Thema des Monats

Mehr Schutz in stürmischen Zeiten

Mit dem Konjunkturpaket zur Corona-Krise will die Große Koalition die Wirtschaft aus der Talfahrt führen. Teil des Programms ist das Versprechen, die Sozialversicherungsbeiträge zu stabilisieren. Was die „Sozialgarantie 2021“ für das Gesundheitswesen wert ist, analysiert Kai Senf. Er fordert nachhaltige Reformen – auch im Hinblick auf die Pandemiefolgen.

Anfang Juni 2020 beschloss die Große Koalition ein umfangreiches, insgesamt 130 Milliarden Euro schweres Förderpaket. Damit will sie Deutschland in der Corona-Krise auf einen „nachhaltigen Wachstumspfad“ zurückbringen. Das Gesundheitswesen soll dabei für „die Zukunft gestärkt und der Schutz vor Pandemien verbessert werden“. Im Gesamtpaket sind die gängigen konjunkturpolitischen Maßnahmenbündel enthalten: finanzielle Anreize zur Krisenbewältigung, beispielsweise durch Steuererleichterungen und direkte staatliche Investitionen. Letztere sollen auch im Gesundheitswesen erfolgen. Analog zum bestehenden Strukturfonds für Krankenhäuser hat die Koalition einen Zukunftsfonds angekündigt. Er soll mit drei Milliarden Euro Bundesmitteln moderne Notfallkapazitäten, die digitale Infrastruktur und die IT- und Cybersicherheit in Krankenhäusern fördern.

Ein gravierendes Problem aus den Anfangszeiten der Corona-Pandemie – der Mangel an medizinischen Schutzausrüstungen im Gesundheitswesen und die unzureichende Versorgung der Bevölkerung mit Schutzmasken – wird ebenfalls im Förderpaket aufgegriffen. Geplant ist, die „flexible und im Falle einer Epidemie skalierbare inländische Produktion wichtiger Arzneimittel und Medizinprodukte“ mit einer Milliarde Euro zu fördern. Eine wahrhafte Renaissance, vor allem in der politischen Wahrnehmung, erlebt der Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD). Zumindest der Bund scheint ernsthaft gewillt zu sein, die jahrzehntelange stiefmütterliche Behandlung des ÖGD zu beenden und ihn als wichtige Säule im Gesundheitswesen personell und strukturell angemessen auszustatten. Hierfür sollen vier Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden.

Die Gesetze der vergangenen zwei Jahre führen zu einem Ausgabenschub.

Aus Sicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sind diese Beschlüsse ausdrücklich zu begrüßen. Ihre Umsetzung muss genau beobachtet werden. Sie sind ein erster wichtiger Schritt, Lehren aus der Corona-Krise zu ziehen und offenkundige Schwachstellen im Gesundheitswesen zu beseitigen. Die öffentliche Hand setzt, und das ist ebenfalls zu befürworten, ein klares Signal, dass der Staat in seinem Aufgabenbereich Finanzierungsverantwortung übernimmt: kein Geschäft zulasten Dritter, sondern klare Benennung der zur Verfügung gestellten Bundesmittel.

Selbstvermarktung oder Problemlösung?

Die Regierung erneuert im Förderpaket zudem ihre Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag, „die Sozialversicherungsbeiträge bei maximal 40 Prozent zu stabilisieren“. Sie wertet das Koalitionsziel zu einer Garantie für die Beitragszahler der Sozialversicherungen auf und kündigt an, alle darüber hinaus gehenden Finanzbedarfe durch Bundesmittel ausgleichen zu wollen. Doch ist die „Sozialgarantie 2021“ ein seriöser Problemlösungsansatz oder mehr ein Akt politischer Selbstvermarktung für das Wahljahr 2021? Das Vorhaben ist angesichts der Belastungen, die aus der Corona-Krise entstehen, in der Sache richtig: Dahinter könnte die ordnungspolitische Erkenntnis stehen, nicht die Beitragszahler für Mehrkosten aufkommen zu lassen, weil diese aus Aufgaben herrühren, die dem staatlichen Infektionsschutz und der Seuchenbekämpfung zuzuordnen sind. Folgt man dieser Prämisse, dann ist es auch nicht nachvollziehbar, weshalb in der Krise ausschließlich die Solidargemeinschaft der GKV und sozialen Pflegeversicherung (SPV) Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen durch „Rettungsschirme“ aufrechterhalten und zusätzlich notwendige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten in den Krankenhäusern bereitstellen musste, die allen Patienten zugute kommen.

