„Die Selbstverwaltung ist ein sehr hohes Gut“
Die Kräfte der Ärzteschaft bündeln, zentralistischen Tendenzen der Politik Stand halten, die medizinische Versorgung auf dem Land sichern – der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, zeigt im G+G-Interview Kante.
Herr Dr. Reinhardt, mit Ihnen steht seit vielen Jahren wieder ein Allgemeinmediziner an der Spitze der Bundesärztekammer. Bedeutet dies eine neue Ausrichtung?
Dr. Klaus Reinhardt: Nein, ganz sicher nicht. Natürlich hat die Tatsache, dass ich seit 27 Jahren hausärztlich tätig bin, meine ärztliche Lebenserfahrung geprägt. Aber als Präsident der Bundesärztekammer vertrete ich die Interessen aller Ärztinnen und Ärzte, genauso, wie meine Vorgänger auch.
Zur Person
Dr. Klaus Reinhardt ist seit Mai Präsident der Bundesärztekammer. Der 59-jährige gebürtige Bonner, der aus einer Arztfamilie stammt, ist seit 1993 als niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin in Bielefeld tätig. 1990 legte er sein Staatsexamen ab. Der Mediziner engagierte sich in verschiedenen Ehrenämtern in der Ärztekammer Westfalen-Lippe. Seit 2011 ist er auch Bundesvorsitzender des Hartmannbundes. Dem Vorstand der Bundesärztekammer gehört er seit 2015 an.
Sie haben angekündigt, Sie wollten die Ärzteschaft einen und nicht nur auf Gesetzentwürfe reagieren. Wird es für die Politik durch eine gestärkte Ärzteschaft ungemütlicher?
Reinhardt: Mir geht es nicht um eine harte Auseinandersetzung, nur um des Streits wegen. Gute Politik setzt voraus, dass man sich austauscht und einander zuhört. Wenn wir gehört werden wollen, ist es wichtig, dass wir auch ärztliche Verbände und Organisationen mit in unsere politische Arbeit einbeziehen, die sich jenseits der Kammer befinden. Wir wollen stärker mit einer Stimme sprechen. Dafür setze ich mich ein.
Gesundheitsminister Spahn will Teile des Gesundheitswesens offenbar zentralisieren und mehr Einfluss auf den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) ausüben. Sehen Sie darin eine Gefahr?
Reinhardt: Unsere Kritik an der ursprünglich geplanten Neuregelung der Methodenbewertung im GBA wurde gehört. Die Pläne hätten de facto zu einer Fachaufsicht des Ministeriums bei der Aufnahme von neuen Behandlungsmethoden in den GKV-Leistungskatalog geführt. Das ist vom Tisch. Und dass die Fristen, die beim GBA eingehalten werden müssen, verkürzt werden sollen, finde ich nicht ganz falsch. Ob der Gesundheitsminister aber vorhat, das Gesundheitswesen grundsätzlich zu zentralisieren, kann ich nicht beantworten. Für mich gilt, dass die Selbstverwaltung ein sehr hohes Gut ist. Sie muss aber ihrer Aufgabenstellung auch gerecht werden können. Das heißt, man muss ihr die Zeit geben, Lösungen zu entwickeln, die von allen Seiten getragen werden, die zum sozialen Frieden beitragen und die am Gemeinwohl orientiert sind. Die Selbstverwaltung steht für eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung. Sie ist ein wichtiges Korrektiv gegen ungezügelten Wettbewerb und Profitstreben in der Patientenversorgung. Ich glaube aber, dass sich Herr Spahn über den Nutzen und den Wert der Selbstverwaltung im Klaren ist.
Die Zukunft des ländlichen Raums beschäftigt die Deutschen sehr. 94 Prozent haben in einer Umfrage der AOK gesagt, dass für sie die Erreichbarkeit des Hausarztes besonders wichtig ist. Gleichzeitig sind aber 40 Prozent der Allgemeinmediziner über 60 Jahre alt. Wie bewerten Sie die Situation?
Reinhardt: Der ländliche Raum erlebt einen Umbruch. In den Regionen weitab von Ballungszentren werden wir mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht die prototypische Form von Versorgung haben, die den Menschen wohl vorschwebte, als sie von der AOK befragt wurden. Es wird Regionen geben, in denen die hausärztliche Versorgung anders sichergestellt werden muss, als durch die klassische Landarzt-Praxis. Dass es Landstriche geben wird, in denen die ärztliche Versorgung komplett wegbricht, kann ich mir aber nicht vorstellen.
Wie kann die Versorgung auf dem Land sichergestellt werden?
