Keine Scheu vorm Digitalen
Beim Aufbau seines Gesundheitssystems hat sich Estland vor 25 Jahren an Deutschland orientiert. Bei der Digitalisierung geht der baltische Staat eigene Wege und hat sein westliches Vorbild abgehängt. Von Julia Richter
Was lässt sich vergleichen, was läuft anders? „Wenn man die Größenunterschiede vergisst, dann gibt es eigentlich nicht allzu viele Unterschiede zwischen dem deutschen und dem estnischen Gesundheitssystem“, sagt Silver Mikk. 15 Jahre lebte der estnische E-Health-Spezialist der Nortal AG in Deutschland. Seit zehn Jahren ist Estland wieder seine Heimat. Mit dem Blick auf beide Welten berät er Regierungsorganisationen, Krankenkassen und private Unternehmen. „Estland hat sich vor 25 Jahren das deutsche Gesundheitssystem als Vorbild genommen und vieles kopiert“, sagt Mikk. Dennoch steht das deutsche Gesundheitssystem im Vergleich zu Estland im Hinblick auf seine digitale Zukunftsfähigkeit heute schlechter da. Silver Mikk hat dafür drei wesentliche Gründe ausgemacht: Service, Vertrauen und Agilität.
Akte steht automatisch zur Verfügung.
Während bei uns die elektronische Patientenakte (ePA) noch in ihren Kinderschuhen steckt, sind in Estland 14 Jahre nach Einführung der Akte inzwischen die Gesundheitsinformationen von 98 Prozent der Bevölkerung in das System eingegeben worden. „Estland hat sich zum Ziel gesetzt, seinen Bürgern konsequent sämtliche Verwaltungshürden aus dem Weg zu räumen – dazu gehört auch ein nahtloses Gesundheitssystem“, erklärt Mikk. So werden den estnischen Bürgerinnen und Bürgern in ihrer Gesundheitsakte automatisch alle medizinischen Daten zur Verfügung gestellt. Sie selbst steuern und können nachvollziehen, wer auf diese Informationen zugreifen darf. Dagegen müssen deutsche Bürgerinnen und Bürger bislang ihre elektronische Patientenakte bei der Krankenkasse beantragen und dann selbst aktiv befüllen.
Digitalisierung in Estland funktioniert etwa so: Man formuliert das Problem, fokussiert sich bei der Lösung auf die Bedarfe eines typischen Nutzers (Patient), entwirft für ihn ein Produkt, das die Minimalanforderungen erfüllt (Minimum Viable Product), testet es an einer kleinen User-Anzahl, verbessert es und wiederholt diesen Prozess so oft wie nötig. Ob solch ein Vorgehen auch für Versorgungsangebote für deutsche Versicherte funktionieren kann? Auf das Experiment ließen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des „e-Health-Innovation Sprint“ der AOK International Consulting ein, der im vergangenen Herbst in Kooperation mit dem estnischen IT-Unternehmen Nortal in Tallinn stattfand. Innerhalb eines engen Zeitplans realisierten sie konkrete Produktideen und Prototypen. Fünf Tage begleiteten die Nortal-Experten die vier interdisziplinären Krankenkassen-Fachteams aus Deutschland. Silver Mikk und das Nortal-UX-Team vermittelten ihnen grundlegendes Know-how von Kreativtechniken. Innerhalb der knappen Woche erarbeiteten die Spezialisten der gesetzlichen Krankenversicherung mit dieser Unterstützung Lösungen für Fragen, wie etwa Gesundheitsinformationen individualisiert an die Versicherten herangetragen oder wie Präventionsangebote personalisiert werden können. Jeder Prototyp musste sich in einem Pitch beweisen, in dem alle wesentlichen Bausteine des Projekts präsentiert wurden: Problem, Lösung, Geschäftsmodell, Glaubwürdigkeit und Handlungsaufforderung. Jeder Pitch mit Erfolg, wie die Jury um Nortal-CEO Priit Alamäe bestätigte.
(Text: Karin Dobberschütz, Leiterin AOK International Consulting by KomPart)
Das finden viele schon so kompliziert, dass sie es offenbar lieber lassen. Laut einer bitkom-Studie haben knapp ein Jahr nach Einführung der ePA erst 0,5 Prozent der Befragten ihre Patientenakte angelegt. Kein Wunder, denn 41 Prozent halten die Beantragung mindestens für umständlich und 31 Prozent sogar für zu aufwendig. 62 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass alle Versicherten automatisch eine elektronische Patientenakte bekommen sollten.
