Rückfall in alte Rollenmuster
Homeoffice und Homeschooling: An diesem Spagat drohen Frauen zu zerbrechen, meint Dr. Karella Easwaran. Die Ärztin plädiert dafür, Familienarbeit als vollwertig anzuerkennen und für zuverlässige Kinderbetreuung zu sorgen.
Marie hat lange durchgehalten.
Seit einem Jahr waren ihre Kinder Leon und Laura nur sporadisch in der Schule. In vielen Fächern bekommen die beiden nur noch Arbeitsblätter, mit denen sie ohne Hilfe nicht viel anfangen können. Also muss Marie mit ihnen nicht mehr nur Vokabeln und Kopfrechnen üben, sondern ihnen auch den Stoff erklären und sie motivieren. Das kostet sie zusätzlich ein bis zwei Stunden am Tag. Noch dazu muss sie sich ständig etwas Neues einfallen lassen, damit Leon und Laura nicht länger als notwendig vor dem Bildschirm sitzen – gar nicht so einfach, denn das soziale Netz der Kinder ist auf die ein, zwei engsten Freunde zusammengeschrumpft und fast alle Sport- und Freizeitanlagen sind geschlossen.
Wenn die Kinder im Bett sind, geht es für Marie dagegen noch mal richtig los: Früher haben alle Familienmitglieder mittags in der Kantine oder in der Schulmensa gegessen, aber die sind geschlossen, und Marie muss jetzt immer Mittagessen kochen. Weil sie für ihren Job bis 13 Uhr am Bildschirm verfügbar sein muss, kocht sie abends für den kommenden Tag vor. Sonst haben die Großeltern die Kinder öfter betreut. Weil sie aber noch keine 70 sind, hat es lange gedauert, bis sie einen Impftermin bekommen haben. Erst nächsten Monat werden sie wieder mal etwas mit den Kindern unternehmen können.
Jetzt sitzt Marie vor mir in meiner Praxis. Sie ist mit der zehnjährigen Laura wegen der anstehenden U11 hier. Mit Laura ist alles in Ordnung, aber ihre Mutter ist blass und erschöpft. Es ist ein Wunder, dass sie nicht zusammengeklappt ist. Kurzfristige Belastungsspitzen kommen vor und lassen sich in der Regel aushalten. Doch wenn ein Mensch über viele Monate seine Ressourcen angreifen muss, wird die Sache kritisch.
Wenn die Nerven blank liegen, leiden die Schwachen.
Geschichten wie die von Marie höre ich gegenwärtig oft. Viele Frauen sind nach über einem Jahr extremer Belastung körperlich, psychisch und emotional ausgelaugt. Dass es gerade sie trifft, liegt daran, dass die Aufgaben im häuslichen Bereich bis heute sehr ungleich verteilt sind. Vieles von dem, was sich in Jahrzehnten Schrittchen für Schrittchen verbessert hatte, ging im Corona-Jahr auf einen Schlag wieder verloren. Die zuständigen staatlichen Einrichtungen und Organisationen stellen sogar eine Zunahme der Gewalt in Familien fest. Wenn die Nerven blank liegen, leiden die Schwachen. Das sind neben den Kindern meist die Frauen.
Marie ist ganz automatisch in das alte Rollenbild zurückgeglitten. Ihr Mann ist der Hauptverdiener der Familie. Deshalb hatten die beiden im ersten Lockdown vereinbart, dass der kleine Hauswirtschaftsraum zu seinem Arbeitszimmer umgebaut wird. Für ihre eigenen Homeoffice-Zeiten hat Marie sich eine Ecke in der Küche reserviert. Zwischendurch hat sie sogar überlegt, ob sie ihre Arbeit kündigen soll. Sie hat sich entschlossen weiterzumachen, aber die anstehende Beförderung kann sie wohl vergessen. Ihr Chef ist nicht zufrieden damit, dass sie mitunter ihrer Familie den Vorrang gibt.
In ihrem aktuellen Buch „Das Geheimnis ausgeglichener Mütter“ beschreibt die Bestseller-Autorin das „Beneficial-Thinking“, eine von ihr entwickelte Methode zum Umgang mit Stress, und stellt fest: „Muttersein ist der schönste Job der Welt – aber auch der härteste.“
Wie können wir in Zukunft den erneuten Rückfall in überkommene Rollenmuster vermeiden? Ich will hier nur zwei Punkte nennen. Erstens: Wenn Kinderbetreuung und Haushalt endlich als vollwertige Arbeit anerkannt werden, sichert das Mütter nicht nur sozial ab, es stärkt auch ihre Verhandlungsposition, wenn es um die Frage geht: Wer bekommt das Arbeitszimmer und wer den Küchentisch? Hier sind nicht nur die Lebenspartner gefragt, sondern auch die Politik. Erst wenn Männer und Frauen gleiche Karriere- und Verdienstchancen im Beruf haben, wird die Kinderbetreuung nicht mehr nur als Frauensache abgetan.
Zweitens: Es gab und gibt Argumente für und gegen die Kita- und Schulschließungen während der Corona-Zeit. Ob sie sinnvoll waren oder nicht, werden wir erst im Nachhinein sicher bewerten können. Eines hat Corona aber klar gezeigt: Ohne eine absolut zuverlässige Kinderbetreuung kann es keine Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt geben.