Thema des Monats

Corona treibt
den Globus um

Covid-19 lässt sich nur weltweit überwinden. Dabei helfen funktionierende Sozialsysteme und eine gerechte Impfstoff-Verteilung. Dem stehen jedoch häufig nationale und wirtschaftliche Interessen entgegen, beklagt Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Dr. Jens Holst.

Die Corona-Pandemie hat nachdrücklich gezeigt, wie global Gesundheit mittlerweile ist: Das Virus verbreitete sich in Windeseile von der chinesischen Millionenstadt Wuhan über den gesamten Globus. Dabei folgte es anfangs den Spuren des Welthandels, sparte keinen Kontinent aus und führte vielerorts zu bisher unbekannten Maßnahmen.

Pandemien sind ein globales Problem und erfordern globale Antworten. Global Health, die Theorie und Praxis der Bewältigung von weltweiten Problemen der Gesundheit von Bevölkerungen, ist wichtiger als je zuvor. Schon lange vor der Corona-Pandemie stand globale Gesundheit auf der internationalen politischen Agenda. Die deutsche Bundesregierung gilt als treibende Kraft auf der weltpolitischen Bühne. Sie bringt Global-Health-Themen auf die Tagesordnung internationaler Foren und Gipfeltreffen, investiert großzügig in globale Gesundheitsvorhaben und -initiativen und tritt in einer zunehmend von nationalem Egoismus geprägten Welt immer wieder als Anwältin des Multilateralismus – der Zusammenarbeit vieler Staaten bei der Lösung von Problemen – in Erscheinung. Im Oktober 2020 veröffentlichte sie eine neue Global-Health-Strategie mit dem Titel „Verantwortung – Innovation – Partnerschaft: Globale Gesundheit gemeinsam gestalten“ (siehe Kasten „Strategie zur globalen Gesundheit“).

Im Oktober 2020 hat die Bundesregierung die neue Strategie zur globalen Gesundheit „Verantwortung – Innovation – Partnerschaft: Globale Gesundheit gemeinsam gestalten“ verabschiedet. Ziel ist es, die Schwerpunkte des deutschen Engagements zu aktualisieren und zur Koordination und Zusammenarbeit aller Akteure beizutragen. Die Strategie ist an Stelle des im Jahr 2013 verabschiedeten Konzeptes zur globalen Gesundheitspolitik „Globale Gesundheitspolitik gestalten – gemeinsam handeln – Verantwortung wahrnehmen“ getreten, mit dem die Bundesregierung erstmals den deutschen Beitrag in diesem Politikfeld definierte.

Mit der Strategie reagiert die Bundesregierung auf neue Herausforderungen in der globalen gesundheitspolitischen Landschaft: Neue Verpflichtungen wie die nachhaltigen Entwicklungsziele der Agenda 2030, die Herausforderungen durch die Zunahme von Antibiotikaresistenzen oder das Auftreten von Ländergrenzen überschreitenden Infektionskrankheiten wie die Ebola-Krise oder die Corona-Pandemie. Diese Entwicklungen haben zu einem erhöhten Fokus auf gesundheitspolitische Themen geführt – insbesondere bei Fragen, die ein globales Ausmaß haben und deren Lösung sich auf nationalstaatlicher Ebene allein nicht mehr bewerkstelligen lässt.

Quelle und weitere Informationen: Bundesministerium für Gesundheit

Ratspräsidentschaft mit gemischter Bilanz.

Damals hatte Deutschland die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union (EU) inne. Das bisherige Global-Health-Engagement der Bundesregierung mit dem klaren Bekenntnis zum Multilateralismus und der neuen Strategie erzeugte große Erwartungen. Die Bilanz der deutschen Ratspräsidentschaft fällt allerdings eher gemischt aus. Auf der einen Seite überwand die Merkel-Regierung ihren beharrlichen Widerstand gegen gemeinsame europäische Schulden. Entscheidend waren dabei sicherlich das Ausmaß der Corona-bedingten Wirtschaftskrise, die Notwendigkeit antizyklischer Investitionen und der latente Vorwurf mangelnder inner­europäischer Solidarität. Auf der anderen Seite gelang der deutschen Ratspräsidentschaft aber keine überzeugende Koordinierung der Pandemiemaßnahmen innerhalb der EU. Reiseregelungen, Ausgangsbeschränkungen oder Quarantäne-Vorgaben waren und sind bis heute überall unterschiedlich. Und bei der Sicherung von Impfstoff hatte sich die Bundesregierung anfangs nur mit Frankreich, Italien und den Niederlanden abgestimmt. Die angestrebte und teilweise kritisierte gleichmäßige Verteilung in der EU geht auf eine Initiative der EU-Kommission und nicht der Ratspräsidentschaft zurück.

