„Wir können die Pandemie nur gemeinsam bekämpfen“
Die deutsche Ratspräsidentschaft hat das Auseinanderbrechen der Europäischen Union verhindert und die Staatengemeinschaft nach vorne gebracht, meint Dr. Peter Liese. Zugleich sieht der Europaabgeordnete weiteren Handlungsbedarf vor allem bei der Arzneimittelpolitik.
Herr Dr. Liese, im Streit um die Impfstoff-Beschaffung haben Sie das gemeinsame Vorgehen der EU vehement verteidigt. War die Entscheidung richtig?
Peter Liese: Das europäische Vorgehen war richtig. Wenn wir es national gemacht hätten, wäre keineswegs sicher, dass wir mehr Impfstoff hätten. Selbst dann stünden wir jetzt massiv unter Druck, anderen EU-Staaten Impfstoff abzugeben. Ein deutsches Leben ist ja nicht mehr wert als ein belgisches oder polnisches Leben. Ich habe im März und April letzten Jahres als Arzt in der Praxis gearbeitet und erlebt, was es bedeutet, keine Masken zu haben. In Italien sind über 1.000 Ärzte und Pflegekräfte gestorben. In dieser Phase haben Frankreich und Deutschland kurzzeitig Exportverbote für Masken verhängt. Das war ein Spaltpilz für Europa. Es ist gut, dass wir in der ersten Corona-Welle alle gelernt haben, dass wir die Pandemie nur solidarisch bekämpfen können.
Zur Person
Dr. Peter Liese (CDU) ist Arzt und seit 1994 Mitglied des Europaparlaments sowie Gesundheitspolitischer Sprecher der EVP-Fraktion.
In Deutschland wurden zu Jahresbeginn vor allem die aus Sicht der Kritiker zu geringen Bestellungen bei Biontech/Pfizer kritisiert.
Liese: Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass es vielleicht besser gewesen wäre, mehr Impfstoff bei Biontech/Pfizer zu bestellen, vielleicht auch mehr Moderna-Impfstoff. Aber über die Erfolgsaussichten konnten uns zum Zeitpunkt der Verhandlungen selbst ausgewiesene Experten wie Prof. Christian Drosten noch keine genauen Aussagen machen. Mit Blick auf die Situation in den USA und einen Präsidenten Donald Trump, dem alles zuzutrauen war, hat die Kommission richtigerweise auch auf Impfstoffe gesetzt, die unter „europäischer Kontrolle“ sind. Das ist bei Moderna nicht der Fall und bei Biontech/Pfizer nur zum Teil. Trump hat zudem zu einem frühen Zeitpunkt Verträge unterschrieben, ohne auf der Haftung des Unternehmens zu bestehen. Wir werden in den nächsten Monaten sehr viel mit der Impfbereitschaft der Menschen zu tun haben. Ich habe deshalb großes Verständnis dafür, dass die EU-Kommission die Hersteller nicht aus der Haftung entlassen hat. Denn bei der Haftungsfrage geht es nicht nur um Geld, sondern vor allem um Sicherheit und Vertrauen.
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft war vor allem geprägt durch die Corona-Krise. Wie beurteilen Sie das halbe Jahr im Rückblick?
Liese: Die EU stand im vergangenen Jahre mehrfach kurz vor der Spaltung. Die deutsche Ratspräsidentschaft, allen voran Angela Merkel, hat sehr viel Geschick bewiesen, eine Spaltung nicht nur zu verhindern, sondern die Union sogar nach vorne zu bringen Wir haben einen zukunftsfähigen Haushalt, aber vor allem einen Wiederaufbauplan. Zudem ist es gelungen, ein ehrgeiziges Klimaziel zu beschließen – eines der wichtigsten Zukunftsthemen überhaupt. Der Partnerschaftsvertrag mit Großbritannien ist nicht perfekt, aber dass ein chaotischer Brexit vermieden wurde, ist auch ein Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft.
Im Budgetstreit haben sich die Europaabgeordneten gegen den Rat durchgesetzt. Hat sich die Krise auch als Chance für das Parlament erwiesen?
