Medizinprodukte

Haftung der Prüfstelle ist möglich

Im Schadensersatz-Streit um minderwertige Brustimplantate aus Industrie-Silikon hat der Bundesgerichtshof ein wichtiges Urteil gefällt: Hat der TÜV Rheinland als Benannte Stelle seine Prüfpflichten verletzt, kann er grundsätzlich haften. Dies muss die Vorinstanz nun umfassend klären. Von Anja Mertens

Urteil vom 27. Februar 2020
– VII ZR 151/18 –

Bundesgerichtshof

Es war ein Medizinprodukte-Skandal

von enormem Ausmaß und beschäftigt noch heute die Gerichte: Die französische Firma Poly Implant Prothèse (PIP) hatte bis 2010 jährlich rund 100.000 minder­wertige Brustimplantate hergestellt und verkauft. In den Implantaten steckte Industriesilikon anstelle von hochwertigem und weitaus teurerem medizinischen Silikon. Die PIP-Implantate waren oftmals undicht, mitunter rissen sie oder platzten. Der TÜV Rheinland als eine für die Zertifizierung von Medizinprodukten zuständige Benannte Stelle hatte dem Unternehmen die Konformität des Herstellungsverfahrens bescheinigt. Damit waren die PIP-Brustimplantate nach der europäischen Medizinprodukte-Richtlinie 93/42/EWG markt- und handelsfähig. Wegen der gesundheitlichen Gefahren hatte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Anfang 2012 empfohlen, die PIP-Brustimplantate wieder entfernen zu lassen. Allein in Deutschland ließen sich Tausende Frauen die Implantate austauschen. Die Kosten für Revisionsoperationen übernahmen die Krankenkassen.

Kasse fordert Ersatz für OP-Kosten.

Im Jahr 2013 reichte die AOK Bayern Klage gegen den TÜV Rheinland beim Landgericht Nürnberg-Fürth ein und forderte Schadensersatz für die aufgewendeten Kosten der operativen Eingriffe, insgesamt über 50.000 Euro. Die Benannte Stelle habe für die PIP-Implantate die CE-Kennzeichnung nicht aufrecht erhalten dürfen. Nachdem die Klage erfolglos blieb, legte die Kasse Berufung beim Oberlandesgericht Nürnberg ein. Das Berufungsgericht vertrat jedoch die Auffassung, dass weder eine vertrags- noch eine deliktsrechtliche Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren in Betracht komme. Etwaige Pflichten bei der Überprüfung und Zertifizierung durch die Benannte Stelle bestünden nicht gegenüber den versicherten Patientinnen. Daraufhin legte die Kranken­kasse Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) ein und hatte Erfolg. Er hob das Berufungsurteil auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurück.

Die Zertifizierung von Medizinprodukten soll dem Schutz der Gesundheit dienen, so die Bundesrichter.

In seiner Begründung führte der BGH zunächst aus, dass eine Haftung der Beklagten nach den Grundsätzen eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter nicht in Betracht komme. Der Zweck des Zertifizierungsvertrages habe darin bestanden, die nach der europä­ischen Medizinprodukte-Richtlinie und dem nationalen Medizinproduktegesetz notwendigen Voraussetzungen für den Vertrieb der Brustimplantate zu schaffen. Hierzu sei ein EU-Konformitätsbewertungsverfahren durch eine Benannte Stelle durchzuführen gewesen. Selbst wenn sich unterstellen ließe, dass der Hersteller in der Regel daran interessiert sei, dass durch seine Produkte niemand zu Schaden kommt, umfasse der Zweck des Zertifizierungsvertrages nicht den Schutz künftiger Patientinnen vor Gesundheitsgefahren. Dem Konformitätsbewertungsverfahren komme aus Herstellersicht nicht die Aufgabe zu, ihn im Verhältnis zu Patienten abzusichern oder seine Rückgriffsmöglichkeiten gegenüber der Benannten Stelle bei Fehlerhaftigkeit von Produkten zu erweitern. Vielmehr diene das Verfahren dazu, dem Hersteller den Marktzugang seines Produktes ähnlich einem behördlichen Zulassungsverfahren zu eröffnen.

Patientenschutz im Blick.

Allerdings könne eine Haftung der Beklagten nicht per se verneint werden. Die im Medizinproduktegesetz und in der EU-Richtlinie getroffenen Regelungen zum Konfor­mitätsbewertungsverfahren und zu den Rechten und Pflichten Benannter Stellen bei Medizinprodukten der Klasse III – dazu gehören Brustimplantate – solle gerade dem Schutz der Gesundheit der Patienten dienen.

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Diesen Schutz zu gewährleisten, obliege nicht allein dem Hersteller, sondern auch der Benannten Stelle. Diese müsse ihre Bewertungen und Prüfungen unabhängig von jeder Einflussnahme – insbesondere finanzieller Art – durchführen. Ungeachtet ihres vertraglichen Auftrages diene ihre Prüfungstätigkeit nicht nur dem Hersteller, sondern gerade auch den Endempfängern der Medizinprodukte.

Haftung zu Unrecht verneint.

Angesichts der mit der Verwendung fehlerhafter Medizinprodukte zusammenhängenden Gesundheitsgefahren ist nach Ansicht der obersten Zivilrichter eine deliktische Haftung der Benannten Stelle wegen Verletzung eines Schutzgesetz (Paragraf 823 Absatz 2 Bürgerliches Gesetzbuch) sinnvoll und auch tragbar. Denn wenn die Benannte Stelle ihre Prüfpflichten schuldhaft verletzt habe, würde das Verneinen der Haftung den Sinn und Zweck des Konformitätsbewertungsverfahrens infrage stellen und seine Bedeutung entwerten. Wegen der potenziellen Gesundheitsgefahren sei die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs gegen die Benannte Stelle sinnvoll. Um Anreize zu verhindern, die dem Zweck des Konformitätsbewertungsverfahrens zuwiderlaufen, sei es notwendig, dass die Benannte Stelle nicht nur dem Risiko einer vertraglichen Haftung gegenüber dem Hersteller im Fall einer zu strengen Prüfung ausgesetzt ist, sondern auch dem Risiko einer deliktischen Inanspruchnahme durch Dritte.

Das Berufungsgericht müsse nun klären, ob der TÜV Rheinland nachlässig geprüft habe beziehungsweise welche Pflichtverletzungen dafür verantwortlich waren, dass die fehlerhaften Produkte jahrelang vertrieben und Patientinnen eingesetzt werden konnten.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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