Wirksamkeit von Grenzschließungen ist fraglich.

Die Covid-19-Pandemie fordert selbst etablierte und stabile Staatengemeinschaften wie die EU heraus und führt zur Rücknahme grundlegender Errungenschaften wie der Freizügigkeit. In der allgemeinen Panik- und Angststimmung beim Covid-19-Ausbruch fiel den meisten Regierungen nichts Besseres ein als Grenzschließungen und drastische Einschränkungen der Reisefreiheit. Damit suggerierten sie Handlungsfähigkeit und erfüllten das Sicherheitsbedürfnis nationaler Bevölkerungen. Die Wirksamkeit ist aber in so kleinräumigen Regionen wie Europa – anders als zum Beispiel in Inselstaaten wie Island oder Neuseeland – eher fraglich. Die internationale Verflechtung ist mittlerweile so ausgeprägt, dass hermetische Abschottung unverzüglich die Versorgung beeinträchtigt oder sogar gefährdet. Folgerichtig blieben nationale Grenzen denn auch in den meisten Fällen für den Warentransport und für Berufspendler geöffnet. Das deckt sich im Übrigen auch mit den internationalen Gesundheitsvorschriften der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Impfstoff-Hersteller diktieren die Bedingungen.

Wie stark die globale Gesundheitspolitik von nationalen Egoismen geprägt ist, bestätigte sich ein Jahr nach dem Pandemieausbruch im Gefeilsche um Corona-Impfstoffe. Nach monatelangen Warnungen vor den massiven Gefahren durch das neuartige Corona-Virus waren Politik und Bevölkerung hinreichend zermürbt, um auf jeden Zug aufzuspringen, der in Richtung Ende des Tunnels unterwegs zu sein versprach.

Reiseregelungen, Ausgangsbeschränkungen oder Quarantäne-Vorgaben waren und sind bis heute überall unterschiedlich.

Beeindruckende Erfolgsraten der Impfstoffe verschiedener Hersteller, die offenbar vor allem an die Börse und weniger an die Wissenschaft gerichtet waren, setzten Regierungen weltweit unter enormen Druck. So sicherten sich die finanzstarken Industriestaaten den Großteil der verfügbaren Impfdosen – allen voran Kanada, das für jeden seiner Bürger acht Dosen bestellt hat. Dabei akzeptierten sie weitgehend widerspruchslos die Bedingungen der Hersteller, die sich von Verantwortlichkeiten und eventuellen Regressforderungen befreien ließen.

Die Welt als Versuchslabor.

Die Corona-Pandemie hat die Welt in ein Versuchslabor verwandelt. Noch ist es zu früh, die Wirksamkeit der teilweise recht unterschiedlichen Maßnahmen abschließend zu bewerten. Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Momentaufnahmen sind irreführend und eher von politischen Interessen als von belastbaren Befunden geleitet. Der wellenförmige Verlauf der Covid-19-Ausbreitung und mögliche neue Virusmutanten machen Einschätzungen schwierig. Selbst bisher erfolgreiche Länder wie Japan und Uruguay erlebten im Frühjahr 2021 einen deutlichen Anstieg der Infektions- und Erkrankungszahlen.

Art und Umfang der Eindämmungsstrategie sowie deren Effekte zeigen eine starke Abhängigkeit von den politischen und organisatorischen Rahmenbedingungen. So erwiesen sich Länder mit starkem öffentlichen Sektor und insbesondere mit effektiven Public-Health-Strukturen als besser gerüstet als solche mit stark privatwirtschaftlicher Prägung oder dezentraler Organisation.

