„Vieles lässt sich nicht mehr aufarbeiten“
Während der Pandemie haben die Gesundheitsämter viele reguläre Aufgaben reduzieren müssen. Beim Aufarbeiten werden jetzt auch viele gesundheitliche Begleiterscheinungen der Pandemie sichtbar. Von Thomas Rottschäfer
Wer vor 25 oder mehr Jahren
in Westdeutschland zur Schule gegangen ist, wird sich noch an den Besuch der Schulzahnärztin oder des Schulzahnarztes vom Gesundheitsamt erinnern. Klassenweise ging es zur Zahnkontrolle. Alle Opfer von „Karius und Baktus“ bekamen einen „Schein“ und mussten damit zum „richtigen“ Zahnarzt gehen. Längst ist der kinder- und jugendzahnärztliche Dienst der Gesundheitsämter anders aufgestellt. Die Zahnmediziner der Ämter arbeiten mit Krankenkassen und niedergelassenen Zahnärztinnen und Zahnärzten in den „Arbeitskreisen für Zahngesundheit“ zusammen. Die Gruppenprophylaxe für Kinder und Jugendliche bis zum 16. Lebensjahr steht im Vordergrund. Die Mundgesundheit der Kinder hat sich durch dieses Vorgehen in den letzten Jahren deutlich verbessert.
Bis Corona kam.
Die Gesundheitsämter mussten sich auf die Pandemie-Aufgaben konzentrieren, Schulen und Kitas waren zeitweise geschlossen, die Prophylaxe fiel aus. Da hat Folgen: „Der Zahnstatus ist bei vielen Kindern deutlich schlechter geworden“, sagt die Leitende Ärztin des Kreisgesundheitsamtes Soest, Dr. Andrea Gernun. „Unser Bestreben ist es jetzt, möglichst bis Sommer in die Kindergärten und Grundschulen zu gehen, um die Prophylaxe-Maßnahmen voranzutreiben und die Kinder zum Zahnarztbesuch zu bekommen, wenn das erforderlich ist.“
Durch den ersten Lockdown 2020 entfielen auch viele Schuleingangsuntersuchungen. Im Landkreis Oldenburg konnten die meisten in den Sommermonaten aufgeholt werden. „Den kinder- und jugendärztliche Dienst haben wir als erstes wieder hochgefahren“, berichtet der Ärztliche Leiter, Dr. Leonhardt Hamschmidt. Doch durch den Stress der Omikron-Welle sind viele Ämter bei den Gesundheitschecks für das Schuljahr 2022/2023 wieder in Verzug geraten.
Andrea Gernun will das jetzt möglichst schnell aufholen. Ihre Beobachtung: „Die Kinder haben sich in der Zeit der Pandemie verändert. Sie sind nicht mehr so fit. Sie sind motorisch und in sprachlichen Teilen eingeschränkt. Und der Anteil der adipösen Kinder nimmt zu. Je nach sozialem Umfeld haben wir es auch mit einer auffälligen Mediennutzung zu tun.“
Trotz Corona haben sich
die Kreisgesundheitsämter Soest und Oldenburg bemüht, die notwendigsten regulären Aufgaben aufrecht zu erhalten. Dazu gehören neben der Hygieneüberwachung auch Schutz- und Hilfsmaßnahmen für psychisch gefährdete Personen, Unterbringungen nach Betreuungsrecht oder amtsärztliche Untersuchungen. „Zumindest anlassbezogen haben wir auch Krankenhaus- und Apothekenbegehungen oder Personalkontrollen durchgeführt“, berichtet Amtsärztin Gernun. Mit der verpflichtenden zweiten amtsärztlichen Leichenschau seien dagegen zweitweise Honorarkräfte beauftragt worden.
Dennoch sei „natürlich vieles liegen geblieben“, stellt Gernun fest. So fielen coronabedingt auch die regelmäßigen Hausbesuche und Sprechstunden im sozialpsychiatrischen Dienst aus. Den bisher vom Gesundheitsamt betreuten Menschen fehlten plötzlich gewohnte Strukturen. Zusätzliche Telefonsprechstunden oder neue Onlineformate in der Arbeit mit Selbsthilfegruppen konnten den direkten Kontakt nicht vollwertig ersetzen. „Das fällt uns jetzt vor die Füße, weil vieles nicht wieder aufzuarbeiten ist“, stellt die Leiterin des Kreisgesundheitsamtes Soest fest. „Es gibt viele Suchterkrankte, die zurückgefallen sind in ihre Sucht, weil die Tagesstrukturen und die Haltepunkte, die wir gegeben haben, weggebrochen sind.“
Aktuell sind die Gesundheitsämter
zusätzlich eingebunden in die gesundheitliche Betreuung von Menschen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind. Viele Kinder haben bereits Schulzuweisungen und brauchen als „Seiteneinsteiger“ ebenfalls Schuleingangsuntersuchungen und notwendige Impfungen für die Betreuung in einer Kita oder den Schulbesuch.
Mit der „Flüchtlingskrise“ von 2015/2016 sei die Situation aber nicht zu vergleichen, sagt Amtsarzt Hamschmidt. So seien die Menschen aus der Ukraine in der Regel nur wenig länger als eine Woche in einer der Unterkünfte des Landkreises Oldenburg untergebracht. „Die meisten finden dann private Unterkünfte, kommen bei Verwandten unter oder gehen in größere Städte.“ Das erschwere allerdings auch die eigentlich notwendigen Erstuntersuchungen, Impfungen oder Röntgenuntersuchungen zur Tuberkulose-Fürsorge.
Zur Betreuung der Geflüchteten hat das Kreisgesundheitsamt Oldenburg eine hausärztliche Sprechstunde eingerichtet. „Im Einsatz sind Kollegen im Ruhestand“, sagt Hamschmidt. Er würde vor allem das Impfen gerne forcieren. Aber dazu bräuchte das Kreisgesundheitsamtes nun mal mehr Personal.
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