Porträt
Vorstand gefragt!

„Versorgung funktioniert nur regional“

Er gilt als „Mr. Rabattvertrag“. Auch mit der Entwicklung einer „Alternativen Regelversorgung“ hat er Maßstäbe gesetzt. Ende des Jahres gibt Dr. Christopher Hermann den Vorstandsvorsitz der AOK Baden-Württemberg ab. In G+G-Digital bezieht der engagierte Versorgungsgestalter klare Positionen zur aktuellen Gesundheitspolitik.

G+G: Sie begleiten die deutsche Gesundheitspolitik seit mehr als drei Jahrzehnten. Wie bewerten Sie die aktuelle Gesetzgebung, durch die sich das Streben nach Zentralisierung wie ein roter Faden zieht?

Dr. Christopher Hermann: Schon in den 90er Jahren und in den Nuller-Jahren haben wir Versuche erlebt, die Gestaltungsspielräume der Kassen einzuschränken. Gerade erleben wir ein Comeback dieser Politik. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat den Turbo eingelegt, weil er ein anderes Bild von Versorgungsgestaltung hat – von oben nach unten mit Durchgriffkompetenzen für sein Ministerium. Aber die passgenaue regionale Gestaltung von Versorgung ist ja letztlich die Begründung dafür, dass wir in Deutschland viele Kassen haben und keine Einheitskrankenversicherung.

G+G: Mit dem Versuch, alle Krankenkassen bundesweit zu öffnen, ist der Gesundheitsminister allerdings gerade gescheitert.

Hermann: Das war abzusehen, nachdem sich die Länder unisono dagegen ausgesprochen haben. Und es ist folgerichtig. Denn was hätte die AOK Baden-Württemberg für Versicherte in Schleswig-Holstein tun können? Wir haben im Norden keine Vertragspartner und können dort die Versorgung nicht mitgestalten. Die Anstrengungen, die mit einer bundesweiten Versichertenbetreuung verbunden gewesen wären, hätten in keiner Relation zu irgendeinem Nutzen gestanden.

G+G: Spahn hat davon gesprochen, er wolle „Lahnstein“ vollenden. Sie waren 1992 als Fachbeamter für das NRW-Sozialministerium bei den Verhandlungen um die große Gesundheitsreform dabei. Was halten Sie von Spahns Anspruch?

Hermann: „Lahnstein“ war ein Emanzipationsprojekt. Es ging um die Gleichstellung aller Versicherten und um die freie Kassenwahl. Aber was viele vergessen haben: Es war auch ein Regionalisierungsprojekt. Damals wurden die bundesweit organisierten Krankenkassen auf die regionale Ebene gezwungen. Die Länder wollten damals schon mehr: alle Krankenkassen mit regionalen Beitragssätzen. Der politische Kompromiss hat das leider verhindert. Wenn Spahn wirklich „Lahnstein“ vollenden wollte, müsste er da ansetzen, aber bei ihm sind das nur Worthülsen.

G+G: Sechs der zehn beliebtesten gesetzlichen Krankenkassen sind Regionalkassen, darunter die AOK Baden-Württemberg als zweitgrößte. Was macht den Erfolg des regionalen Geschäftsmodells aus?

Hermann: Die Gesundheitsversorgung von 83 Millionen Menschen in Deutschland können sie nicht sinnhaft zentral steuern. Versorgung ist geprägt von regionalen Besonderheiten: was die Morbidität angeht, was die Angebote angeht, was Demografie angeht und was die Finanzierung angeht. Wirklich gestalten können das nur regional starke Partner.

G+G: Ihre Person ist mit den erfolgreichen Arzneimittelrabattverträgen verbunden. Aber auch mit der von Ihnen entwickelten „Alternativen Regelversorgung“ mit einer hausarztzentrierten Versorgung und angeschlossenen Facharztverträgen. Dazu haben Sie als recht streitbar bekannte Player ins Boot geholt. Wie ist Ihnen das gelungen – ganz banal mit mehr Geld?

