Pflegeheime

Demenzkranke umfassend schützen

Pflegeheime müssen genauer darauf achten, dass sie schwer demente Bewohner sicher unterbringen. Bei erkennbarer Selbstschädigungsgefahr dürfen sie ihnen kein Zimmer im Obergeschoss mit leicht erreichbaren, einfach zu öffnenden Fenstern geben. Das hat der Bundesgerichtshof entschieden. Von Anja Mertens

Urteil vom 14. Januar 2021
– III ZR 168/19 –

Bundesgerichtshof

Demenz ist eine der häufigsten

Erkrankungen des hohen Alters. Allein in Deutschland leiden rund 1,6 Millionen Menschen an der Krankheit, für die es kein Heilmittel gibt. Je mehr das Gedächtnis nachlässt, desto intensiver müssen Demenzkranke betreut werden. Häufig benötigen sie eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Weil ihre Pflege anspruchsvoll ist, leben viele von ihnen im fortgeschrittenen Krankheitsstadium nicht mehr zu Hause, sondern in einer Pflegeeinrichtung. Dort kommt es immer wieder zu schwersten Unfällen oder gar Todesfällen. Solche Vorfälle schockieren und werfen rechtliche Fragen zu den Schutzpflichten von Heimen auf. So auch nach einem tödlichen Fenstersturz eines demenzkranken Heimbewohners, mit dem sich der Bundesgerichtshof (BGH) befassen musste.

Sicherheit vernachlässigt.

Der 1950 geborene hochgradig demente Mann litt unter Gedächtnisstörungen sowie an psychisch-motorischer Unruhe. Zudem gab es bei ihm die Tendenz zur Selbst­gefährdung. Auch hatte er zeitweise Sinnestäuschungen. Wegen des besonderen Betreuungsbedarfs wurde er im Februar 2014 in ein spezielles Pflegeheim verlegt. Dort erhielt er ein Dachgeschosszimmer auf der dritten Etage des Gebäudes. Der Raum verfügte über zwei große un­gesicherte Dachfenster. Diese waren über den Heizkörper und die Fensterbank stufenweise erreichbar. Im Juli 2014 stürzte er aus einem der beiden Fenster. Trotz mehrerer Operationen und Heilbehandlungen verstarb er schließlich im Oktober 2014 infolge seiner schweren Verletzungen. Wegen unterlassener Sicherheitsmaßnahmen verklagte die Frau des Verstorbenen die Heimträgerin auf mindestens 50.000 Euro Schmerzensgeld. Dass ihr dementer, aber mobiler Mann in einem Zimmer untergebracht worden sei, dessen Fenster sich leicht öffnen ließe, stelle eine erhebliche Pflichtverletzung dar. Aufgrund des Krankheitsbildes ihres Mannes hätte sich die Möglichkeit eines Fenstersturzes geradezu aufdrängen müssen.

Pflegeheime sind verpflichtet, ihre Bewohner vor Gefahren zu schützen, so die obersten Zivilrichter.

Das Landgericht wies die Klage ab. Die Berufung blieb erfolglos. Das Oberlandesgericht (OLG) verneinte eine Pflichtverletzung. Die Beklagte und das Pflegepersonal hätten nicht befürchten müssen, dass der Mann versuchen könnte, durch Klettern aus einem Fenster nach draußen zu gelangen. Weder der Umstand, dass er zuvor mehrfach aus dem Gehwagen herausgeklettert war, noch sein krankheitsbedingtes Verhalten ändere etwas an dieser Bewertung. Gegen diese Entscheidung legte die Frau Revision ein. Der BGH hob das Berufungsurteil auf und verwies die Sache an das OLG zurück. Der geltend gemachte Schmerzensgeldanspruch wegen Verletzung einer vertraglichen Schutzpflicht (Paragrafen 280, 241, 278 Bürgerliches Gesetzbuch) beziehungsweise einer deliktischen Verkehrssicherungspflicht (Paragraf 823 BGB in Verbindung mit Paragraf 229 Strafgesetzbuch und Paragraf 831 BGB) könne so nicht verneint werden.

Schutzpflichten betont.

Die obersten Zivilrichter wiesen zunächst daraufhin, dass Heimbetreiber verpflichtet seien, unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts die ihnen anvertrauten Bewohner vor Gefahren zu schützen. Welchen konkreten Inhalt diese Verpflichtung hat, könne nicht generell, sondern nur aufgrund einer Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden.

Leistungserbringungsrecht in der Rehabilitation, Eingliederungshilferecht, Vergütung bei Leistungen im persönlichen Budget – diese und weitere Themen behandelt der 14. Deutsche REHA-Rechtstag am 4. Juni in Berlin. Veranstalterin ist die Deutsche Anwaltakademie.

 Weitere Informationen über den 14. Deutschen REHA-Rechtstag

Einerseits sei dabei die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beeinträchtigten Heimbewohners zu achten und andererseits sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen. Das OLG habe nicht alle relevanten Umstände des Falls berücksichtigt. Insbesondere habe es versäumt, eine medizinisch fundierte Risikoprognose hinsichtlich einer etwaigen Selbstschädigungsgefahr des Verstobenen zu treffen. Auch habe die Vorinstanz nicht festgestellt, ob in vergleichbaren Pflegeheimen bei der Unterbringung von demenzkranken Patienten, bei denen unkontrollierte und unkalkulierbare Handlungen möglich erscheinen, Fenstersicherungen oder gleichwertige Sicherungsmaßnahmen zum üblichen Standard in den Wohnräumen gehören. Sollte die Sicherung von Fenstern ein üblicher Sicherheitsstandard sein, könnte dessen Fehlen bereits eine Pflichtverletzung begründen. Der verstorbene Mann habe eine gewisse motorische Geschicklichkeit sowie Tendenzen zur Selbstgefährdung gehabt. So seien beispielsweise Halluzinationen und Weglauftendenzen „in extremem Maße“ sowie Sturzgefahr dokumentiert worden, als er sich unkontrolliert und orientierungslos einer Treppe näherte. Bei einer solchen Sachlage hätte das OLG ohne sachverständige medizinische Beratung nicht ausschließen dürfen, dass sich der Mann selbst schädige. Der Verstorbene habe möglicherweise nicht erkennen können, dass sich das leicht zugängliche Fenster nicht zum Verlassen des Zimmers eigne. Zudem sei der Mann in den letzten Wochen vor dem Fenstersturz mehrfach mit Begleitung im Garten des Heims spa­zierengegangen und habe dabei große Freude gezeigt.

Sicherheitsvorkehrungen geboten.

Angesichts der Schwere drohender Körperschäden durch einen Fenstersturz hätte die Beklagte bei einer nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließenden Gefährdung durch Sicherungsmaßnahmen zwingend Rechnung tragen müssen. Hierfür hätte es ausgereicht, verschließbare Fenstergriffe anzubringen oder die Fenster in Kippstellung zu verriegeln. Für die Menschenwürde und das Freiheitsrecht des Bewohners wäre dies keine unzumutbare Beeinträchtigung gewesen.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
Bildnachweis: Foto Startseite: iStock.com/rclassenlayouts