Dass ein gut funktionierendes Primärversorgungssystem den Umgang mit Pandemien erleichtert und insbesondere Massenimpfungen begünstigt, zeigt das südamerikanische Chile – sonst eher mit radikaler Privatisierung des Gesundheitswesens assoziiert. Mit fast 300.000 Dosen pro Tag impfte der Andenstaat schneller als Israel, die USA oder Großbritannien. Bis zur Jahresmitte sollen die 19 Millionen Einwohner immunisiert sein. Der Arzt und Gesundheitswissenschaftler Óscar Arteaga von der Public-Health-Fakultät der Universität Chile in Santiago benennt drei wesentliche Gründe: „Erstens hat Chile hinreichend Impfstoff gekauft, zweitens verfügt es über eine geeignete Infrastruktur, und drittens ist die Bevölkerung sehr aufgeschlossen gegenüber Impfungen.“ Entscheidend sei neben der großen Impfbereitschaft der Chilenen das öffentliche Versorgungssystem, das alle Privatisierungsreformen überstanden hat und die Bevölkerung bis heute in allen Ecken des Landes versorgt. Hinzu kommt allerdings eine spezielle politische Konstellation: Der nach jahrelangen Protesten und schlechtem Corona-Management unbeliebte Präsident Sebastián Piñera setzte wenige Monate vor der nächsten Wahl alles auf eine Karte und orderte überall reichlich Impfstoff, sozusagen als Immunisierung gegen zu viele Oppositionsstimmen.

Gesellschaftliche Werte prägen Umgang mit der Pandemie.

Aber nicht nur die Gesundheitssysteme sind unterschiedlich auf eine Pandemie vorbereitet. Die Antwort auf die Herausforderung durch Covid-19 hängt auch stark von gesellschaftlichen Rollenerwartungen und überzeugender beziehungsweise verantwortlicher Politikgestaltung ab. So erklärt der in Berlin lebende Philosoph mit koreanischen Wurzeln, Byung-Chul Han, warum die Pandemie Europa stärker im Griff hat als das östliche Asien, mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Werten: „In Asien dominiert der Kollektivismus. Es gibt keinen ausgeprägten Individualismus, der natürlich nicht mit dem auch in Asien weit verbreitetem Egoismus gleichzusetzen ist.“ Auch die im Vergleich zu seiner Heimat zögerliche Akzeptanz von Mund-Nase-Masken in Europa habe kulturelle Ursachen: „Der in Europa herrschende Individualismus bringt es mit sich, ein unverhülltes Gesicht zu zeigen. Masken tragen ist etwas für Kriminelle.“

Covax (Covid-19 Vaccine Global Access) ist eine internationale Plattform unter der Leitung der Impfallianz Gavi, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI). Mehr als 190 Länder und verschiedene Impfstoff-Hersteller arbeiten darin zusammen mit dem Ziel, Covid-19-Impfstoffe weltweit allen Menschen zugänglich zu machen. Darunter sind auch 92 Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen, die von UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, bei der Beschaffung und Bereitstellung des Impfstoffs sowie den Vorbereitungen vor Ort unterstützt werden.

Bis Mitte Mai 2021 wurden durch Covax über 59 Millionen Impfdosen ausgeliefert. Bis zu zwei Milliarden Impfdosen sollen im Jahr 2021 insgesamt bereitgestellt werden. Die ersten Lieferungen der Covax-Impfstoffe gingen im Februar nach Ghana und in die Elfenbeinküste. Bis Mitte Mai wurden mehr als 120 Länder und Gebiete beliefert. Die Impfungen haben zumeist unverzüglich begonnen. Die verfügbaren Dosen werden den an Covax teilnehmenden Ländern mithilfe einer standardisierten Zuteilungsformel je nach Bevölkerungsgröße zugewiesen. Die große globale Nachfrage bringt mit sich, dass Impfstoffe zunächst noch nicht überall zur Verfügung stehen. Es wird Monate – möglicherweise sogar Jahre – dauern, um genügend Impfstoff für alle Menschen auf der Welt bereitzustellen.

Quelle und mehr Infos: UNICEF

Vor allem die Sorge um Datenschutz ist in Europa wesentlich größer als in asiatischen Ländern. Nicht nur in China, sondern auch in demokratischen Staaten wie Japan und Korea ist die Erfassung persönlicher Daten üblich und akzeptiert. Das erlaubt eine bessere Verfolgung des Infektionsgeschehens als unzuverlässige Corona-Apps. Wenig Probleme mit dem Datenschutz hat man auch am anderen Ende des asiatischen Kontinents. In Israel, das beim Impf-Tempo fast allen anderen Ländern voraus ist, erlauben die Corona-Notstandsregelungen die Erfassung personenbezogener Daten im Zusammenhang mit Covid-19. Das bietet Epidemiologen zwar eine hervorragende Grundlage für bevölkerungsbezogene Studien über die Ausbreitung beziehungsweise Eindämmung der Virusinfektion. Zugleich erlaubt es aber dem Bildungs- oder Sozialministerium, Druck auf bisher nicht geimpfte Menschen auszuüben und damit die Freiwilligkeit der Impfentscheidung auszuhebeln.

