Warum gleich ins Krankenhaus?
Klinikaufenthalte bergen für alte Menschen hohe Risiken. Heimbewohner landen dennoch häufig im Krankenhaus. In einer Studie haben Alexander Maximilian Fassmer, Alexandra Pulst, PD Dr. Guido Schmiemann und Prof. Dr. Falk Hoffmann die Ursachen analysiert. Daraus lassen sich Strategien gegen vermeidbare Notaufnahmebesuche und stationäre Aufnahmen ableiten.
Hertha M. ist 82 Jahre alt, leicht dement, mit Rollator mobil und lebt in einem Pflegeheim. Schon seit Tagen fühlt sie sich nicht wohl. Den Pflegekräften sind der verminderte Appetit und eine deutliche, neu aufgetretene Schwäche aufgefallen. Am nächsten Morgen bemerkt die zuständige Pflegekraft eine erhöhte Temperatur von 38 Grad Celsius und ruft den Rettungsdienst, ohne vorher den Hausarzt zu kontaktieren. Die Rettungskräfte stellen vor Ort keine lebensbedrohlichen Symptome fest, transportieren Frau Müller jedoch ins Krankenhaus. Dort wird sie aufgrund eines Harnwegsinfektes eine Woche lang stationär behandelt. Nach ihrer Rückkehr ist Frau M. zunehmend verwirrt und nimmt nicht mehr an den Mahlzeiten im Gemeinschaftsraum teil.
Fälle wie in diesem fiktiven Beispiel sind keine Seltenheit, sondern Alltag in den über 11.000 Pflegeheimen in Deutschland mit vollstationärer Dauerpflege. Aktuell leben hier etwa 800.000 Menschen – Tendenz steigend. Im Pflegeheim wohnen mehrheitlich Frauen. Sie sind im Schnitt 85 Jahre alt. Die Hälfte von ihnen ist an einer Demenz erkrankt. Oft müssen sie eine Vielzahl von Medikamenten einnehmen und leiden an weiteren altersbedingten Erkrankungen. Damit stellen sie eine äußerst verletzliche Gruppe dar mit einem hohen Risiko für akute Gesundheitsverschlechterungen und hohem Versorgungsbedarf.
Risiko für unerwünschte Folgen steigt.
Pflegeheimbewohner werden deshalb auch oft im Krankenhaus behandelt. In einer systematischen Literaturübersicht aus dem Jahr 2016 zu Hospitalisierungsraten in den USA, Kanada, Belgien, China, Italien, Schweden und Deutschland lag die Rate zwischen 0,4 und 1,1 Krankenhausaufenthalten pro Bewohner und Jahr. Der höchste Wert stammte aus der damals einzigen deutschen Studie aus dem Jahr 2005. Zusätzlich wird in Deutschland die Hälfte der Pflegeheimbewohner sogar noch im letzten Lebensmonat stationär behandelt, und ein Drittel verstirbt im Krankenhaus.
Quelle: Trahan LM, Spiers JA, Cummings GG. Decisions to Transfer Nursing Home Residents to Emergency Departments: A Scoping Review of Contributing Factors and Staff Perspectives. Journal of the American Medical Directors Association. 2016; 17: 994–1005.
Diese Anteile sind, verglichen mit anderen Industrienationen, ebenfalls erhöht. Am häufigsten erfolgen die Krankenhausbehandlungen aufgrund von allgemeinen Zustandsverschlechterungen (beispielsweise Infektionen), Stürzen oder kardiovaskulären Erkrankungen. Dabei birgt jeder Krankenhausbesuch ein erhöhtes Risiko für unerwünschte Folgen, wie beispielsweise im Krankenhaus erworbene Infektionen, die Zunahme von funktionellen Verlusten und Verwirrtheitszuständen insbesondere bei Menschen mit Demenz. Weiterhin gehen die Transporte mit dem Rettungswagen und die Behandlungen auch mit hohen finanziellen Belastungen für das Gesundheitssystem einher. Ein Großteil der Krankenhausbesuche von Pflegeheimbewohnern wird als potenziell vermeidbar eingeschätzt.
Die Entscheidungen für oder gegen einen Transport ins Krankenhaus sind komplex und auf vielfältige Ursachen auf ganz unterschiedlichen Ebenen zurückzuführen (siehe Grafik „Was die Entscheidung beeinflusst“). Sie betreffen sowohl den Bewohner beziehungsweise Angehörige als auch das Versorgungssystem und die dort handelnden Personen.
