drohenden Wirtschaftskrise von der Tagesordnung rutscht?
Kolpatzik: Ich bin eher optimistisch. Die Politik erlebt gerade, wie wichtig es in einer akuten Gesundheitskrise ist, die Bevölkerung schnell und gut zu informieren. Gleichzeitig beobachten wir einen enormen Schub bei der Nutzung digitaler Medien zum Suchen und Finden von Wissen über das Coronavirus. Darauf müssen wir uns einstellen. Wir brauchen mehr zielgruppenspezifische digitale Informationen: Erklärvideos, eingängige Infografiken, kurze Texte in einfacher Sprache.
Aus der Corona-Krise können wir für die schnelle und zielgruppengerechte digitale Kommunikation lernen.
Wie wird sich die Corona-Krise aus Ihrer Sicht auf das Thema Prävention auswirken?
Kolpatzik: Ich setze darauf, dass die Krise zu einem echten gesellschaftlichen Wandel führt, zu einem anderen Hygieneverständnis. Auch zu einem anderen Umgang mit Erkrankungen. Grippewellen haben zuletzt 2015 und 2017 viele tausende Todesopfer gefordert. Und trotzdem haben sich bei uns schwer erkältete oder vielleicht sogar mit Influenza Infizierte im öffentlichen Raum bewegt – ohne Mundschutz, wie ihn etwa die Menschen in vielen Ländern Asiens aus Rücksicht auf ihre Mitmenschen ganz selbstverständlich benutzen. Bei uns gehen viele krank zur Arbeit und stecken in Bus oder Bahn und am Arbeitsplatz andere an. Vor einigen Jahren haben wir mit der Initiative „Aus Fehlern lernen“ einen Kulturwandel in Medizin und Pflege angestoßen. Solch einen Kulturwandel brauchen wir jetzt in der Gesellschaft insgesamt. Die Politik muss dazu Weichen stellen. Doch ich habe den Eindruck, dass die drastischen Folgen der Corona-Krise uns allen vor Augen führen, dass wir aus Fehlern dringend lernen müssen. Wir müssen jeder eine gesellschaftliche Verantwortung übernehmen.
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