Reinhardt: Da ist vieles denkbar, zum Beispiel vorübergehende ambulante Einrichtungen, um Engpässe zu überbrücken. Oder ein Angebot, bei dem der Arzt an bestimmten Tagen, zu bestimmten Uhrzeiten aufs Land kommt, etwa in Form einer rollenden Arztpraxis. Ein solches Arztmobil könnte von Kommunen und Kassenärztlichen Vereinigungen gemeinsam betrieben werden. Eine andere Variante wären Bring- und Hol-Dienste, die Patienten in die nächste Praxis fahren.
Junge Mediziner arbeiten offenbar sehr gerne angestellt. Ist das ein Argument für mehr Ärztehäuser oder Medizinische Versorgungszentren (MVZ)?
Reinhardt: In der Tat nimmt die Zahl der angestellten Ärztinnen und Ärzte zu. Kooperationsformen unterschiedlicher Art werden immer beliebter. Unter ökonomischen und organisatorischen Gesichtspunkten ist das durchaus vernünftig – etwa für junge Ärztinnen und Ärzte, die sich in der Familiengründungsphase befinden. Das ist für mich aber kein Indiz dafür, dass der Wunsch nach wirtschaftlicher Selbstständigkeit grundsätzlich massiv zurückgeht. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Ich halte es für viel wichtiger, dass solche Versorgungszentren unter ärztlicher Führung stehen. Wenn dagegen Kapitalgeber die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen anstellen, sehe ich die Gefahr, dass die Investoren versuchen, ärztliche Entscheidungen zu beeinflussen, um höhere Renditen zu erzielen.
Hat diese Gefahr zugenommen?
Reinhardt: Ja, das hat sie. Die Finanzwirtschaft sucht in Zeiten niedriger Zinsen händeringend nach neuen Möglichkeiten, ihr Kapital gewinnbringend anzulegen. Neben Reha-Einrichtungen und Zahnmedizinischen Versorgungszentren rücken dabei Medizinische Versorgungszentren (MVZ) immer mehr in das Blickfeld von Investoren. Diese Entwicklung gefährdet die ärztliche Unabhängigkeit und damit auch die Patientensicherheit. Die Politik hat mittlerweile reagiert und mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz die Übernahmemöglichkeiten punktuell eingeschränkt. Das reicht aber nicht. Wir brauchen dringend weitere gesetzgeberische Maßnahmen.
Was halten Sie von einer Landarztquote, wie es sie in einigen Bundesländern gibt – also wo ein Teil der Studienplätze für angehende Mediziner freigehalten wird, wenn sie später auf dem Land tätig sind?
Reinhardt: Die Landarztquote ist sicher als Anreizmodell gut, um mehr Ärztinnen und Ärzte für die Arbeit auf dem Land zu gewinnen. Ich meine, dass man jungen Menschen diese Entscheidung durchaus abverlangen kann. Ob die Landarztquote tatsächlich das Problem des Mangels an Arztstunden mildern kann, bleibt abzuwarten. In jedem Falle wird es sehr lange dauern, bis sie wirkt. Denn die Mediziner müssen ja erst mal sechs Jahre Studium und dann fünf Jahre Fachausbildung absolviert haben.
Können Praxis-Assistentinnen zur Entlastung von Hausärzten eine Lösung sein? Es gibt da ja diverse Konzepte wie AGNES, EVA oder VERAH.
Reinhardt: Ja, auf jeden Fall können sie den Arzt entlasten. Das ist eine sehr vernünftige Entwicklung – solange der Arzt die therapeutische Gesamtverantwortung behält. Aktuell besteht aber nur im hausärztlichen Sektor die Möglichkeit, den Einsatz dieser besonders qualifizierten Medizinischen Fachangestellten zu honorieren. Dies sollte auch im fachärztlichen Sektor möglich sein.
Bei den Bürgern gibt es Umfragen zufolge eine große Offenheit für Videosprechstunden. Wann sind die Ärzte hier so weit?
Reinhardt: Wir haben im letzten Jahr mit einer Änderung der (Muster-)Berufsordnung die rechtlichen Voraussetzungen für die ausschließliche Fernbehandlung geschaffen. Mittlerweile haben fast alle Ärztekammern diese Regelungen in ihre rechtsverbindlichen Berufsordnungen übernommen. Die Bundesärztekammer hat Informationsmaterialien erarbeitet und veröffentlicht, die Ärztinnen und Ärzten den Einstieg erleichtern sollen. Insofern kann man sagen, dass wir soweit sind. Aktuell hat auch der Bewertungsausschuss eine Anpassung der pauschalen EBM-Vergütungssystematik auf Arzt-Patienten-Kontakte vorgenommen, die ausschließlich per Videosprechstunde stattfinden. Nun werden wir sehen, wie sich diese Angebote entwickeln.
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