Die soziale Lage beeinflusst das Erkrankungsrisiko.

Der Verlauf der Pandemie hängt allerdings nicht nur von der Gesundheitspolitik, gesellschaftlichen Einstellungen und dem unterschiedlich ausgeprägten Vertrauen in Regierung und Staat ab. Großen Einfluss haben auch die soziale Lage und gesellschaftliche Ungleichheiten in einem Land. Für Covid-19 gilt dasselbe wie für andere Krankheiten: Sozial benachteiligte, bildungsferne und einkommensschwache Gruppen sind am stärksten von der Pandemie betroffen. So wiesen Gesundheitswissenschaftler der Ann-Arbor-Universität in Michigan schon vor Monaten einen deutlichen Zusammenhang zwischen sozialem Status und Infektions- und Erkrankungsrisiko nach. Sie stellten fest, dass sich das Corona-Virus in ärmlichen Wohngebieten schneller ausbreitete, einen größeren Anteil der Einwohner infizierte und mehr Todesopfer forderte. Andere Wissenschaftler hatten zuvor auf die besondere Gefährdung von Menschen mit dunkler Hautfarbe oder Migrationshintergrund hingewiesen. Eine Ende 2020 in der Zeitschrift „The Lancet“ veröffentlichte Metaanalyse von 50 Studien aus den USA und Großbritannien offenbarte eine mehr als doppelt so hohe Inzidenz bei Schwarzen und eine anderthalbfache Ansteckungsrate bei Menschen asiatischer Herkunft im Vergleich zur Gesamtbevölkerung.

Ursachen für Unterschiede sind vielfältig.

In Schweden waren Erkrankungshäufigkeit und Sterblichkeit bei ärmeren und weniger gebildeten Menschen sogar drei bis vier Mal so hoch wie bei Bessergestellten. Auch in Korea zeigten zumindest ältere Menschen niedriger Sozialschichten eine besondere Infektions- und Erkrankungsanfälligkeit. Die Ursachen der sozialen Ungleichheit im Zusammenhang mit Covid-19, die in Deutschland erst spät Beachtung fand, sind vielfältig. Sie reichen von beengten Wohnverhältnissen in dicht besiedelten Stadtteilen über fehlende Möglichkeiten für Heimarbeit und erhöhte Exposition gegenüber dem Corona-Virus in Dienstleistungsberufen bis zu Akzeptanzhürden gegenüber Hygiene-Maßnahmen und Kontaktbeschränkungen. Auch in anderen Industriestaaten und mehr noch in Schwellen- und Entwicklungsländern bestätigt Covid-19 die vielfach belegte sozialepidemiologische Erkenntnis, dass Angehörige niedrigerer Sozialschichten einem höheren Erkrankungs- und früheren Sterberisiko ausgesetzt sind. Einen Überblick dazu liefert das Robert-Koch-Institut in seinem „Journal of Health Monitoring“ von September 2020 (siehe Lese- und Webtipps).

Verarmungsrisiko für gering Qualifizierte wächst.

Auch die Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung treffen Ärmere und weniger Gebildete am stärksten. Langfristige Auswirkungen durch Arbeitsplatzverlust, schlechte Beschäftigungsaussichten oder Einkommenseinbußen und die damit verbundenen Verarmungsrisiken sind besonders dramatisch für gering Qualifizierte, während Menschen mit höherer Bildung kaum betroffen sind. Dies wird die ohnehin bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten in allen Ländern und Gesellschaften der Welt vergrößern.

Pandemien sind ein globales Problem und erfordern globale Antworten. Global Health ist deshalb wichtiger als je zuvor.

Damit wächst der Bedarf an universeller sozialer Absicherung. Länder mit funktionierenden Sozialsystemen können am besten auf die unerwünschten Folgen der Covid-19-Maßnahmen reagieren. Zwar sind soziale Sicherungssysteme nicht in der Lage, gesundheitliche Ungleichheiten vollständig auszugleichen. Aber sie helfen, die Pandemiefolgen abzufedern. Dabei geht es nicht nur um die Übernahme der Behandlungskosten bei Covid-19-Erkrankungen. Mindestens ebenso bedeutsam sind Transferleistungen in Form zeitlich begrenzter Geld- und Sachmittelzuwendungen zum Ausgleich von Einkommensverlusten.