Unter Ökonomen gibt es unterschiedliche Auffassungen zur Obergrenze von Sozialversicherungsbeiträgen und deren Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Dennoch ist es verständlich, dass jede weitere finanzielle Belastung der Beitragszahler in konjunkturellen Schwächephasen vermieden werden sollte. Die mit der Sozialgarantie verbundene politische Botschaft könnte also lauten – und das wäre gut so: Wir lassen GKV und SPV nicht im Regen stehen; wir garantieren mit Bundesmitteln für stabile Beiträge. Aber gleich mehrere Aspekte machen misstrauisch, ob die Garantie ein nachhaltiges Versprechen ist.

Deckmantel für expansive Ausgabenpolitik.

Die in den vergangenen zwei Jahren verabschiedeten Gesetze führen zu einem massiven Ausgabenschub in der GKV. Bislang ist bis zum Jahr 2022 mit Mehrausgaben von rund 39 Milliarden Euro zu rechnen. Deutlich wurde dies bereits in den Finanzergebnissen der GKV im Jahr 2019 sowie im 1. Quartal 2020: Die Leistungsausgaben der GKV sind, nachdem sie in den Jahren zuvor nur moderat gewachsen sind, in 2019 erheblich gestiegen, zuletzt im 1. Quartal 2020 um 5,6 Prozent GKV-weit. Insgesamt drehte damit das GKV-Ergebnis im Vorjahr ins Minus und hat bereits ein Defizit von 1,6 Milliarden Euro in das Jahr 2020 verschoben. In den ersten drei Monaten des Jahres 2020 verschärfte sich die Situation weiter. Die GKV musste in diesem Zeitraum erneut einen Ausgabenüberschuss von nunmehr bereits 1,3 Milliarden Euro verbuchen. Die Ausgabendynamik hätte ohne die Corona-Krise und die dadurch bedingten Fallzahlenrückgänge spätestens in den Jahren 2021 und 2022 zu deutlichen Beitragssatzsteigerungen führen müssen. Die Große Koalition hat vor Corona aus dem Vollem geschöpft und war weit entfernt von einer ernsthaften Ambition, die Beitragssätze stabil zu halten. Erst jetzt in der Krise, mit völlig offenem Finanzhorizont, wird die Sozialgarantie ausgesprochen und ein Deckmantel über die expansive Ausgabenpolitik geworfen.

Zusagen nur bis zur Bundestagswahl.

Ein weiterer Punkt, der an der Nachhaltigkeit der Sozialgarantie zweifeln lässt, ist ihre Begrenzung auf die Jahre 2020 und 2021. Die zeitliche Limitierung verstärkt den Eindruck, dass es nur darum geht, sich über die Bundestagswahl zu retten. Um diesen Verdacht zu entkräften, müsste die Koalition längerfristige Zusagen geben und verbindliche Maßnahmen ergreifen, damit stabile Beiträge über die laufende Legislaturperiode hinaus Bestand haben.
 
Argwöhnisch macht des Weiteren, dass die Regierung bereits im Juni – ohne Kenntnis der tatsächlichen Ausgaben- und Einnahmenentwicklung in diesem Jahr – einen zusätzlichen Bundeszuschuss von 3,5 Milliarden Euro für die GKV festgelegt hat. Damit scheint die Diskussion über den Refinanzierungsbedarf für 2020 abgeschlossen zu sein. Der Blick richtet sich nun nur noch auf den Finanzbedarf im Jahr 2021. Ob die Einmalzahlung für 2020 ausreicht, ist unklar. Für die Einhaltung der Sozialgarantie vielleicht. Sicher ist aber, dass dazu im großen Umfang auf die Finanzreserven der GKV zurückgegriffen werden muss.
 