Bei der Akutversorgung von Pflegeheimbewohnern handelt es sich also um ein hochrelevantes und vielschichtiges Problem. Für Deutschland liegen jedoch kaum belastbare Daten vor. Somit mangelt es an Informationen zur Häufigkeit von Transporten ins Krankenhaus, zu Gründen und zu Versorgungsprozessen, die zu Notaufnahmebesuchen und stationären Einweisungen von Pflegeheimbewohnern führen. Vor diesem Hintergrund hat das durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses geförderte Projekt „Hospitalisierung und Notaufnahmebesuche von Pflegeheimbewohnern“ (HOMERN) entsprechende Daten zur aktuellen Situation in Deutschland generiert, die im Folgenden überblicksartig zusammengefasst werden.
Auswertung von AOK-Daten.
Um die Frage zu beantworten, wie häufig und mit welchen Diagnosen Pflegeheimbewohner in Notaufnahmen und Krankenhäusern behandelt werden, haben die am Projekt beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunächst Daten der AOK Bremen/Bremerhaven analysiert. Ausgewertet wurden Daten aller Versicherten, die zwischen dem 1. Januar 2014 und dem 31. Dezember 2015 erstmals vollstationäre Dauerpflege erhielten und im Bundesland Bremen wohnten. Im Durchschnitt wurde jeder dieser 1.665 Pflegeheimbewohner 1,7-mal pro Jahr ungeplant im Krankenhaus behandelt. Die meisten dieser Behandlungen (69 Prozent) waren stationäre Aufnahmen. Insgesamt hatten Männer ein höheres Risiko für ungeplante Krankenhausbesuche. Ebenfalls häufiger stationär behandelt wurden Pflegeheimbewohner, die fünf oder mehr Medikamente einnehmen (Polypharmazie). Die Behandlungen verteilten sich gleichmäßig über die Wochentage mit einem leicht höheren Anteil von stationären Einweisungen am Montag. Bei über der Hälfte aller ambulanten Notaufnahmebesuche wurden Stürze, Unfälle und Verletzungen behandelt.
Diese Gruppe stellte auch bei Krankenhausaufenthalten den größten Anteil (19 Prozent), dicht gefolgt von Infektionen (15 Prozent) und kardiovaskulären Erkrankungen (14 Prozent). Das Diagnosespektrum bei Krankenhausaufenthalten war somit insgesamt breiter als bei Notaufnahmebesuchen (siehe Grafik „Häufigster Grund für den Weg in die Klinik“).
Pflegende und Hausärzte befragt.
Wie häufig schätzen Hausärzte und Pflegende Krankenhausaufenthalte als unangebracht ein und wie denken sie über Maßnahmen zur Reduzierung der Aufenthalte? Für das langfristige Ziel, die Zahl der Klinikeinweisungen von Heimbewohnern zu verringern, sind die Sichtweisen von Ärzten und anderer an der Versorgung Beteiligten essenziell. Zentral sind hier zum einen die Pflegenden, die als erste mit der Zustandsverschlechterung eines Bewohners konfrontiert sind. Die zweite Gruppe sind Hausärzte, die den Großteil der medizinischen Versorgung von Pflegeheimbewohnern übernehmen und diese meistens auch koordinieren. In diesem Zusammenhang haben die Wissenschaftler im HOMERN-Projekt zwischen August 2018 und Januar 2019 zufällig ausgewählte Hausärzte und Pflegeheime postalisch befragt.
Wenn Heimbewohner in die Notaufnahme kommen oder stationär aufgenommen werden, ist meist ein Sturz vorangegangen. Das zeigen Daten von 1.665 Versicherten der AOK Bremen/Bremerhaven mit vollstationärer Dauerpflege zwischen Januar 2014 und Dezember 2015. So wurden bei über der Hälfte aller ambulanten Notaufnahme-Besuche Stürze, Unfälle und Verletzungen behandelt. Diese Diagnosegruppe stellte auch bei Krankenhausaufenthalten den größten Anteil (19 Prozent), dicht gefolgt von Infektionen (15 Prozent) und kardiovaskulären Erkrankungen (14 Prozent).