Corona-Politik hat einen Tunnelblick.

Weder die gesellschaftlichen Folgen noch die Ursachen beziehungsweise die Frage der Vermeidung zukünftiger Pandemien finden bisher hinreichende Berücksichtigung in der Covid-19-Politik. Vielmehr bestätigt sich der in Global Health weit verbreitete Tunnelblick auf biomedizinische und technologische Lösungen. Dazu passt die Initiative „Covid-19 Vaccines Global Access“ (Covax). Sie ist eine von drei Säulen des „Access to Covid-19 Tools (ACT) Accelerator“, den die WHO, die Europäische Kommission und Frankreich im April 2020 ins Leben riefen (siehe Kasten „Impfstoff für die Welt“). Damit wollten sie medizinische und nicht-medizinische Maßnahmen der Covid-19-Bekämpfung beschleunigen und weltweit den gerechten Zugang zu Corona-Impfstoffen gewährleisten. Mittlerweile beteiligen sich viele Regierungen, globale Gesundheitsorganisationen, Wissenschaftler, Pharma- und Impfstoffhersteller und private Stiftungen. Als öffentlich-private Partnerschaft will Covax allen Ländern und allen Menschen Zugang zu Covid-19-Diagnostika, -Behandlungen und -Impfstoffen ermöglichen, unabhängig von ihrer Zahlungsfähigkeit.

Eigentlich eine überzeugende Idee und ein gutes Beispiel für globale Gesundheitspolitik. Anne Jung, Gesundheitsreferentin bei der Nichtregierungsorganisation „medico international“, kritisiert Covax allerdings als modernen Ablasshandel: „Auf der einen Seite setzen die teilnehmenden Staaten zusammen mit der WHO bei der Eindämmung der Pandemie auf das Charity-Modell Covax, eine klassische Public-Private-Partnership, an der die Pharmaindustrie und philanthro-kapitalistische Stiftungen maßgeblich beteiligt sind. Auf der anderen Seite verhindern sie die Öffnung der Patente und blockieren bei der Welthandelsorganisation WTO die Initiative Südafrikas und Indiens zur Aussetzung der Patentrechte für Covid-19-Mittel.“

Patentschutz für Impfstoffe aussetzen.

Patente sichern den Entwicklern neuer Produkte für etliche Jahre das Monopol auf ihre Erzeugnisse. Das soll ihnen die Möglichkeit geben, die Investitionskosten wieder hereinzuholen, bevor die Konkurrenz ihr Produkt nachahmen und verkaufen kann. Was bei Erfindern früherer Jahrhunderte angebracht war, stellt heute vor allem auf dem Arzneimittel- und Impfstoffmarkt ein großes Problem dar. Die auf die Kurzformel „Patente töten“ gebrachte Kritik zivilgesellschaftlicher Organisationen droht sich bei Covid-19 dramatisch zu bestätigen. Die Preise einiger Impfstoffe sind für ärmere Länder unerschwinglich. Anstatt auf die Gnade reicher Staaten und Philanthropen zu setzen, sollte die internationale Staatengemeinschaft in der Welthandelsorganisation WTO als zuständiger globaler Behörde den Patentschutz für Corona-Impfstoffe aussetzen.

Spenden und Wohltätigkeit

reichen nicht. Letztlich ist Covax nichts anderes als die Fortsetzung der klassischen Entwicklungshilfe, in der die reichen Staaten und Stiftungen des globalen Nordens den ärmeren Teil der Welt nach ihrem Gutdünken unterstützen. Spenden und Wohltätigkeit sind für die erfolgreiche Eindämmung von Covid-19 allerdings unzureichend. Pandemien lassen sich nur bekämpfen, wenn alle Menschen weltweit Zugang zu geeigneten Präventionsmaßnahmen haben. Ein globales Solidarprinzip ist nötig, so wie in der gesetzlichen Krankenversicherung. Nur wenn alle Staaten entsprechend ihrer Zahlungsfähigkeit in den globalen Impffonds einzahlen müssen und bedarfsabhängig Zugang zu Impfstoff bekommen, lässt sich die Pandemie wirksam eindämmen.