Die Finanzergebnisse der GKV im 1. Halbjahr 2020 scheinen erst einmal Luft zu verschaffen. Allerdings stellt das Corona-Quartal von April bis Juni 2020 einen Sonderfall dar. Die Inanspruchnahme von Regelleistungen in Krankenhäusern, Zahnarztpraxen, Reha-Einrichtungen, Physiotherapie-Praxen und anderen Gesundheitseinrichtungen ist regional in unterschiedlichem Ausmaß eingebrochen. Das ist zum Teil auf das vorsorgliche Freihalten von Krankenhaus-Intensivbetten und zum Teil auf das Verschieben nicht dringlicher Behandlungen zurückzuführen. Auch die Angst der Patienten vor einer Infektion trug zum Rückgang der Behandlungszahlen bei. Entsprechend stiegen die Leistungsausgaben der GKV in diesem Zeitraum lediglich um 2,3 Prozent. Unterm Strich verzeichnet die GKV durch diesen Sondereffekt ein positives Halbjahresergebnis von 1,3 Milliarden Euro. Die Kassen werden dennoch weiter auf Sicht fahren müssen, denn das Finanzergebnis des 2. Quartals ist nur eine Momentaufnahme.

Zukunftsszenario signalisiert steigenden Finanzbedarf.

Es wird sich also noch herausstellen müssen, ob die Sozialgarantie eine verlässliche Zusage oder ein ungedeckter Scheck ist. Ein Blick in die Zukunft verrät warum.

Grafik: Übersicht über die aktuellen Sozialversicherungsbeiträge im Jahr 2020

Mit der „Sozialgarantie 2021“ verspricht die Große Koalition, dass die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt nicht über 40 Prozent steigen. Bei Mehrbedarf ist ein Ausgleich mit Bundesmitteln vorgesehen. Schon heute zeichnet sich dieser Bedarf ab: So reicht bereits jetzt der durchschnittliche Zusatzbeitragsatz in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht aus. Die Arbeitslosenversicherung muss die Zusagen beim Kurzarbeitergeld schultern und in der Rentenversicherung führt ab 2021 die Grundrente gegebenenfalls zu einem höheren Finanzbedarf.

Quelle: AOK-Bundesverband

Wenn im Herbst 2021 die Bundestagswahl vorüber ist, wird mindestens ein Partner der schwarz-roten Vorgängerregierung in der neuen Bundesregierung vertreten sein und damit wieder die Verantwortung für die Gesundheitspolitik tragen. Vielleicht stellen CDU oder SPD den neuen Bundesgesundheitsminister. Zum wahrscheinlichen Szenario gehört außerdem: Nach dem dramatischen Einbruch der Konjunktur im Jahr 2020 wächst die Wirtschaft, hat aber den Rückgang des Vorjahres noch nicht vollständig kompensiert. Auch die Erwerbstätigenzahl wird voraussichtlich nach dem Rückgang um 634.000 im ersten Halbjahr 2020 im Folgejahr noch nicht wieder auf dem Vorkrisenniveau angekommen sein. Die Lohn- und Gehaltszuwächse werden 2021 ebenfalls konjunkturbedingt moderat ausfallen.

Für die Einnahmenentwicklung der GKV würde das einen nur geringen Anstieg bedeuten, bestenfalls. Gleichzeitig werden die Mehrausgaben der Vor-Corona-Gesetzgebung voll durchschlagen. Die strukturelle Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben in der GKV dürfte sich mithin weiter vergrößern. Und diese Entwicklung würde sich vermutlich auch 2022 fortsetzen.

In diesem Szenario würde das Bundesgesundheitsministerium im Herbst 2020, wie schon 2019, aus politischen Erwägungen den notwendigen Refinanzierungsbedarf der GKV im Jahr 2021 durch zu optimistische Einnahmeerwartungen und zu geringe Ausgabenprognosen zu niedrig festlegen, um den GKV-weiten Zusatzbeitrag im Sinne der Sozialgarantie stabil und den dafür aufzubringenden Bundeszuschuss „klein“ zu halten. Die in 2020 geschrumpfte Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds stünde als Puffer nicht mehr zur Verfügung. Der Gesundheitsfonds müsste deshalb im Verlaufe des Jahres 2021 ein Darlehen aufnehmen, um die Zuweisungen an die Krankenkassen leisten zu können. Das Darlehen wäre am Ende des Jahres zurückzuzahlen. Auf der Ausgabenseite würden deutlich höhere Kosten aus den Gesetzen der Großen Koalition entstehen als vorausgesehen. Die versicherungsfremden Leistungen der GKV könnten weiter steigen, weil beispielsweise im Winter 2020/2021 die Zahl der Corona-Tests massiv hochgefahren würde, um die Pandemie einzudämmen. Wenn dann im Laufe des neuen Jahres auch noch ein Impfstoff gegen SARS-CoV-2 zur Verfügung stünde und unerwartet teuer würde, gerieten die Haushalte der Krankenkassen noch stärker unter Druck.