Quelle: Studie HOMERN 2019
Die 375 teilnehmenden Hausärzte schätzten die Anteile unangebrachter Krankenhausaufenthalte höher ein als die 486 Pflegeheime. Bei letzteren kamen die Antworten mehrheitlich von den Pflegedienstleitungen. So beurteilten Hausärzte 35 Prozent der stationären Aufnahmen (Pflegende: 26 Prozent) und 40 Prozent der Notaufnahmebesuche (Pflegende: 21 Prozent) als nicht erforderlich.
Heimbewohner profitieren häufig nicht von Klinikaufenthalten.
Einig waren sich aber Hausärzte und Pflegende darin, dass Heimbewohner häufig nicht von Krankenhausaufenthalten profitieren und dass es nach Stürzen oft keine Alternative zu einem Transport ins Krankenhaus gibt. Die Zustimmung zu beiden Aussagen war unter den Pflegenden jedoch noch höher. Über die Hälfte der Ärzte war der Auffassung, dass Pflegekräfte zu oft ohne ärztliche Rücksprache den Rettungsdienst rufen. Nur jeder zehnte Pflegende teilte diese Meinung. Die Hausärzte sahen in einer besseren Personalausstattung der Heime, einer besseren Kommunikation zwischen Pflegenden und Hausarzt sowie einer besseren Qualifizierung des Pflegepersonals die größten Potenziale, um die Zahl der Transporte ins Krankenhaus zu verringern. Die Pflegenden sahen die größte Bedeutung in einer besseren Versorgung und Erreichbarkeit durch Haus- und Fachärzte. Beide Gruppen sahen eine große Bedeutung von aussagekräftigen Patientenverfügungen. Aktuell sind Verfügungen in deutschen Pflegeheimen wenig verbreitet, häufig unpräzise und werden damit im Akutfall oft nicht beachtet.
Viele Klinikaufenthalte fallen in die letzte Lebensphase.
Krankenhausaufenthalte von Pflegeheimbewohnern nehmen mit unmittelbarer Nähe zum Tod deutlich zu. Im Projekt HOMERN werteten die Wissenschaftler diesbezüglich Daten der AOK Bremen/Bremerhaven von Pflegeheimbewohnern aus, die zwischen dem 1. Januar 2006 und dem 31. Dezember 2015 verstarben und bei ihrem Tod mindestens 65 Jahre alt waren. Dies traf auf 10.781 Versicherte zu. Über zehn Jahre hinweg blieb das Durchschnittsalter der Verstorbenen gleich (86 Jahre), aber die Anteile der Männer und der Bewohner mit niedrigem Pflegebedarf stiegen. Insgesamt verstarben 29 Prozent der Pflegeheimbewohner im Krankenhaus. Fast die Hälfte der Bewohner hatte mindestens einen Krankenhausaufenthalt in den letzten 30 Tagen vor dem Tod.
Jüngere Pflegeheimbewohner und solche mit niedrigerem Pflegebedarf sowie Männer hatten ein höheres Risiko für Krankenhausaufenthalte in der letzten Lebensphase. Interessanterweise hatte sich der Anteil der im Krankenhaus verstorbenen Pflegeheimbewohner sowie Aufenthalte in den letzten 30 Tagen des Lebens in dem zehnjährigen Beobachtungszeitraum nahezu nicht verändert. Lediglich die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von Bewohnern, die im Krankenhaus verstarben, sank zwischen 2006 und 2015 von neun auf 7,5 Tage.
Bedarf für eine bessere Ausbildung.
Angesichts des demografischen Wandels werden Pflegeheime in Zukunft noch wichtiger werden für die Versorgung am Ende des Lebens. Ein weiterer Teil der bereits oben genannten Befragungen von Hausärzten und Pflegenden behandelte daher die Versorgung am Lebensende. Ungefähr sieben von zehn Hausärzten stimmten zu, dass Pflegeheimbewohner in der letzten Lebensphase zu oft im Krankenhaus behandelt werden, und über die Hälfte beurteilte die Versorgung am Lebensende in Pflegeheimen als eher schlecht.
Die Pflegenden waren bei beiden Punkten weniger kritisch – beide Aussagen wurden nur von jeweils einem Drittel bejaht. Ebenfalls gab es Unterschiede in der Zustimmung hinsichtlich der Fragen, ob Hausärzte gut genug für die Versorgung am Lebensende ausgebildet sind (Hausärzte: 57 Prozent, Pflegende: 36 Prozent). Bedarf für eine bessere Ausbildung des Pflegepersonals für diese Aufgabe sahen 82 Prozent der Hausärzte und 63 Prozent der Pflegenden. Hausärzte und Pflegende schätzten den Anteil von Heimbewohnern mit einer Patientenverfügung auf 37 beziehungsweise 46 Prozent. Sie gingen davon aus, dass in rund 30 bis 40 Prozent der Fälle diese Verfügungen nicht dem Bewohnerwunsch entsprechend berücksichtigt werden.
