Arzneimittel

Pharmafirma muss Auskunft geben

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat entschieden: Besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein Patient ein mit einem möglicherweise Krebs verursachenden Stoff verunreinigtes Medikament eingenommen hat, kann der später an Krebs Erkrankte vom Hersteller Auskunft über Wirkungen des Arzneimittels verlangen. Von Anja Mertens

Urteil vom 19. August 2021
– 26 U 62/19 –

Oberlandesgericht Frankfurt/Main

Es war ein Schreck

für viele Patientinnen und Patienten, die den Wirkstoff Valsartan zur Senkung ihres Blutdrucks einnahmen: Im Juli 2018 wurden weltweit zahlreiche Arzneimittel mehrerer Phar­maunternehmen, die ihre Produkte mit verunreinigtem Valsartan hergestellt hatten, zurückgerufen und vom Markt genommen. Bei dem Wirkstoffhersteller und Zulieferer, der chinesischen Firma Zhejiang Pharmaceuticals waren Verunreinigungen mit N-Nitrosodimethylamin (NDMA) festgestellt worden. Die internationale Agentur für Krebsforschung IARC stuft diese Substanz als „wahrscheinlich krebserregend“ ein. Viele Patienten, die einen entsprechenden Blutdrucksenker eingenommen hatten und Krebs bekamen, fragten sich, ob es einen Zusammenhang zwischen der Einnahme eines solchen Medikaments und ihrer Krebserkrankung gebe. Einige verklagten die jeweilige Pharmafirma auf Schaden­ersatz. So auch eine krebskranke Frau, deren Fall dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) vorlag.

Einnahme vor dem Rückruf.

Die Frau hatte Valsartan AbZ zwischen 2013 und Mai 2018 und damit vor dem Rückruf eingenommen. Sie erhielt im Mai 2016 die Diagnose Brustkrebs und vermutete, dass ihre Krebserkrankung auf die Einnahme des Medikaments zurückzuführen sei. Es habe aus den verunreinigten Chargen gestammt. Sie verlangte von der Pharmafirma Auskunft über Wirkungen, Nebenwirkungen und Verdachtsfälle des Medikaments. Schließlich reichte sie eine entsprechende Klage beim Landgericht ein und forderte Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 100.000 Euro. Zudem solle das Gericht feststellen, dass ihr sämtliche weiteren Schäden ersetzt werden.

Ein Patient muss nicht die auf der Arzneipackung stehende Chargennummer notieren, so die Zivilrichter.

Zur Begründung verwies sie auf die regelmäßige Einnahme des Blutdruck­senkers im Zeitraum ab 2013 bis Mai 2018. Infolge des durch das Medikament verursachten Krebses sei ihre linke Brust amputiert worden. Sie erhalte deswegen einmal wöchentlich Lymphdrainagen und Physiotherapie. Außerdem seien ihre Finger oft angeschwollen. Sie könne nicht mehr richtig greifen und leide an den Nebenwirkungen der Krebsmedikamen­te. Sie sei ständig müde, habe Krämpfe in den Beinen und Händen und ihr Geschmackssinn sei beeinträchtigt. Auch könne sie nicht mehr ihrem Beruf in vollem Umfang nachgehen. Im Haushalt würde ihre Ausfallzeit 20 Stunden pro Monat betragen. Das Landgericht wies ihre Klage jedoch ab. Es sei nicht mit der notwendigen Sicherheit davon überzeugt, dass eine Verbindung zwischen der unterstellten Arzneianwendung und dem behaupteten Schaden vorliege. Die Klägerin habe nicht darlegen und beweisen können, dass sie eine verunreinigte Charge erhalten und eingenommen habe.
 
Gegen das Urteil des Landgerichts legte die Frau Berufung beim OLG ein und hatte bezüglich ihres Auskunftsbegehrens Erfolg. Das OLG verurteilte die Pharmafirma dazu, der Frau Auskunft zu geben über die bekannten Wirkungen, Nebenwirkungen, Wechselwirkungen und Verdachtsfälle von Nebenwirkungen und Wechselwirkungen. Auch müsse es sämtliche weiteren Erkenntnisse offen­legen, die für die Bewertung der Vertretbarkeit schädlicher Wirkungen des bis zum 31. Juli 2018 vertriebenen Medikaments Valsartan AbZ von Bedeutung sein können, soweit diese Krebserkrankungen Luftnot, Druck beziehungsweise Engegefühl im Brustraum betreffen.

Angaben stimmig.

Die Angaben der Klägerin, zwischen 2013 und Mai 2018 morgens eine Tablette und im Falle eines höheren Blutdrucks abends eine zweite Tablette eingenommen zu haben, seien glaubhaft. Sie wären in sich stimmig und lebensnah.

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Im Übrigen gehe sowohl aus dem Attest ihres Hausarztes als auch aus der vorgelegten Verschreibungsliste hervor, dass ihr ab 4. November 2013 Val­sartan AbZ immer wieder verschrieben worden sei. Dass sie es sich über mehrere Jahre hinweg verschreiben lasse und dann nicht einnehme, sei kaum vorstellbar, zumal es sich um ein wichtiges Medikament zur Einstellung des Blutdrucks handele. Lägen Tatsachen vor, die die Annahme begründen, dass ein Arzneimittel den Schaden verursacht habe, so könne ein Geschädigter von einem Pharmaunternehmen Auskunft verlangen (Paragraf 84a Arzneimittelgesetz). Eine derart „begründete Annahme“ sei jedenfalls dann zu bejahen, „wenn mehr für eine Verursachung der Rechtsgutsverletzung durch das Arzneimittel spricht als dagegen“. Erforderlich sei eine „über­wiegende Wahrscheinlichkeit“.

Vollbeweis nicht erforderlich.

Zwar habe die Klägerin nicht den Vollbeweis geführt, dass die eingenommenen Medikamente aus den verunreinigten Chargen stammten. Dies sei aber auch nicht erforderlich. Denn einen solchen Beweis könne der Durchschnittsverbraucher kaum erbringen. Er müsse nicht bei jedem eingenommenen Medikament die auf der Packung aufgedruckte Charge notieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin zumindest einmal ein Medikament aus einer kontaminierten Charge eingenommen habe, liege bei etwa 97 Prozent.

Prozessuale Chancengleichheit betont.

Ferner wies das OLG darauf hin, dass der Anspruch auf Auskunft zum einen der prozessualen Chancengleichheit diene. Denn Geschädigte könnten in aller Regel nicht den Weg eines Arzneimittels von der Forschung über die Erprobung bis hin zum Herstellungsprozess überblicken. Zum anderen sollten sie in die Lage versetzt werden, alle Fakten zu erlangen, die für die zu beweisenden Anspruchsvoraussetzungen notwendig sind oder die sie benötigen, um zu ihren Gunsten die Kausalitätsvermutung des Paragrafen 84 Absatz 2 AMG in Gang zu setzen.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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