Jetzt ist konsequentes Handeln gefragt.

In diesem Szenario erbt die neue Bundesregierung einen großen Schuldenberg der GKV und steht vor einer noch größeren Herausforderung als ihre Vorgängerregierung. Will sie zu Beginn ihrer Amtszeit nicht mit massiv steigenden GKV-Beitragssätzen starten und damit die Sozialgarantie brechen, müsste sie in viel größerem Umfang als heute Steuergelder zur Verfügung stellen. Diese Option wäre allerdings nur schwer realisierbar. Die GKV konkurriert zum einem mit anderen gesellschaftlichen Bereichen, in die der Staat unter den noch schwierigen gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen investieren müsste. Zum anderen stünde sie mit der Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung im Verteilungskampf um die raren Bundesmittel. Diese anderen Sozialversicherungszweige sind in dem Szenario ihrerseits aufgrund schwächelnder Einnahmen unter Druck geraten. Wenn steigende Versicherungsbeiträge ausgeschlossen sind, bleiben nur Leistungskürzungen, um die Kosten zu senken. Schwer vorstellbar ist jedoch, dass die neue Bundesregierung Rentnern, Arbeitslosen oder Pflegebedürftigen in die Tasche greift. Die Streichung von Leistungen für Versicherte und Patienten, ob direkte Kürzung oder mittels höherer Zuzahlungen, dürfte – hoffentlich – auch in der GKV keine Handlungsalternative sein.

Dieser Blick nach vorn ist ziemlich pessimistisch. Es kann besser kommen, aber auch noch dramatischer werden. Die politisch Verantwortlichen sollten sich bereits heute mit den möglichen Szenarien auseinandersetzen, auch weil sie im Herbst 2021 weiter in der Regierungsverantwortung stehen könnten. Das Zeitfenster zum Gegensteuern ist sehr klein. Bereits im kommenden Frühjahr finden die ersten Landtagswahlen statt und spätestens ab dem Frühsommer 2021 liegt der Fokus nur noch auf der Bundestagswahl. Die Große Koalition kann aber, wenn sie schnell und konsequent handelt, zumindest den richtigen Pfad einschlagen. Ihr Tun oder Nicht-Tun hat Auswirkungen bis weit in die nächste Legislaturperiode hinein.

Aufgaben klar zuordnen.

Zunächst einmal muss die Große Koalition in der verbleibenden Zeit eine klare ordnungspolitische Zuweisung von Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung vornehmen. Die GKV ist für die Bereitstellung der medizinischen und pflegerischen Leistungen für ihre Versicherten im Krankheitsfall zuständig. Die öffentliche Hand trägt die Aufgaben- und Ausgabenverantwortung in der Gefahrenabwehr für die gesamte Bevölkerung. Deshalb sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben, wie Corona-Tests für Menschen ohne Symptome, Boni für Pflegekräfte, Mindererlösausgleiche für Krankenhäuser oder andere Leistungsanbieter und vieles mehr direkt durch den Bund zu finanzieren. Die Aufgaben, die die GKV 2021 vorfinanziert, müssen durch Bundesmittel kompensiert werden. Die private Krankenversicherung muss sich an Kosten, die ihren Versicherten zuzuordnen sind, beteiligen.

Die Koalitionäre müssen zudem eine verlässliche Refinanzierung der GKV sicherstellen. Dazu ist im kommenden Jahr der Bundeszuschuss kurzfristig mindestens zu verdoppeln, um Corona-bedingte Lasten und die Mehrkosten der GroKo-Gesetze zu kompensieren und die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds aufzufüllen. Mittelfristig muss der Bundeszuschuss dynamisiert und jährlich angepasst werden. Dies muss zielgenau und verlässlich für die Aufgaben erfolgen, die die GKV nach dem Willen des Gesetzgebers für die gesamte Gesellschaft übernimmt. Zusätzlich ist der willkürlich festgelegte Erstattungsbetrag des Bundes für Arbeitslosengeld II-Berechtigte, der im Milliardenumfang zulasten der GKV und zugunsten des Bundeshaushaltes geht, in einen echten und sachgerechten Krankenversicherungsbeitrag für ALG II-Empfänger auf dem Niveau der durchschnittlichen Beitragshöhe der GKV-Versicherten umzustellen.