Krankenhausaufenthalte von Heimbewohnern nehmen mit unmittelbarer Nähe zum Tod deutlich zu.
Die für die Hausärzte wichtigsten Maßnahmen, um die Versorgung zu verbessern, wären ein besserer Personalschlüssel in Heimen und Qualifizierungsmaßnahmen für die Pflegenden (inklusive Palliativversorgung). Die Pflegenden gaben daneben noch an, dass sie sich eine bessere Integration und Verfügbarkeit von Palliativversorgung in Pflegeheimen wünschen. Hausärzte mit der Zusatzbezeichnung Palliativmedizin waren insgesamt kritischer und gaben außerdem häufiger als ihre Kollegen an, dass Hausärzte auch außerhalb der Sprechzeiten für palliative Patienten erreichbar sein sollten.
Im Schnitt versorgen neun Hausärzte ein Heim.
Ein frühes Erkennen medizinischer Versorgungsbedarfe und eine bedarfsgerechte Versorgung fördern Gesundheit und Lebensqualität von Pflegeheimbewohnern. Außerdem können so Klinikaufenthalte vermieden werden. Erkenntnisse zur ambulanten Versorgung in Pflegeheimen liegen jedoch nur begrenzt vor. Die Wissenschaftler im HOMERN-Projekt baten die Pflegenden deshalb um ihre Einschätzung zur Versorgung durch Hausärzte, Fachärzte und weitere Gesundheitsfachberufe, wie beispielsweise Physiotherapeuten. Die Befragung ergab, dass im Durchschnitt ein Pflegeheim durch neun verschiedene Hausärzte versorgt wurde. Fast drei Viertel der Pflegenden stimmte zu, dass die medizinische Versorgung von Heimbewohnern vom Hausarzt koordiniert werden sollte. Dass die Behandlung durch Fachärzte nur nach Überweisung durch Hausärzte erfolgen sollte, bejahte aber weniger als die Hälfte. Auch sahen nur 50 Prozent der Pflegenden eine höhere Qualität der Versorgung, wenn ein Pflegeheim nur durch eine Hausarztpraxis versorgt wird.
Häufigere ärztliche Besuche erwünscht.
Besonders wichtig war den Befragten, dass Hausärzte häufiger zu Patientenbesuchen in die Pflegeheime kommen. Bei der Einschätzung des Versorgungsbedarfs durch Fachärzte haben fast 90 Prozent der Pflegenden einen hohen Bedarf an Psychiatern und Neurologen gesehen. Dahinter folgten Zahnärzte und Urologen (jeweils fast 75 Prozent) sowie Augen- und Hautärzte (jeweils rund 50 Prozent). 90 Prozent der Pflegenden gaben an, dass in den vergangenen zwölf Monaten ihre Bewohner regelmäßig von Psychiatern und Neurologen besucht wurden (dahinter: Zahnärzte mit 85 Prozent). Bei Urologen und insbesondere bei Augenärzten hingegen gab es große Diskrepanzen zwischen dem eingeschätzten Bedarf und der tatsächlichen Versorgung. Unter den weiteren Gesundheitsfachberufen wurden die höchsten Bedarfe für Physiotherapeuten (91 Prozent), Logopäden (66 Prozent) und Hörgeräteakustiker (52 Prozent) gesehen.
Berichtsblatt zur strukturierten Kommunikation entwickelt.
Das HOMERN-Projekt hat erstmalig für Deutschland umfassende Informationen zur medizinischen Versorgung von Pflegeheimbewohnern, zu Krankenhausbehandlungen und dahinterstehenden Versorgungsprozessen dokumentiert. Weitere Auswertungen zur Perspektive von Rettungskräften, zum Prozess der Entscheidungsfindung vor dem Transport sowie involvierten Akteuren und zu Faktoren, die das Pflegepersonal bei ihrer Entscheidung beeinflusst haben, werden in den kommenden Monaten veröffentlicht. Als erste Maßnahme zur Verbesserung der Versorgung haben die beteiligten Wissenschaftler ein Berichtsblatt zur strukturierten Kommunikation zwischen Einrichtung und Hausarztpraxis entwickelt.