  • Karmakar, Monita; Lantz, Paula; Tipirneni, Renuka (2021): Association of Social and Demographic Factors With COVID-19 Incidence and Death Rates in the US. JAMA Netw Open 4 (1): e2036462. DOI: 10.1001/jamanetworkopen.2020.36462.
  • Wachtler, Benjamin; Michalski, Niels; Nowossadeck, Enno; Diercke, Michaela; Wahrendorf, Morten; Santos-Hövener, Carmen; Lampert, Thomas; Hoebel Jens (2020): Sozioökonomische Ungleichheit und Covid-19 – Eine Übersicht über den internationalen Forschungsstand. Journal of Health Monitoring 5 (S7): 3-18. DOI: 10.25646/7057. Download

Dafür muss eine hinreichende Menge Impfstoff zur Verfügung stehen. Das ist in der erforderlichen Kürze der Zeit nur machbar, wenn die Marktführer auch anderen Unternehmen in verschiedenen Ländern die Produktion erlauben. Davon ist die Welt bisher weit entfernt. Eine wesentliche Ursache ist der Patentschutz für Corona-Impfstoffe und zukünftig auch für eventuell verfügbare Arzneimittel gegen die Corona-Infektion. Viel aussichtsreicher als die nur zögerlich anlaufende Covax-Initiative wäre die Aussetzung des Patentschutzes für Covid-19-relevante Hilfs- und Arzneimittel sowie Impfstoffe. Angesichts der massiven öffentlichen Förderung der Impfstoffentwicklung müsste dies eine Selbstverständlichkeit sein.

Konzern nutzt Notlage aus.

Für die großen, weltweit agierenden Stiftungen, die bei der Pandemiebekämpfung an vorderster Front mitmischen und die globale Gesundheitspolitik entscheidend prägen, war die Aussetzung des Patentschutzes lange überhaupt kein Thema. Mit ihren Milliardenspenden beeinflussen die Gates- und andere philanthropische Stiftungen weltweit die öffentliche Politik. Sie setzen dabei auf biomedizinische Maßnahmen der Pandemiebekämpfung, die den Status quo unangetastet lassen. Mit partizipativer Meinungsbildung hat ihr Vorgehen kaum etwas zu tun, vielmehr verdrängt das finanzaristokratische Prinzip demokratische Teilhabe.

Erklärtes Ziel der Stiftungen ist es, den Armen und Benachteiligten dieser Welt zu einem besseren Leben zu verhelfen. Ihre Wohltätigkeit kommt aber nicht selten auch den Wohlhabenden und Philanthropen selber zugute. So hält der Wellcome-Trust Anteile an den Schweizer Pharma-Unternehmen Novartis und Roche, die erfolgversprechende Arzneimittel zur Behandlung schwerer Covid-19-Verläufe herstellen. Und die Bill & Melinda-Gates-Stiftung kann sich auf die Fahnen schreiben, mit ihrer 50-Millionen-Dollar-Überweisung an den Mainzer Hersteller Biontech einen entscheidenden Beitrag zur Impfstoffentwicklung und damit zur Eindämmung der Pandemie geleistet zu haben. Andererseits entpuppte sich dies aber auch als Finanzspritze für den Pharmakonzern Pfizer, der den Impfstoff weltweit vertreibt. Der US-Konzern nutzt die Notlage der Pandemie aus und verkauft das Biontech-Vakzin zu überhöhten Preisen, obwohl öffentliche Gelder in dreistelliger Millionenhöhe in die Entwicklung geflossen sind beziehungsweise fließen.

Das Recht auf Gesundheit höher gewichten.

Dass sich die meisten Pharma-Konzerne, die mit Corona-Vakzinen gigantische Gewinne erzielen, gegen ein Aussetzen des Patentschutzes sträuben, ist nicht überraschend. Sie wissen, dass der Boom von kurzer Dauer ist. Lange konnten sich die fünf größten Pharmakonzerne darauf verlassen, dass die Regierungen der Länder, in denen sie ihren Hauptsitz haben, ein Aussetzen des Patentrechts in der WTO blockieren. Nun haben die USA Bereitschaft signalisiert, den Patentschutz vorübergehend auszusetzen. Der Schweiz, Frankreich und nicht zuletzt Deutschland geht es aber offenbar mehr um die Gesundheit der Pharmariesen als um globale Gesundheit. Dabei könnte die Bundesregierung gerade in der Covid-19-Krise unter Beweis stellen, dass sie es mit ihrer Global-Health-Strategie ernst meint und das Recht auf Gesundheit tatsächlich höher gewichtet als das Recht auf Gewinne.

Literatur beim Verfasser

Jens Holst, Internist und Gesundheitswissenschaftler, hat an der Hochschule Fulda die Professur Medizin mit Schwerpunkt Global Health inne.
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