„Die EU-Pharmastrategie benennt erstmals konkret alle Probleme“
Die Pharmastrategie der EU-Kommission soll den europäischen Arzneimittelsektor krisenfest machen. Evert Jan van Lente, Ständiger Vertreter der AOK in Brüssel, begrüßt den Vorschlag, fragt sich aber, ob er weit genug geht.
Gegen Ende der deutschen Ratspräsidentschaft hat die EU-Kommission ihre lange angekündigte Pharmastrategie vorgestellt. Beschleunigt die Covid-19-Pandemie die Umsetzung?
Evert Jan van Lente: Der Zeitdruck auf die Kommission ist groß. Die Pharmastrategie ist aber keine unmittelbare Reaktion auf die Corona-Krise. Sie bezieht zwar wichtige Covid-19-Konsequenzen ein, greift aber vor allem politische Initiativen auf, die schon seit einigen Jahren von Europaparlament, Rat und Kommission diskutiert werden. Der europäische Arzneimittelsektor soll besser auf Krisen vorbereitet werden und dem digitalen und technologischen Wandel Rechnung tragen. Wichtige Ziele sind die strategische Autonomie der EU, diversifizierte und sichere Lieferketten sowie eine langfristig finanzierbare Medikamentenversorgung, aber auch eine ökologisch nachhaltige und faire Arzneimittelproduktion sowie die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Pharmaindustrie.
Zur Person
Evert Jan van Lente ist Ständiger Vertreter der AOK in Brüssel.
Was ist aus Ihrer Sicht besonders wichtig?
van Lente: Wir diskutieren schon lange über den sicheren Zugang aller Europäer zu neuen und erschwinglichen Arzneimitteln und über die Deckung des Arzneimittelbedarfs in kritischen Bereichen. Dazu gehören Antibiotika, aber auch die Entwicklung neuer Medikamente zur Behandlung seltener Erkrankungen und insbesondere zur Behandlung von Krebserkrankungen bei Kindern. Das Überarbeiten der entsprechenden EU-Verordnungen steht schon lange an. Die bisherigen Vorgaben haben zwar Einiges bewirkt, aber für viele Krankheiten gibt es immer noch keine Behandlungsoption, während die Pharmaindustrie stark von Mitnahmeeffekten profitiert hat.
Welche konkreten Schritte sind jetzt zu erwarten?
van Lente: Der Vorschlag enthält wenig Konkretes, das sich sofort umsetzen ließe. Es ist aber schon ein Gewinn, dass die Kommission fast alle Probleme erstmals explizit aufgelistet hat. Viele Punkte haben frühere Kommissionen noch als Pharma-feindlich abgelehnt. Bei den Themen Preisfindung und Erstattung agiert jedoch auch die aktuelle Kommission zurückhaltend. Sie wird keine eigenen Vorschläge erarbeiten, weil das in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fällt. Stattdessen soll die freiwillige Zusammenarbeit und der Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten gefördert werden. Es ist fraglich, ob das reicht. Insgesamt geht es darum, den EU-Rechtsrahmen für den gesamten Arzneimittelsektor zu überarbeiten. Das ist eine Aufgabe für die ganze Legislaturperiode.
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