Um den vielfältigen Ursachen für die international vergleichsweise häufigen Transporte von Pflegeheimbewohnern ins Krankenhaus entgegenzuwirken, muss die Politik entsprechende Weichen stellen. Solche Ansätze, die auf einen besseren Personalschlüssel sowie bessere Vergütungen und Qualifikationen zielen müssen, sind jedoch langwierig und benötigen Zeit. Auch eine bessere (haus-)ärztliche Versorgung sowie eine bessere Kommunikation zwischen Arztpraxis und Pflegeheim kann zu einer Verbesserung der Versorgung und damit zur Reduktion von Transporten ins Krankenhaus beitragen. Darauf weisen auch internationale Erfahrungen hin.
- Klaus Jacobs, Adelheid Kuhlmey, Stefan Greß, Jürgen Klauber, Antje Schwinger (Hrsg.): Pflege-Report 2019. Springer Verlag. Download
- Katrin Balzer, Stefanie Butz, Jenny Bentzel, Dalila Boulkhemair, Dagmar Lühmann: Beschreibung und Bewertung der fachärztlichen Versorgung von Pflegeheimbewohnern in Deutschland. HTA-Bericht Nr. 125, DIMDI. Download
- Falk Hoffmann, Katharina Allers: Krankenhausaufenthalte von Pflegeheimbewohnern in der letzten Lebensphase: eine Analyse von Krankenkassenroutinedaten. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 2020. Open Access
- Silke Heller-Jung: Früher Blick auf letzte Schritte. In: G+G 12/2019, Seite 22-27.
Dass jedoch jedes Heim durchschnittlich von neun verschiedenen Hausärzten versorgt wird (bei 89 Bewohnern je Heim) und auf der anderen Seite jeder Hausarzt durchschnittlich Bewohner in vier Heimen betreut, dürfte die Umsetzung von Maßnahmen massiv erschweren. Allein die Reduktion der versorgenden Praxen je Heim würde nahezu zwangsläufig zu einer häufigeren Anwesenheit der Hausärzte, zu einer verbesserten Kommunikation mit den Pflegekräften sowie zu einer insgesamt besseren Koordination der Versorgung führen. Nicht nur internationale Beispiele, sondern auch Initiativen aus Deutschland lassen diese Schlussfolgerung zu (zum Beispiel „Pflege mit dem Plus“).
Patientenpräferenzen rechtzeitig erfragen.
Auch die konsequente Erfassung und Berücksichtigung der zukünftigen Versorgungspräferenzen der Bewohner für den Fall, dass diese sich nicht mehr selbst äußern können (Patientenverfügung) könnte die Zahl der Klinikeinweisungen verringern. Idealerweise sollten in diesem Prozess auch Angehörige und andere Vertrauenspersonen einbezogen werden. Eine bessere Implementierung von Advance Care Planning-Programmen (übersetzt: Behandlung im Voraus planen) kann hierzu beitragen. Mittlerweile hat der Gesetzgeber auch die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass Pflegeheime den Bewohnern eine solche gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase anbieten können (Paragraf 132g Sozialgesetzbuch V). Diese wird zudem entsprechend vergütet. Allerdings sind diese Leistungen noch nicht flächendeckend umgesetzt. Gerade vor dem Hintergrund, dass etwa die Hälfte der Bewohner demenziell erkrankt ist, sollten solche Gespräche idealerweise noch vor dem Umzug ins Pflegeheim stattfinden.
Für die letzte Lebensphase kann die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) eine weitere Möglichkeit bieten, die adäquate Versorgung sicherzustellen und potenziell vermeidbare Krankenhausaufenthalte zu reduzieren. So sprachen sich auch in den HOMERN-Befragungen Hausärzte wie Pflegende dafür aus, dass Heimbewohner öfter in die SAPV eingeschrieben sein sollten. Allerdings ist zu diskutieren, ob nicht andere Schritte, wie beispielsweise eine Verbesserung der hausärztlichen Versorgung im Pflegeheim, geeigneter sind, um die Zahl der Krankenhausaufenthalte in der letzten Lebensphase zu verringern. Dann bliebe die SAPV komplexeren Fällen mit hoher Symptomschwere vorbehalten.
Ziel sollte sein, dass Menschen wie Hertha M. ein belastendes Hin und Her zwischen Pflegeheim und Krankenhaus so weit wie möglich erspart bleibt.
Literatur bei den Verfassern