Arzneimittel

Kein Anspruch auf Kostenübernahme

Die Behandlung einer schwangeren Frau und ihres ungeborenen Kindes mit einem nicht zugelassenen Medikament ist nur in Ausnahmefällen auf Kassenkosten möglich. Dafür muss eine lebensbedrohliche Erkrankung vorliegen und die Schädigung des Fetus höchstwahrscheinlich sein. Dies entschied das Bundessozialgericht. Von Anja Mertens

Urteil vom 24. Januar 2023
– B 1 KR 7/22 R –

Bundessozialgericht

Wann Ärzte ein Arzneimittel

außerhalb der von den nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete (Off-Label) verordnen können und die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten dafür übernehmen dürfen, ist klar geregelt: Das Medikament muss in der Arzneimittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses aufgeführt sein und im dort festgelegten Rahmen (Patientengruppe, Indikation, Dosierung, Behandlungsdauer) verordnet werden. Auch muss eine schwerwiegende lebensbedrohliche Erkrankung vorliegen, für die es keine andere Therapie gibt. Trotz der Vorgaben kommt es immer wieder zu Rechtsstreiten vor den Sozialgerichten. So auch im Fall einer schwangeren Frau, über den das Bundessozialgericht (BSG) zu entscheiden hatte.

Antrag gestellt.

Die 1990 geborene Versicherte befand sich in der neunten Schwangerschaftswoche, als bei ihr eine Infektion mit dem Zytomegalievirus (CMV) festgestellt wurde. Mit dem für sie ungefährlichen Herpesvirus kann sich ein Ungeborenes im Mutterleib an­stecken. Um ihr ungeborenes Kind zu schützen, beantragte die schwangere Frau bei ihrer Krankenkasse die Versorgung mit dem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel Cytotect CP Biotest. Laut beigefügtem Schreiben des Pränatalmediziners bestehe für das ungeborene Kind ein hohes Infektionsrisiko (40 bis 50 Prozent). Zehn Prozent der infizierten Feten zeigten pränatal und bei der Geburt Symptome. Weitere zehn Prozent seien bei der Geburt asymptomatisch, könnten aber später zum Teil schwerwiegende Schäden entwickeln (Gehör, Auge, auffällige neurologische Entwicklung).

Der für einen Off-Label-Use erforderliche Nachweis der Wirksamkeit ist nicht geführt, urteilten die obersten Sozialrichter.

Es lägen Studiendaten vor, die darauf hindeuten würden, dass die Vermehrung des Virus in der Plazenta durch die Verabreichung von Cytotect CP Biotest unterdrückt werden könne. Die Behandlung damit sei praktisch nebenwirkungsfrei und stelle die einzige Möglichkeit dar, das Risiko einer Infektion und Schädigung des ungeborenen Kindes zu verringern. Die Krankenkasse lehnte den Antrag der Frau ab. Das Arzneimittel sei in Deutschland dafür nicht zugelassen. Eine europäische Arzneimittelzulassung liege nicht vor. Die Wirksamkeit und Un­bedenklichkeit bei einer Schwangerschaft seien nicht abschließend erforscht. Dagegen legte die Frau erfolglos Widerspruch ein. Sie ließ sich dreimal ambulant mit Cytotect behandeln und verlangte von ihrer Kasse die Übernahme der Kosten in Höhe von 8.753,55 Euro.

Das Sozialgericht verurteilte die Krankenkasse, die Therapiekosten zu erstatten. Daraufhin legte die Kasse Berufung beim Landessozialgericht (LSG) ein und bekam Recht. Die Schwangere habe keinen Anspruch auf Erstattung der Therapiekosten. Das Arzneimittel sei nicht für den gewählten Anwendungsbereich zuge­lassen. Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use lägen nicht vor.

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Ein Anspruch der Schwangeren habe auch nicht nach Paragraf 2 Absatz 1a Sozialgesetzbuch (SGB) V bestanden. Zwar habe eine Krankheit vorgelegen. Diese sei jedoch nicht lebensbedrohlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind durch die Infektion keinen schweren Schaden erleiden würde, sei mit etwa 84 Prozent deutlich höher als die Wahrscheinlichkeit einer schweren oder gar tödlichen Schädigung. Auch habe es an einer auf Indizien gestützten, nicht ganz fernliegenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf gefehlt.

Wirksamkeit nicht nachgewiesen.

Daraufhin legte die Frau Revision beim BSG ein – ohne Erfolg. Die obersten Sozialrichter stellten zunächst fest, dass die Klägerin zwar an einer behandlungs­bedürftigen Krankheit gelitten habe. Dafür genüge auch das hier vorliegende Risiko einer Schädigung des bislang nicht infizierten ungeborenen Kindes durch eine mögliche Übertragung der Infektion im Mutterleib. Der Anspruch auf Kostenerstattung scheitere aber daran, dass das Arzneimittel Cytotect CP Biotest für die Behandlung einer Infektion mit dem Zytomegalie­virus während der Schwangerschaft nicht zugelassen sei und die durch Gesetz und Rechtsprechung anerkannten Ausnahmen nicht vorlägen. Der für einen Off-Label-Use erforderliche wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit sei nicht geführt.

Notstandsähnliche Situation verneint.

Die Schwangere habe auch keinen Anspruch auf das Arzneimittel nach Paragraf 2 Absatz 1a SGB V. Denn sie und ihr Kind litten nicht an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung. Hierzu müsse die Gefahr bestehen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit der voraussichtlich tödliche oder ein besonders schwerer Krankheitsverlauf innerhalb eines überschaubaren Zeitraums eintrete. Dieser Grundsatz gelte auch für die Behandlung von Schwangeren zum Schutz des ungeborenen Lebens. Im Falle einer für das ungeborene Kind gefährlichen Infektion der Mutter liege aber dann keine notstandsähnliche Lage in dem vorbeschriebenen Sinne vor, wenn die Wahrscheinlichkeit der Geburt eines gesunden Kindes deutlich überwiege. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut, der Systematik und der Ent­stehungsgeschichte von Paragraf 2 Absatz 1a SGB V. Die Schutzwirkungen der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip führten nicht zu einer erweiternden Auslegung der Rechtsnorm. Nach den Feststellungen des LSG habe keine hohe Wahrscheinlichkeit bestanden, dass das ungeborene Kind der Schwangeren durch die Infektion sterben oder schwer geschädigt würde.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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