Angebote sollen Bürger entlasten.
Mittlerweile kann die Bevölkerung Estlands die digitalen Angebote des Gesundheitssystems nicht nur nutzen, um Informationen zur Krankengeschichte abzuspeichern, Diagnosen und Befunde auszutauschen, Rezepte zu beantragen, Termine zu buchen oder sich als Organspender auszuweisen. Wenn der Bürger Hilfe benötigt, sorgen alle, die an der Gesundheitsversorgung beteiligt sind, für seine Entlastung: So wird die Krankschreibung vom Arzt automatisch an den Arbeitgeber weitergeleitet. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erfolgt dann von selbst, ebenso die automatische „Entsperrung“ bei Genesung. „In Estland fragen wir uns bei allen digitalen Entwicklungen: Was hat der Bürger davon? Angebote sollen proaktiv zur Genesung beitragen, ihm Zeit ersparen und vorausschauend sein“, sagt Silver Mikk.
Vertrauen in demokratische Instanzen.
Dass das gelingt, liegt zum einen daran, dass 100 Prozent der Ärzte und Fachärztinnen und -ärzte, Krankenhäuser und Apotheken an das Gesundheitsinformationsaustauschnetzwerk ENHIS angeschlossen sind und es aktiv nutzen: Über 95 Prozent von ihnen rufen Daten ab oder tauschen sie untereinander aus und bieten telemedizinische Dienste an. Zum anderen ist vorherrschende Meinung in Estland, dass es keinen Grund gibt, einem Staat mit demokratischen Kontrollinstanzen zu misstrauen, wenn man gleichzeitig bereit ist, Firmen wie Google oder Facebook sein ganzes Leben anzuvertrauen. 20 Prozent der Bevölkerung haben sogar bereits ihr Genom der Genomdatenbank in Tartu gespendet, die damit personalisierte Vorsorge- und Therapiemaßnahmen entwickeln will. Hingegen wäre laut einer Studie der Unternehmensberatung PwC aus dem Jahr 2018 nur die Hälfte der Deutschen bereit, persönliche Informationen über die elektronische Patientenakte mit Ärzten und ihrer Krankenkasse zu teilen.
Schritt für Schritt vorgehen.
„Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Staaten ist die Art und Weise, wie schwierige Aufgaben gelöst werden“, so die Erfahrung von Silver Mikk. „Während die Deutschen eher perfektionistisch sind, geht man hier in Estland sehr pragmatisch voran und versucht, möglichst effektiv zu einer Lösung zu kommen, die den Status Quo verbessert.“
Karin Dobberschütz: Ein kleines Land schreibt E-Health groß. In G+G 6/2019, Seite 36–41
Die Software-Entwicklungsteams in seinem Unternehmen Nortal suchen bei der Bearbeitung einer Aufgabe auch weniger nach einer perfekten Antwort, die bestenfalls schon im Vorfeld alle Eventualitäten berücksichtigt. Es geht ihnen mehr um den Fortschritt, der sämtliche Möglichkeiten nutzt. „Wenn ein Problem zu groß oder komplex ist, dann wird es in mehrere kleinere aufgeteilt und Schritt für Schritt angegangen“, sagt Mikk. Nach jedem Schritt wird ein Feedback eingeholt und validiert, ob man sich noch auf dem richtigen Weg befindet. „Sind wir es nicht, drehen wir um – und lernen aus den Fehlern für das nächste Projekt. Gerade im komplexen Umfeld des Gesundheitswesens ist dieses agile Vorgehen erfolgreicher und schneller.“
Eine Frage der Einstellung.
Das estnische Gesundheitssystem ist keineswegs perfekt. Auch die Rahmenbedingungen in Deutschland und Estland sind unterschiedlich. Somit hinkt manch ein Vergleich zwischen den beiden Ländern. Silver Mikk ist allerdings überzeugt: „Die erfolgreiche Digitalisierung ist eine Frage des Mindsets, nicht eine Frage der Möglichkeiten: Auch wenn es nicht möglich ist, das estnische Modell zu kopieren, so ist es möglich, von unseren Erfahrungen zu lernen und für die Weiterentwicklung des eigenen Gesundheitssystems zu nutzen.“