Hermann: Dann könnten es ja andere auch. Wir geben in Deutschland sehr viel Geld für Gesundheit aus, aber nicht effizient genug. In der „Alternativen Regelversorgung“ läuft es anders: der Hausarzt ist der Lotse, Versicherte und Patient stehen im Mittelpunkt. Wir haben Partner, die durch die Einheitsvorgaben aus Berlin genauso frustriert waren wie wir. Niemand hatte Lust, vor Ort den Frühstücksdirektor zu geben. Es geht um regionale Verantwortung für die bessere Versorgung, die wir gemeinsam entwickeln und nach vorne bringen.

G+G: Stichwort Digitalisierung. Die technische Entwicklung hat die zu Anfang des Jahrtausends geplante Plastikkarte längst überholt. Milliarden Euro wurden versenkt. Frustriert Sie das?

Hermann: Es war falsch, mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens eine gematik GmbH zu beauftragen, bei der Blockade vorherrschen dürfte. Die Angst, durch technisch bedingte Transparenz tatsächlich oder vermeintlich Pfründe zu verlieren, hat zum Stillstand geführt. Für immer neue Testprojekte wurde viel Geld durch den Schornstein gejagt. Inzwischen haben wir alle ein Smartphone in der Tasche und nutzen Apps. Die aktuelle Gesetzgebung beendet jetzt diese Asynchronität – wobei es ja immer noch nicht um eine fundamentale Weiterentwicklung geht.

G+G: Entwickeln Sie gerade Sympathie für den Zentralisierer Spahn, der in der gematik-Gesellschafterversammlung die Mehrheit des Bundes durchgesetzt hat?

Hermann: Im Kern ist so eine Organisation wie die gematik nicht für die Selbstverwaltung geschaffen. Da hätte die Politik von Anfang an Leitplanken setzen müssen. Zentralisierer braucht keiner.

G+G: Blicken wir in die Zukunft: Wie sieht das Gesundheitswesen 2030 aus?

Hermann: Digitalisierung ist dann hoffentlich überall Standard. Wir sind ja selbst Vorreiter: mit eAU, eArztbrief und mit HAUSKOMET, dem elektronischen Austausch patientenbezogener Medikationsinformationen zwischen den Ärzten in Echtzeit. Durch die Zusammenarbeit mit allen wesentlichen Praxissoftwareanbietern setzen wir unsere Digitalprojekte jetzt in der Fläche um. Die Dynamik nimmt zu. Aber ich bin sicher, dass die menschliche Komponente entscheidend bleibt, die Dienstleistung im Gesundheitswesen und in der Pflege. Deshalb nimmt auch die Verantwortung der AOK und ihrer Partner nicht ab, die Versorgung sicherzustellen.

G+G: Ende des Jahres beenden Sie nach fast 20 Jahren Ihre Arbeit für die AOK Baden-Württemberg. Im Jahr 2000 sind Sie Mitglied des Vorstands geworden, 2003 Vorstandsvize und 2011 Vorstandschef. Was ist im Rückblick Ihr größter Erfolg?

Hermann: Es ist uns gelungen, aus der AOK Baden-Württemberg ein Unternehmen zu machen, das unseren Grundsatz „gesundnah“ tatsächlich mit Herzblut lebt. Wir sehen Versicherte heute empathisch als Partner, für die wir aus innerer Überzeugung heraus Versorgung gestalten. Wir haben großen Anteil daran, dass ein ganz wichtiger Lebensbereich in Baden-Württemberg hervorragend funktioniert. So einen Prozess gestaltet nicht ein einzelner Supermann an der Spitze. Das geht nur im Team. Und dieses Team von fast 11.000 Kolleginnen und Kollegen ist unschlagbar. Das meinen ja auch mittlerweile 4,5 Millionen Menschen im Südwesten. So groß war die AOK Baden-Württemberg noch nie.

Thomas Rottschäfer führte das Interview. Er ist ist freier Journalist mit Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
Bildnachweis: AOK Baden-Württemberg