Debatte: Potenzial des Impfens ausschöpfen
Die Corona-Pandemie verdeutlicht noch einmal die Möglichkeiten und Grenzen von Impfungen. Was die Akademie der Wissenschaften in Hamburg empfiehlt, damit das Verfahren seine volle Kraft gegen Krankheitserreger entfalten kann, fasst der Infektiologe Prof. Dr. Ansgar W. Lohse zusammen.
Impfungen gehören zu den wichtigsten Errungenschaften
der Medizin. Allerdings wird das Potenzial von Impfungen sowohl in der Prävention von Infektionen als auch in der Abmilderung von Erkrankungen längst nicht ausgeschöpft. Die aktuelle Pandemie verdeutlicht noch einmal die enormen Möglichkeiten, aber auch die Grenzen dieses medizinischen Verfahrens. Handlungsbedarf besteht insbesondere in der Forschung. Es geht darum, wirkungsvollere und gut verträgliche Impfstoffe zu entwickeln, aber auch darum, die Akzeptanz von Impfungen in der Bevölkerung zu steigern. Zudem gilt es, effektive Impfprogramme zu entwickeln und zu evaluieren. Die Akademie der Wissenschaften in Hamburg hat deshalb mit ihrem Diskussionspapier „Impfen: dringender Handlungsbedarf, großer Forschungsbedarf“ neun Empfehlungen ausgesprochen.
Neue Erreger berücksichtigen.
So plädiert die Akademie dafür, die immunologische und mikrobiologische Grundlagenforschung zu stärken. Die Entwicklung wirksamer Impfstoffe erfordert ein tiefes Verständnis der immunologischen Schutzmechanismen vor Infektionen. Ein breiteres Wissen über die Erreger-spezifischen immunologischen Prozesse nach Infektionen und nach Impfungen ist für ein rationales Design von Schutzimpfungen unerlässlich. Hier sind auch die Bedrohungen durch neu auftretende Infektionserkrankungen (Emerging Infections) zu adressieren, wie der Ausbruch des Coronavirus SarsCoV2 zeigt.
Es geht auch darum, die Akzeptanz von Impfungen in der Bevölkerung zu steigern.
Zudem sollten andere Darreichungsformen als das Spritzen intensiver erforscht werden, um die Wirksamkeit von Impfungen gegen bestimmte Erreger zu verbessern und einen einfacheren Impfeinsatz zu ermöglichen. Vorteile einer möglichen Verabreichung über den Mund oder die Nase sind reduzierter Impfstress, insbesondere bei Kleinkindern, sowie die Verringerung unerwünschter Nebenwirkungen der Injektion. Der Erfolg der oralen Polioimpfung dient hierbei als Vorbild.
Human- und Tiergesundheit gemeinsam betrachten.
Darüber hinaus ist die Impfforschung und Impfanwendung zwischen Human- und Veterinärmedizin abzustimmen. Etwa 60 Prozent der humanen Infektionserreger sowie 75 Prozent der Erreger von Emerging Infections entstammen dem tierischen Bereich. Umfassender Infektionsschutz kann nur durch gemeinsame Betrachtung von Tiergesundheit und menschlicher Gesundheitsfürsorge geleistet werden.
Die epidemiologische Erfassung des Auftretens von durch Impfung zu verhindernden Erkrankungen im Alltag ist unabdingbar. So lassen sich der Langzeiteffekt von aktuellen und neuen Impfempfehlungen auf die Immunität und Infektionsraten populationsbezogen überwachen und Impfkalender optimieren. Vorhersagen zu Ausbreitung und Ansteckungsfähigkeit eines Erregers können nur durch epidemiologisches Monitoring gesichert werden. Zusätzlich wird eine bessere Datenerhebung zu Sterblichkeit, Erkrankungshäufigkeit und damit assoziierten Risikofaktoren benötigt, um Impfempfehlungen anzupassen.
Ein gestärkter Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD) mit regelmäßigen Impfterminen in Kindergärten, Schulen und öffentlichen Ämtern könnte die Impfquoten deutlich verbessern. Der ÖGD muss personell, aber auch fachlich und wissenschaftlich so gefördert werden, dass er diese Aufgabe wahrnehmen kann.
Impfquoten in Gesundheitsberufen verbessern.
Stichprobenartig erhobene aktuelle Zahlen zeigen eine besorgniserregende Impflücke besonders im Pflegedienst und beim Begleitpersonal. Hier sind kurzfristige Maßnahmen notwendig. Zum Beispiel sollte eine verpflichtende Veröffentlichung der Impfquoten des Personals in Kliniken und Pflegeeinrichtungen erwogen werden, um Patientinnen und Patienten eine Risikoeinschätzung zu ermöglichen. Auch eine Erweiterung der Impfpflicht sollte für diesen Bereich diskutiert und wissenschaftlich evaluiert werden.
Die europäischen und nationalen Impfkalender sollten harmonisiert werden. Eine durch das European Centre for Disease Prevention and Control koordinierte Vereinheitlichung von Impfempfehlungen innerhalb von Europa ist sinnvoll, um einen Glaubwürdigkeitsverlust durch national unterschiedliche Impfempfehlungen zu vermeiden.
Infektionsgefahren sind dynamisch. Neue Erkenntnisse in der Forschung können neue Chancen bringen und neue Risiken deutlich machen. Deswegen sollte die Infektions-/Impfforschung regelmäßig evaluiert werden und auf dieser Basis neue Empfehlungen ausgesprochen und umgesetzt werden.