Für Sie gelesen 4
Gesellschaft
Plädoyer für die Menschlichkeit
Klimawandel, Digitalisierung, Migrationsdruck – unsere Gesellschaft ist mit existenziell verunsichernden Umständen konfrontiert, die den Boden für Extremismus und Intoleranz bereiten. In seinem Buch stellt Alt-Bundespräsident Joachim Gauck die Frage, ob Toleranz hilft, diese Umbrüche besser zu verarbeiten. Für die Beantwortung geht er zunächst zurück ins 16. Jahrhundert und beschreibt ausgehend vom Ende einer einheitlichen Weltsicht die Entwicklung der Toleranz bis zum heutigen Schutz von Minderheiten. Schon in diesem historischen Abriss zeigt Gauck, dass es ein unterschiedliches Verständnis von Toleranz gibt. Anschaulich führt er in zwölf Aspekten auf, was er selbst darunter versteht: die Duldung und das Aushalten unterschiedlicher physischer, kultureller und sozialer Merkmale. Toleranz zu praktizieren sei schwer, doch sie lasse sich lernen, ist sich Gauck mit Verweis auf seine eigenen Erfahrungen sicher. Es brauche Zeit, Menschen und Dinge auszuhalten, die den eigenen Gewohnheiten und Denkweisen widersprechen. Mit Blick auf rechts- und linksextreme Gruppen, islamische Fundamentalisten und Antisemiten erörtert er abschließend, wo die Grenzen der Toleranz erreicht sind und ein Ja zur Intoleranz notwendig wird. Das Buch ist eine lohnende Lektüre, die die Debatte um Toleranz bereichert.
Joachim Gauck: Toleranz einfach schwer. 2019. 224 Seiten. 22 Euro. Verlag Herder, Freiburg.
Gesundheitsversorgung
Denkansätze für Veränderungen
Wie können die von unterschiedlichen Interessen geleiteten Akteure im Gesundheits- und Sozialwesen eine Versorgung gestalten, in der der Mensch im Fokus steht? Wie gelingt es, Patienten zu befähigen, ihre Wünsche an die Gesundheitsversorgung zu realisieren? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der vorliegende Band. Er stellt aus Sicht unterschiedlicher, an der Gesundheitsversorgung beteiligter Disziplinen dar, wie sich Gesundheit und Pflege zukunftsorientiert und im Sinne des Menschen organisieren und gestalten lassen. In zahlreichen Beiträgen namhafter Fachleute aus den Bereichen Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Ökonomie, Ethik und Pädagogik kommen dabei Aspekte der Ordnungspolitik, der Versorgungs- und Organisationsentwicklung sowie der Bildung zur Sprache. So wird unter ethischen Gesichtspunkten der Leistungswettbewerb genauso thematisiert wie Advanced Care Planning (Vorausplanen einer Behandlung) oder die Einführung technischer Innovationen im Pflegemarkt. In diesem Zusammenhang werden Modelle zur Bewertung vorgestellt, darunter die streitbare Akzeptabilität oder der SIEB-Ansatz (Social Individual Economic Business Developement). Das Buch verdeutlicht, dass eine verantwortliche Gestaltung des Gesundheitswesens nur durch ein Miteinander ökonomischer und ethischer Perspektiven möglich ist.
Jürgen Zerth, Jan Schildmann, Elmar Nass (Hrsg.): Versorgung gestalten. 2019. 253 Seiten. 35 Euro. Kohlhammer, Stuttgart.
Pflege
An der Grenze der Belastbarkeit
Die Gesundheitspolitik diskutiert derzeit kontrovers über Lösungen zur Bewältigung des Pflegenotstands. Dabei müsse der tatsächliche Alltag in der Pflege stärker berücksichtigt werden, meint der Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger Maximilian Wendt. Mit seinem Buch will er nun mehr Einblick in die Praxis bieten. Auf unterhaltsame Art und Weise nimmt der Autor den Leser mit auf seinem beruflichen Lebensweg. Lebendig und detailliert berichtet er über seine Erfahrungen als Auszubildender, seine anschließende Tätigkeit in der ambulanten Pflege, in der Pflegedienstleitung und schließlich im Gesundheitsamt. Anschaulich erfährt der Leser, wie sich Personalmangel, Zeitdruck und Hierarchiedenken nicht nur negativ auf die Versorgung der Pflegebedürftigen auswirken, sondern auch auf die Gesundheit der Pflegekräfte. Besonders die körperliche Belastung durch die Grundpflege und das Wissen, den zu pflegenden Menschen nicht gerecht werden zu können, führten laut Wendt dazu, dass nur die wenigsten Pflegekräfte bis zur Rente durchhalten. Die bisherigen Reformen, wie die generalisierte Ausbildung, würden daran nichts ändern, prophezeit er. Nur eine grundlegende Umstrukturierung des Gesundheitssystems, die die Fürsorge für den Menschen in den Mittelpunkt stelle, könne den Notstand beenden.
Maximilian Wendt: Warum die Pflege in Not ist. 2019. 216 Seiten. 9,99 Euro. Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin.
Kassenleistungen
Im Einklang mit dem Grundgesetz
Nach dem Sozialgesetzbuch werden Leistungen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung nur dann gewährt, wenn sie dem medizinischen Wissensstand entsprechen, notwendig und wirtschaftlich sind. Für Leistungen, die diesen Anforderungen nicht entsprechen, haben Rechtsprechung und Gesetzgeber ein System an Durchbrechungstatbeständen geschaffen, das verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht werden muss. Mit seiner nun als Buch vorliegenden Dissertation unternimmt Jonathan Ströttchen den Versuch, den verfassungsunmittelbaren Anspruch auf bestimmte medizinische Leistungen zu klären und diese verfassungskonform in das System der gesetzlichen Krankenkassen zu integrieren. Dafür stellt er ausführlich einzelne Tatbestände dar, konkretisiert ihre Voraussetzungen und Rechtsfolgen und überprüft sie detailliert auf verfassungsrechtliche Relevanz und Übereinstimmung mit Anforderungen des Grundgesetzes. Abschließend hinterfragt er kritisch die Verfassungsmäßigkeit des derzeitigen dezentralen Verfahrens zur Entscheidung über den Leistungsanspruch.
Jonathan Ströttchen: Verfassungsrechtliche Ansprüche auf konkrete medizinische Leistungen. 2019. 387 Seiten. 99 Euro. Nomos Verlag, Baden-Baden.