Masern-Impfpflicht vorerst bestätigt
Das Bundesverfassungsgericht hat Eilanträge von Eltern abgelehnt, die Masern-Impfpflicht für Kinder in Kitas und Kindergärten vorläufig außer Kraft zu setzen. Die Karlsruher Richter entschieden, dass der Elternwille hinter das Interesse an der Abwehr infektionsbedingter Risiken für Leib oder Leben vieler Menschen zurücktreten muss. Von Anja Mertens
– 1 BvR 469/20 und 1 BvR 470/20 –
Bundesverfassungsgericht
Masern sind hochansteckend.
Nahezu jeder Kontakt zwischen einer ungeschützten Person und einem Erkrankten führt zu einer Ansteckung – selbst aus einigen Metern Entfernung. Beim Husten, Niesen oder Sprechen können sich die Viren in kleinen Speicheltröpfchen über die Luft verbreiten und eingeatmet werden. Die Virusinfektion ist keine harmlose Krankheit. Denn es können schwerwiegende Komplikationen wie Mittelohr-, Lungen- oder Gehirnentzündung auftreten. Nicht nur Kinder können Masern bekommen, sondern auch Jugendliche und Erwachsene. Masern gehören zu den meldepflichtigen Infektionen. Im vergangenen Jahr registrierte das Robert Koch-Institut über 500 Erkrankungen.
Impfung vorgeschrieben.
Um die Impfquote zu erhöhen und die hochansteckende Viruserkrankung mittelfristig zu eliminieren, verabschiedete der Bundestag im November vergangenen Jahres das Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz). Das am 1. März 2020 in Kraft getretene Gesetz sieht vor, dass Eltern vor Aufnahme ihres Kindes in eine Kita oder Schule nachweisen müssen, dass es gegen Masern geimpft ist. Auch Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen wie Arztpraxen, ambulanten Pflegediensten oder Krankenhäusern, die nach 1970 geboren sind, müssen geimpft sein oder ihre Immunität nachweisen.
Der Staat muss das Leben schützen und die körperliche Unversehrtheit vieler Menschen sichern, so die Verfassungsrichter.
Gegen das Masernschutzgesetz reichten mehrere Eltern beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde ein, über die noch nicht entschieden ist. In zwei der anhängigen Verfahren hatten die Beschwerdeführer zusätzlich Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, um die vorläufige Aussetzung des Gesetzes zu erreichen. Sie wollten ihre nicht gegen Masern geimpften Kinder in einer kommunalen Kita oder von einer Tagesmutter betreuen lassen. Ohne Impfnachweis sei ihnen dies aber verwehrt. Damit werde ihr Recht auf Ausübung der Gesundheitssorge für ihre Kinder verletzt. Das Gesetz verstoße gegen das Grundrecht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 des Grundgesetzes) und gegen Artikel 6 des Grundgesetzes. Danach ist die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht und die Pflicht der Eltern. Auch sahen die Beschwerdeführer den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichbehandlung (Artikel 3 des Grundgesetzes) verletzt. Die Impfpflicht gelte nur für neue Kita-Kinder. Kinder, die schon länger betreut würden, sogenannte Bestandskinder, hätten dagegen noch eine Frist bis Juli 2021. Dies stelle eine Ungleichbehandlung dar, die nicht gerechtfertigt werden könne.
Eilanträge abgelehnt.
Die Eltern scheiterten jedoch vor dem Bundesverfassungsgericht mit ihren Eilanträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Masern-Impfpflicht. Eine solche Anordnung wäre nur dann möglich, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund für das Allgemeinwohl dringend geboten sei, so die Verfassungsrichter. Werde – wie hier – die Aussetzung eines Gesetzes begehrt, sei zudem ein besonders strenger Maßstab bei der Folgenabwägung anzulegen. Denn eine solche Aussetzung stelle einen erheblichen Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers dar.
Rechtsansprüche wegen der Covid-19-Gesetze, Budgetverhandlungen, Qualitätssicherungsrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses – diese und weitere Themen behandelt das Seminar „Update Krankenhausvergütung 2020/2021 – mit COVID-19-Entlastungsgesetz und MDK-Reformgesetz“. Es findet am 12. Oktober in Berlin statt. Veranstalter ist das Deutsche Anwaltsinstitut.
Weitere Informationen über das Seminar
Die Folgenabwägung gehe hier aus folgenden Gründen zum Nachteil der Beschwerdeführer aus: Erginge die einstweilige Anordnung nicht und hätten die noch nicht entschiedenen Verfassungsbeschwerden Erfolg, wäre das gesetzliche Betreuungsverbot zu Unrecht erfolgt. Dies würde dazu führen, dass zwischenzeitlich die Kinder mangels Impfung nicht betreut werden könnten und sich deren Eltern um eine anderweitige Betreuung kümmern müssten. Dies könnte mitunter nachteilige wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen. Erginge dagegen die beantragte einstweilige Anordnung gegen den Gesetzesvollzug und hätten die noch nicht entschiedenen Verfassungsbeschwerden keinen Erfolg, wären grundrechtlich geschützte Interessen einer großen Anzahl Dritter von hohem Gewicht betroffen.
Schutz der Allgemeinheit im Blick.
Die Pflicht, einen ausreichenden Impfschutz gegen Masern vor der Betreuung in einer Gemeinschaftseinrichtung auf- und nachzuweisen, diene dem besseren Gesundheitsschutz insbesondere von Menschen, die regelmäßig in Gemeinschaftseinrichtungen mit anderen in Kontakt kommen. Impfungen gegen Masern dienten nicht nur dazu, das Individuum vor der Erkrankung zu schützen, sondern gleichzeitig die Weiterverbreitung der Masern in der Bevölkerung zu verhindern. Damit ließen sich auch Menschen schützen, die aus medizinischen Gründen selbst nicht geimpft werden können, bei denen aber schwere klinische Verläufe bei einer Infektion drohen. Ziel des Masernschutzgesetzes sei namentlich der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit. Dazu sei der Staat aufgrund der ihm verfassungsrechtlich obliegender Schutzpflichten angehalten (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes).
Bei der Gegenüberstellung der jeweils zu erwartenden Folgen müsse das Interesse der Antragsteller, ihre Kinder ohne Impfung in einer Gemeinschaftseinrichtung betreuen zu lassen, gegenüber dem Interesse an der Abwehr infektionsbedingter Risiken für Leib und Leben vieler Menschen zurücktreten. Die Nachteile, die mit Inkrafttreten des Masernschutzgesetzes nach späterer Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit verbunden wären, würden nicht die Nachteile überwiegen, die im Falle der vorläufigen Verhinderung eines sich als verfassungsgemäß erweisenden Gesetzes einträten.
Kommentar: Nach diesem Beschluss bleibt abzuwarten, wie das Bundesverfassungsgericht in den anhängigen Verfahren entscheidet. Die eingelegten Verfassungsbeschwerden sind nach seiner Sicht zumindest nicht von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet.