Prävention

Sucht kennt keine Altersgrenzen

Substanzmissbrauch und Suchterkrankungen betreffen nicht nur junge Menschen. Auch und gerade im Alter beeinträchtigt eine Abhängigkeit von bestimmten Stoffen die Lebensqualität und geht mit einem erhöhten Krankheits- und Unfallrisiko einher. Doch ältere Abhängige fallen häufig durchs Raster der Versorgungsangebote. Von Dr. Silke Heller-Jung

Stück für Stück legt der ältere Herr seine Waren auf das Kassenband: Eine Packung Kartoffelsalat, zwei Äpfel, Mettwürstchen, die Fernsehzeitschrift, einen Kopfsalat, eine Flasche Weinbrand. Ein ganz normaler Einkauf? Oder steckt doch mehr dahinter? Substanzmissbrauch, Abhängigkeit oder Sucht im Alter sind Phänomene, die oft lange unentdeckt bleiben. Wenn ein Mittvierziger am Arbeitsplatz trinkt oder ein Jugendlicher anfängt zu kiffen, dann fällt das über kurz oder lang Kollegen, Eltern oder Freunden auf. Nimmt hingegen eine alleinlebende Rentnerin regelmäßig Schlaftabletten, bekommt das mitunter jahrelang niemand mit. Senioren mit ungesundem oder riskantem Substanzgebrauch sind oft unauffällig. Das heißt aber keineswegs, dass es sie nicht gibt.

Riskanter Konsum im Alter.

Die legalen Drogen Alkohol, Tabak und Medikamente werden bundesweit am häufigsten konsumiert. Das gilt auch für ältere und alte Menschen. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) rauchen mehr als zwei Millionen ältere Männer und Frauen. Bei den Über-70-Jährigen sind es neun Prozent der Männer und sechs Prozent der Frauen. Bis zu 400.000 Seniorinnen und Senioren haben ein Alkoholproblem. Für den Epidemiologischen Sucht­survey (Epidemiogical Survey of Substance Abuse/ESA), eine repräsentative bundesweite Querschnittsbefragung, gaben 2018 insgesamt 940 Menschen zwischen 60 und 64 Jahren Auskunft über ihren Alkoholkonsum. Es zeigte sich, dass 18,3 Prozent der befragten Männer und zwölf Prozent der befragten Frauen Alkohol in riskanten Mengen konsumierten. Ein riskanter Konsum liegt bei Männern vor, wenn sie in den letzten 30 Tagen durchschnittlich umgerechnet 24 bis 60 Gramm Reinalkohol pro Tag zu sich genommen haben. Bei Frauen, die aus physiologischen Gründen weniger Alkohol vertragen, liegen diese Grenzwerte bei durchschnittlich zwölf bis 40 Gramm Reinalkohol pro Tag. Gut ein Zehntel (11,8 Prozent) der befragten 60- bis 64-jährigen Männer und Frauen hatte in den zurückliegenden 30 Tagen viermal oder häufiger mindestens fünf alkoholische Getränke nacheinander konsumiert und sich so einen Rausch angetrunken.

Sensibilisierung nimmt zu.

Die Berufsverbände der Neurologen und Psychiater gehen davon aus, dass bei fast zwei Millionen Menschen im Alter über 60 ein schädlicher Gebrauch von Beruhigungs- und Schlafmitteln zu verzeichnen ist. Der ESA-Befragung 2018 zufolge liegt bei 4,9 Prozent der 60- bis 64-Jährigen ein Medikamentenmissbrauch vor. Bei weiteren vier Prozent ist von einer Abhängigkeit auszugehen. Und immerhin 1,3 Prozent der 60- bis 64-Jährigen gaben im Rahmen der ESA-Erhebung 2018 an, innerhalb der letzten zwölf Monate illegale Drogen konsumiert zu haben.

Im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man unter einer Sucht in der Regel ein schwer oder nicht kontrollierbares Verlangen nach Substanzen oder Verhaltensweisen. In Fachkreisen wird dieser Begriff hingegen kritisch gesehen. Die Weltgesundheitsorganisation verwendet in der von ihr herausgegebenen International Classification of Diseases (ICD-10) bereits seit 1964 nicht mehr den Begriff Sucht (addiction), sondern spricht von Abhängigkeit (dependence). Letztere wird definiert als ein seelischer, eventuell auch körperlicher Zustand, der dadurch charakterisiert ist, dass ein Mensch trotz körperlicher, seelischer oder sozialer Nachteile ein unüberwindbares Verlangen nach einer bestimmten Substanz oder einem bestimmten Verhalten empfindet, das er nicht mehr steuern kann und von dem er beherrscht wird. Durch zunehmende Gewöhnung an das Suchtmittel besteht die Tendenz, die Dosis zu steigern. Einer Abhängigkeit liegt der Drang zugrunde, die psychischen Wirkungen des Suchtmittels zu erfahren, zunehmend auch das Bedürfnis, unangenehme Auswirkungen ihres Fehlens (Entzugserscheinungen wie Unruhe, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Angstzustände, Schweißausbrüche) zu vermeiden.

Lange Zeit wurden die höheren Altersgruppen in der Suchtstatistik nicht erfasst. Der Epidemiologische Suchtsurvey etwa berücksichtigt als höchste Altersgruppe die 60- bis 64-Jährigen, und das auch erst seit dem Jahr 2006. Doch seit Beginn der 2000er-Jahre rückt die Problematik stärker in den Fokus von Politik und Wissenschaft. „Es findet eine zunehmende Sensibilisierung für das Thema Sucht im Alter statt, sowohl in Fachkreisen als auch in der breiten Öffentlichkeit“, bestätigt ­Dr. Peter Raiser, Referent für Grundsatzfragen und stellvertretender Geschäftsführer der DHS.

Konsum von Alkohol und Tabak als Selbstverständlichkeit.

Die EU-Drogenbeobachtungsstelle prognostizierte bereits 2008, dass sich die Zahl der älteren Menschen, die von problematischem Substanzkonsum betroffen sind oder unter behandlungsbedürftigen Beschwerden infolge von Substanzkonsum leiden, zwischen 2001 und 2020 mehr als verdoppeln könnte. Da aufgrund der zunehmenden Lebenserwartung immer mehr Menschen ein hohes Lebensalter erreichen, nimmt selbst bei gleichbleibender Häufigkeit von Suchtproblemen die Anzahl derer zu, die Alkohol, Medikamente oder andere Substanzen in riskantem Umfang konsumieren. Hinzu kommt, dass die Nachkriegsgenerationen, die nun sukzessive das Rentenalter erreichen, andere Konsumgewohnheiten entwickelt haben als noch ihre Eltern: Vor allem der Konsum von Alkohol und Tabak als alltägliche Genussmittel ist für sie eine Selbstverständlichkeit.

Langjährige Abhängigkeit hinterlässt gravierende Spuren.

Eine Alkohol-, Medikamenten- oder andere Substanzgebrauchsstörung in höherem Alter kann unterschiedliche Vorgeschichten haben. „Auf der einen Seite haben wir hier den early onset, den frühen Einstieg“, erklärt Professor Heino Stöver, der geschäftsführende Direktor des Instituts für Suchtforschung an der Frankfurt University of Applied Sciences. „Da sprechen wir von Menschen, die schon früh in ihrem Leben mit dem Substanzkonsum begonnen haben und damit alt geworden sind.“ Dank einer besseren medizinischen Versorgung, beispielsweise der Möglichkeit einer Drogensubstitution durch Methadon, erreichten inzwischen auch Langzeitkonsumierende ein höheres Lebensalter.

Aus dem Europäischen Drogenbericht 2020 geht jedoch hervor, dass zwischen 2012 und 2018 die Zahl der Todesfälle durch eine Überdosierung von Drogen in der Altersgruppe der Über-50-Jährigen um 75 Prozent angestiegen ist. Die Anfälligkeit dieser alternden Kohorte von Menschen, die zum Teil fast ihr ganzes Leben lang Drogen konsumiert hat, nimmt also offenbar zu. Die Auswirkungen des langjährigen Konsums auf die Gesundheit sind in der Regel gravierend: Vor allem ältere Opioidkonsumenten „sind häufig multimorbid belastet und haben oft weitere schwerwiegende psychische oder psychiatrische Auffälligkeiten“, so Stöver. „Außerdem sind sie in der Regel um zehn, zwanzig Jahre biologisch vorgealtert. Weit verbreitet sind auch HIV-Infektionen und weitere komplexe Krankheitsbilder.

Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmittel haben ein hohes Suchtpotenzial.

Auch bei gesellschaftlich akzeptierten Suchtmitteln wie Alkohol werden mit einem frühen Einstieg häufig die Weichen für eine fortdauernde Problematik im Alter gestellt: „Personen, die im mittleren Erwachsenenalter einen erhöhten Alkoholkonsum aufweisen, werden dies mit großer Wahrscheinlichkeit auch im höheren Erwachsenenalter beibehalten“, weiß Tanja Hoff. Die Professorin lehrt an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln und hat zum Thema Sucht und Suchtprävention im Alter geforscht. „Zwar sinkt der Alkoholkonsum mit steigendem Lebensalter gegenüber jüngeren Altersgruppen. Riskante und abhängige Trinkmuster bestehen jedoch länger fort als risikoarme.“

Spät in die Sucht gerutscht.

Nicht immer sind Abhängigkeitsprobleme im Alter die Folge bestehender Suchterkrankungen. Schätzungen zufolge erkrankt zum Beispiel etwa ein Drittel der Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit erst nach dem 60. Lebensjahr. In solchen Fällen spricht man von einem „late onset“. Bei solchen neu auftretenden Abhängigkeiten spielen nicht selten organische Gründe eine Rolle. „Durch körperliche Veränderung im Alter, eine eintretende Multimorbidität und eine damit oft einhergehende Multipharmazie verändert sich auch die Verträglichkeit von Substanzen“, führt Tanja Hoff aus. Das könne dazu führen, dass ein aus dem mittleren Erwachsenenalter fortgeführter, ursprünglich „risikoarmer Konsum dann die Grenzen des riskanten oder schädlichen Konsums übersteigen kann und Ältere in einen riskanten Konsum hineinrutschen“.
 
Die Gefahr, unmerklich in eine Abhängigkeit zu gleiten, ist auch bei manchen Medikamenten gegeben. Ein hohes Suchtpotenzial besitzen Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmittel. Bei rund einem Drittel der Medikamentenabhängigen setzt der Missbrauch zwischen dem 51. und dem 60. Lebensjahr ein, heißt es im Informationsportal „Neurologen und Psychiater im Netz“. Auslöser sind häufig körperliche Erkrankungen, Schlafstörungen oder Depressionen, gegen die Medikamente mit einem Suchtpotenzial verordnet werden. Eine körperliche Abhängigkeit könne hier bereits nach wenigen Wochen Einnahmedauer entstehen, warnt der Bremer Gesundheitswissenschaftler Professor Gerd Glaeske in einem Buchbeitrag. Die Einnahme werde aber zum Teil über Jahre fortgesetzt. In den meisten Fällen komme es nicht einmal zu einer Dosissteigerung wie bei anderen Abhängigkeiten. „Alles bleibt unauffällig.“ Betroffen seien hier vor allem ältere Frauen.

Trinken gegen die Einsamkeit.

Während bei jüngeren Menschen oft Spaß und Geselligkeit im Vordergrund stehen, wenn sie zu Alkohol oder anderen Suchtmitteln greifen, dient ein problematischer Substanzgebrauch in höherem Lebensalter nicht selten der Selbstmedikation bei sozialen Problemen wie Einsamkeit, bei gravierenden Umbrüchen wie dem Eintritt in den Ruhestand oder bei Verlusterfahrungen wie dem Tod des Partners. „Die Menschen versuchen dann, ihren Schmerz oder ihre Trauer auf diese Weise zu bewältigen“, erklärt Heino Stöver.

Neun Prozent der Männer und sechs Prozent der Frauen über 70 rauchen.

Die Folgen sind mitunter gravierend. „Auch im höheren Lebensalter können Alkohol, Tabak und psychoaktive Medikamente zu Missbrauch und Abhängigkeit sowie weiteren schweren gesundheitlichen Schäden führen“, betont DHS-Referent Peter Raiser. So kann Alkohol – insbesondere in Kombination mit Medikamenten – schon in geringen Mengen das Gleichgewicht und die Reaktionszeit beeinträchtigen und damit das Risiko für Stürze und andere Unfälle erhöhen. Wird Alkohol über einen längeren Zeitraum in größeren Mengen konsumiert, sind Schäden an Magen, Darm und Leber mögliche Folgen. Das Risiko für bestimmte Krebserkrankungen und für eine Beeinträchtigung der Hirnfunktion steigt ebenso wie die Gefahr von Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten, Gefühlsschwankungen und Depressionen. Psychopharmaka wie Benzodiazepine oder Neuroleptika können bei dauerhaftem Gebrauch unter anderem zu Zittern, Schwindel, Ängsten, Stimmungsschwankungen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Verwirrtheit und Persönlichkeitsveränderungen führen.

Scham und Schuldgefühle.

Da die Konsum-Muster älterer Menschen häufig unauffällig sind, wird eine bestehende Abhängigkeitsproblematik von Dritten oft nicht oder erst spät wahrgenommen. Hinzu kommt, dass die Zeichen eines problematischen Substanzgebrauchs von Angehörigen oder Pflegepersonal nicht selten missdeutet und als übliche Alterserscheinungen oder eine beginnende Demenz fehlinterpretiert werden.
 
Den Betroffenen selbst mangelt es zum Teil an Problembewusstsein. Auch Scham- und Schuldgefühle sowie die Angst vor Stigmatisierung können verhindern, dass das Problem angesprochen und Hilfe gesucht wird. Institutionen wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen bemühen sich mit Kampagnen und Broschüren um eine gezielte Ansprache und Information abhängigkeitsgefährdeter und -betroffener Seniorinnen und Senioren. „Auch ältere Menschen profitieren von Beratung und Behandlung“, appelliert Suchtexperte Peter Raiser an Betroffene und Angehörige. „Wer Hilfe sucht, kann das Thema mit dem Hausarzt oder der Hausärztin besprechen. Auch die Suchtberatungsstellen vor Ort bieten professionelle Unterstützung an.“ Webangebote wie www.unabhaengig-im-alter.de sollen einen niedrigschwelligen Zugang zu Informationen ermöglichen. Aus Sicht von Peter Raiser besteht aber an verschiedenen Stellen noch Handlungsbedarf: „Es gilt, medizinisches Personal verstärkt auf Probleme bei der Langzeitvergabe von Medikamenten mit Suchtpotenzial aufmerksam zu machen und das Thema Medikamentenabhängigkeit in der Ausbildung der Ärzteschaft mehr zu berücksichtigen. Außerdem ist es wichtig, Patientinnen und Patienten stärker für das Thema Wechselwirkungen von Medikamenten und Mitsprache in der Behandlung zu sensibilisieren, sie also zu ermutigen, Fragen zu ihrer Behandlung zu stellen, beispielsweise: Welches Medikament bekomme ich? Wenn ich das Medikament schon länger bekomme: Ist es noch das Richtige für mich? Was sind mögliche Alternativen?“

Eine lebensweltnahe und zielgruppenspezifische Aufklärung über Substanzgebrauchsstörungen ist auch in Heino Stövers Augen unabdingbar. Vor allem pflegende Angehörige seien mit dieser Problematik oft überfordert, erklärt der Suchtforscher. „In der Angehörigenpflege fehlt oft die Distanz, die Dinge einzuordnen. Da wird mitunter schnell mit Reglementierungen oder mit moralischen Vorwürfen reagiert. Das führt aber im Zweifelsfall nur dazu, dass dann eben heimlich getrunken wird.“

Bund förderte Modellprojekte.

Eine 2008 im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums durchgeführte Studie ergab, dass rund 14 Prozent der Menschen, die von ambulanten Pflegediensten und in stationären Einrichtungen betreut werden, Alkohol- oder Medikamentenprobleme haben. Älteren Menschen mit Substanzgebrauchsproblemen zu helfen, stellt auch diese Einrichtungen vor eine komplexe Aufgabe. Um adäquat zu reagieren, können sowohl medizinische als auch therapeutische, pflegerische und psychosoziale Maßnahmen erforderlich sein. Außerdem ist nicht nur alters-, sondern auch suchtspezifisches Fachwissen vonnöten.

  • Sucht im Alter: Auf dieser Seite werden die Ergebnisse der acht Modellprojekte zum Thema Alten- und Suchthilfe vorgestellt.
  • Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen bietet kostenlose Informationsmaterialien für Betroffene, Angehörige und Fachkräfte an und hat auch ein Portal, das sich gezielt an Ältere wendet. Weiterführende Informationen bietet das DHS Jahrbuch Sucht 2021. Lengerich: Pabst, 2021
  • Deutsches Krebsforschungszentrum (2017): Alkoholatlas Deutschland 2017, Heidelberg. Zum Download
  • Das Portal des Epidemiologischen Suchtsurveys liefert repräsentative Zahlen zum Suchtmittelkonsum in Deutschland.
  • Tanja Hoff (Hrsg.): Psychotherapie mit Älteren bei Sucht und komorbiden Störungen. Berlin: Springer, 2018
  • Die Webseite der BZgA-Kampagne „Alkohol? Kenn dein Limit.“ enthält Informationen zum Thema Alkoholkonsum im Alter.
  • Das Portal des Fachverbands Sucht e. V. liefert eine Übersicht über Beratungsstellen und Behandlungsmöglichkeiten.
  • Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf/Zentrum für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg: Sucht im Alter in der Pflege: Empfehlungen für den Umgang mit Menschen mit einem riskanten Suchtmittelkonsum in der Pflege. Ein Ratgeber für Fachkräfte der Altenhilfe und der Suchthilfe.

Aus diesem Grund hat das Bundesministerium für Gesundheit von 2010 bis 2012 acht Modellprojekte gefördert, in denen Konzepte für eine strukturierte Zusammenarbeit von Alten- und Suchthilfe entwickelt und getestet wurden. Ziel war es, die vorhandenen Versorgungsstrukturen besser an die Lebenswelt älterer Menschen mit Suchtproblemen anzupassen. Im Rahmen dieser Projekte wurden Schulungskonzepte, Handlungsempfehlungen, ein Ratgeber für Pflegekräfte, Fragebögen für die Aufnahmesituation, Beobachtungsbögen zur Einschätzung einer möglichen Suchtproblematik und Curricula für Mitarbeiterschulungen entwickelt.

Selbstbestimmungsrecht wahren.

Eine zentrale Erkenntnis aus den Modellprojekten ist in der Broschüre „Sucht im Alter in der Pflege“, einem Ratgeber für Pflegekräfte, so zusammengefasst: „Nicht bei jedem auffälligen Alkohol- und Medikamentengebrauch müssen die Fachkräfte der Altenhilfe aktiv einschreiten. Erst wenn der Gebrauch ein Risiko für die Gesundheit der zu Pflegenden darstellt und es zu einer subjektiv erlebten oder objektiv beobachteten Einschränkung der Lebensqualität kommt, sollte gehandelt werden.“
 
Diesen Aspekt findet auch Heino Stöver wichtig: „Da muss man differenzieren: Sind zwei Schoppen Rotwein täglich schon Sucht? Ist der Drogengebrauch dieses Menschen so stark, dass er dysfunktional ist? Oder geht es ihm mit seinem Schoppen am Abend vielleicht ganz gut?“ Selbst wenn Grund zur Sorge bestehe, sei eine zugewandte, lösungsorientierte Ansprache das A und O: „Wenn man ein solches Thema ernsthaft angehen möchte, muss man Brücken schlagen zu den Menschen. Die Pflegenden müssen einen Weg finden, die Betroffenen davon zu überzeugen, dass es lohnende Alternativen zum Substanzmissbrauch gibt.“ Das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen muss dabei stets Priorität haben. Ihm oder ihr das Suchtmittel einfach wegzunehmen oder vorzuenthalten, ist keine Option – auch aus medizinischer Sicht nicht, da ein abruptes Absetzen beziehungsweise ein kalter Entzug lebensgefährlich sein kann.

Mit der Sucht alt werden.

Für Langzeitkonsumenten ist ein komplett oder weitgehend abstinentes Leben oft keine realistische Option. Für diesen Personenkreis stehen inzwischen einige akzeptierende Altenpflegeeinrichtungen zur Verfügung. Eine davon ist das Caritas-Altenzentrum St. Josef in Düsseldorf, das seinen alkoholabhängigen Bewohnerinnen und Bewohnern ein kontrolliertes, betreutes Trinken ermöglicht. In gemeinsamen Gesprächen wird eine individuelle tägliche Trinkmenge an Alkohol vereinbart und zu den verabredeten Zeiten ausgegeben. Im nordrhein-westfälischen Unna eröffnete 2015 mit dem Landesmodellprojekt LÜSA (Langzeit-Übergangs-und Stützungs-Angebot) eine Wohneinrichtung für mehrfach schwerstgeschädigte chronisch drogenabhängige Menschen, die insgesamt 43 stationäre Plätze in verschieden konzipierten Wohnangeboten bietet. Aus Sicht von Suchtforscher Heino Stöver sind auch solche Initiativen wichtige und unverzichtbare Bausteine für eine angemessene Versorgung: „Letztendlich geht es hier darum, dass man auch mit einer Substanzgebrauchsstörung würdig leben und alt werden kann und darf.“

Silke Heller-Jung hat in Frechen bei Köln ein Redaktionsbüro für Gesundheitsthemen.
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