Liese: Das Europäische Parlament spielt gerade bei den Zukunftsthemen eine starke Rolle und hat im Haushaltsstreit mehr Geld für Forschung und Gesundheit durchgesetzt. Das Gesundheitsprogramm umfasst mit 5,1 Milliarden Euro drei Mal mehr, als der Rat vorgeschlagen hatte und zehn Mal mehr, als bisher für Gesundheit zur Verfügung stand. Bisher hat die Kommission in erster Linie den Expertenaustausch und Netzwerke gefördert. Jetzt können wir auch selbst vieles praktisch umsetzen, zum Beispiel im Rahmen der Krebsbekämpfung gemeinsame Ausschreibungen für bessere Methoden zur Krebsfrüherkennung. Das wird den Bürgerinnen und Bürgern konkret helfen.
Die EU-Kommission hat mit der Ankündigung einer Gesundheitsunion große Erwartungen geweckt. Was bleibt von der gemeinsamen Gesundheitspolitik nach der Pandemie?
Liese: Wenn man sich anschaut, wie wenig abgestimmt die Pandemiebekämpfung zwischen den deutschen Bundesländern abgelaufen ist, kann man nicht erwarten, dass es auf Europaebene perfekt läuft und die Mitgliedstaaten sich zu 100 Prozent abstimmen. Viele Fragen der Gesundheitspolitik werden und sollten auch national bleiben. Die Krise hat uns aber gezeigt, dass wir stärker zusammenarbeiten müssen. Auch vor der Pandemie war schon klar, dass wir zum Beispiel bei der Bekämpfung von Krebs, bei der Bekämpfung von Antibiotika-Resistenzen und anderen Problemen erfolgreicher sein können, wenn wir zusammenarbeiten. Experten wie der ehemalige Leiter des Deutschen Krebsforschungszentrums Heidelberg, Prof. Otmar Wieseler, sagen, dass wir es schaffen können, dass in 20 Jahren niemand mehr an Krebs stirbt. Aber dazu muss die Forschung in Europa gestärkt werden. Dabei geht es nicht nur um mehr Geld, sondern auch um pragmatische Wege, mit denen wir den Forschern die Zusammenarbeit so einfach wie möglich machen.
Mit der Ende November angekündigten EU-Pharmastrategie bohrt die Kommission ein dickes Brett. Was passiert da jetzt ganz konkret?
Liese: Die gemeinsame Arzneimittelpolitik ist ein Marathonlauf. Da müssen wir sehr viel verbessern. Zwei Punkte sind mir besonders wichtig: Maßnahmen gegen die Arzneimittel-Knappheit und die Bekämpfung von Krebs bei Kindern. Zu Punkt eins: Wir müssen jetzt schnell dafür sorgen, dass wir bei der Arzneimittelversorgung nicht mehr abhängig sind von Indien und China. Das heißt: Wir brauchen mehr Produktion in Europa und mehr Diversifizierung. Wir dürfen bei einzelnen Medikamenten nicht von einem einzigen Werk abhängen, auch wenn das in Europa steht. Wir brauchen immer Alternativen. Bei den Arzneimittelausschreibungen müssen wir dafür sorgen, dass nicht nur der Preis, sondern auch die Versorgungssicherheit zählt.
Zu Punkt zwei: Die EU-Regulierungen für Medikamente gegen seltene Erkrankungen und für Kinder-Arzneimittel haben im Prinzip gut funktioniert. Wir haben seit Inkrafttreten der Verordnungen vor 15 Jahren viele neue Therapien bekommen. Aber ausgerechnet bei Krebstherapien für Kinder funktioniert es nicht, weil die Kosten offensichtlich sehr hoch und die Fallzahlen sehr niedrig sind. Wenn Kinder an Krebs erkranken, ist das ein besonders schlimmes Schicksal. Wegen der geringen Fallzahlen müssen wir das europäisch machen und alle Kräfte bündeln.
Die Kommission selbst spricht von einer Aufgabe für die gesamte Legislaturperiode. Das klingt nicht nach schnellen Fortschritten …
Liese: Der gesamte Zeitplan zur Umsetzung der Pharmastrategie liegt bei drei Jahren. Ich habe Ursula von der Leyen persönlich gesagt, dass sie die Personalsituation in der Generaldirektion Gesundheit jetzt schnell verbessern muss. Aus meiner Sicht müssen wir insbesondere bei den beiden von mir genannten Punkten bereits in diesem Jahr konkrete Ergebnisse erzielen.
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- „Die EU-Pharmastrategie benennt erstmals konkret alle Probleme“: Evert Jan van Lente, Ständiger Vertreter der AOK in Brüssel, spricht im G+G-Interview über die zentralen Ziele der Pharmastrategie, sieht aber auch noch ungeklärte Fragen.