Beitragsfinanziertes System stärken.

Jenseits der gesamtgesellschaftlichen Aufgaben sollte die GKV jedoch davor bewahrt werden, in ein steuerfinanziertes System abzudriften. Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat in ihrem Abschlussbericht zur Zukunft der Sozialversicherungen unlängst festgestellt: „Beitragsfinanzierte Sozialversicherungen sind bei der politischen Steuerung und demokratischen Legitimation des Prozesses, mit dem die Herausforderungen für die Finanzierung des sozialen Sicherungssystems in den nächsten zwei Jahrzehnten und darüber hinaus bewältigt werden müssen, überlegen.“

Die Krankenkassen haben in der Pandemie gesamtgesellschaftliche Aufgaben vorfinanziert. Das ist mit Bundesmitteln auszugleichen.

Auf der Einnahmenseite ist deshalb der willkürlich festgelegte Erstattungsbetrag des Bundes für Arbeitslosengeld II-Berechtigte, der im Milliardenumfang zulasten der GKV und zugunsten des Bundeshaushalts geht, in einen echten und sachgerechten Krankenversicherungsbeitrag für ALG II-Empfänger auf dem Niveau der durchschnittlichen Beitragshöhe der GKV-Versicherten umzustellen. Auf der Ausgabenseite müssen vorhandene Effizienzpotenziale genutzt werden. Das gilt grundsätzlich für alle Leistungsbereiche, besonders jedoch für den Hilfs- und Arzneimittelbereich. Letzterer stellt den zweitgrößten Ausgabenposten der GKV dar und verfügt, angesichts einer hochprofitablen Pharmaindustrie, über erhebliche Einsparpotenziale. Die Mehrwertsteuer für Arznei- und Hilfsmittel sollte dauerhaft gesenkt werden. Interimspreise für patentgeschützte Arzneimittel im ersten Jahr nach der Zulassung und rückwirkende Erstattungsbeträge nach der Nutzenbewertung und -bepreisung sind einzuführen. Zusätzlich sollte der Herstellerabschlag für pharmazeutische Unternehmen erhöht werden.

Stationäre Versorgung reformieren.

Die Pandemie hat ein Schlaglicht auf die Versorgungslandschaft im deutschen Gesundheitswesen geworfen. Vernetztes und interdisziplinäres Arbeiten in Krankenhäusern sowie der gezielte Einsatz von Fachkräften auf Intensivstationen haben sich bei der Behandlung der Covid-19-Patienten als vorteilhaft erwiesen. Die größte Last haben dabei die Maximalversorger, die Universitätskliniken und die Fachkliniken getragen. Hier sind die Strukturvoraussetzungen, personellen Ressourcen und Mindestqualitätskriterien schon vorhanden oder aufzubauen. Die Zentralisierung von komplexen stationären Leistungen, effizientere Strukturen bei gleichzeitiger Sicherstellung der Grundversorgung in der Fläche – in Krisensituationen wie auch im Normalbetrieb – sind deshalb die Reformthemen in den nächsten Jahren.

Nicht alle Kapazitäten zur Versorgung schwerstkranker Patienten in einer Pandemie lassen sich auf Dauer vorhalten. Daher sind Pläne zu erarbeiten, aus denen hervorgeht, wie, an welchen Orten, mit welchem Personal und welchen Sachmitteln Reservekapazitäten bereitzuhalten sind. Dieser Krisenplan muss in eine umfassende Planung der intensiv- und nicht-intensiv-medizinischen Versorgungskapazitäten im Normalbetrieb eingebettet sein, die auf Grundlage der regionalen Versorgungsbedarfe und -strukturen krankenhaus- und standortübergreifend durchgeführt wird. Parallel dazu ist ein bundesweites Monitoring und Verteilungssystem zu etablieren, dass in Krisensituationen aktiviert werden kann.

Für das Monitoring der Krankenhauskapazitäten und die Steuerung von Patienten in geeignete Krankenhäuser werden in Krisenzeiten die aktuellen Belegungsstände von Krankenhäusern anhand von Daten in ausreichender Differenzierung benötigt. Diese Daten müssen zumindest allen an der Bewältigung einer Ausnahmesituation beteiligten Institutionen zugänglich sein. Eine Infrastruktur für diesen Zweck ist aufzubauen und dauerhaft vorzuhalten, damit sie im Bedarfsfall aktiviert werden kann. Die gezielte Patientensteuerung, gerade auch in pandemischen Krisen, würde verhindern, dass andere, pandemieunabhängige Versorgungsangebote heruntergefahren oder wichtige Qualitätsvorgaben für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen plötzlich ausgesetzt werden müssen. Nicht zuletzt machen sie das Gesundheitswesen krisenresistenter und schützen es vor Überforderung. Die Angst vor Überlastung war ein Grund für den vollständigen Lockdown im Frühling 2020. Braucht es noch mehr Reformanlässe?

Krankenkassen vor Stresstest bewahren.

Die Corona-Krise hat nahezu alle Versorgungsbereiche des Gesundheitswesens einem Stresstest unterzogen. Angesichts einbrechender Behandlungszahlen haben diverse Rettungsschirme die Versorgungsinfrastruktur vor Schaden bewahrt. Die Koalition hat früh und richtig reagiert, ohne belastbare Kenntnisse zur Dauer und zum Ausmaß der Auswirkungen der Krise auf das Gesundheitswesen zu haben. Für die Zukunft kann und muss nun vorgesorgt werden, um auch die GKV vor einem weiteren finanziellen Stresstest zu bewahren.
 
Neben der Überarbeitung der Pandemiepläne, die auf eine Eindämmung des Infektionsgeschehens abzielen, muss eine Konsequenz aus der Corona-Krise die Festlegung eines verbindlichen Pandemiemaßnahmenprogramms sein. Dort sind vorab einheitliche Regeln für Rettungsschirme zur Aufrechterhaltung der Versorgungsinfrastruktur zu definieren, wenn in Krisenzeiten Krankenhäuser, Arztpraxen, Apotheken und andere Gesundheitseinrichtungen existenziell bedroht sind. Es ist dabei zu erwägen, einen nationalen steuerfinanzierten Pandemiefonds einzurichten, der neben einer nationalen Reserve für Schutzkleidung, Beatmungsgeräte, Arzneimittel und anderes mehr auch die Refinanzierung der Schutzschirme sicherstellt. Die Sozialversicherung benötigt verbindliche Krisenreaktionsregelungen, die ein einheitliches und schnelles Handeln zum Schutz existentiell bedrohter Arbeitgeber und Selbstständiger bei Beitragsforderungen und zur Insolvenzsicherung ermöglichen. Der Einbruch der Beitragseinnahmen infolge des Lockdowns hat noch einmal aufgezeigt, wie wichtig die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds zum Erhalt der Zahlungsfähigkeit der GKV ist. Bislang waren die Rücklagen der GKV oft nur Verfügungsmasse für politische Wohltaten. Um künftige krisenbedingte Einnahmenschwankungen ohne Beitragssatzanhebung abzufedern, sollte die gesetzlich vorgeschriebene Mindestrücklage deshalb deutlich angehoben werden.

Wumms oder Rumms?

Das alles ist nur eine Auswahl der Möglichkeiten, mit denen die amtierende Koalition noch vor der Bundestagswahl dafür sorgen könnte, die versprochene Sozialgarantie längerfristig zu gewährleisten. Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat das Konjunkturpaket mit der Zusage verbunden: „Wir wollen mit Wumms aus der Krise kommen.“ Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat sich für eine umfassende Aufarbeitung der Corona-Politik durch den Bundestag ausgesprochen, deren Erkenntnisse er zügig umsetzen wolle. Beides sind große Ankündigungen. Es wird sich zeigen, ob die Konjunkturspritze im Gesundheitswesen einen Entwicklungsschub auslöst oder ob es nach der Bundestagswahl 2021 kräftig rummst – wenn die neue Bundesregierung hart in der gesundheitspolitischen Realität aufschlägt.

(Zahlen und Fakten: Stand August 2020)

Kai Senf ist Geschäftsführer Politik und Unternehmensentwicklung im AOK-Bundesverband.
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