Arzthaftung bei Wunsch-Kaiserschnitt
Bei einer bereits begonnenen Geburt muss ein Wunsch-Kaiserschnitt medizinisch vertretbar sein. Bei Organisationsmängeln tragen Patienten die volle Beweislast für die Kausalität zwischen Pflichtwidrigkeit und Schaden. Dies hat der Bundesgerichtshof entschieden. Von Anja Mertens
– VI ZR 60/20 –
Bundesgerichtshof
Wenn in Arzthaftungsprozessen
hohe Schadenssummen wie fortlaufende Unterhaltsansprüche im Raum stehen, werden oft alle Instanzen – manchmal mehrfach – in Anspruch genommen. Verfahrensdauern von zehn Jahren sind nicht unüblich. Und selbst wenn ein Behandlungsfehler vorliegt, scheitern Kläger nicht selten am Kausalitätsbeweis. So auch im Fall einer nach der Geburt verstorbenen Mutter, der dem Bundesgerichtshof vorlag.
Am Morgen des 21. Juni 2012 hatte die hochschwangere Frau wegen Verdachts auf einen vorzeitigen Blasensprung und leichter vaginaler Blutung die Frauenklinik aufgesucht, in der sie bereits ihr erstes Kind per Kaiserschnitt entbunden hatte. Nach Ultraschalluntersuchung und Laborwerten im Normalbereich wurde die Frau für die vaginale Geburt stationär aufgenommen. Über einen erneuten Kaiserschnitt wurde nicht gesprochen.
Plötzlich Kaiserschnitt gewünscht.
Nachdem die Wehen verstärkt auftraten, kam die Frau um 22:30 Uhr in den Kreißsaal. Gegen 23 Uhr war der Muttermund bereits sechs Zentimeter geöffnet, und die Wehen verstärkten sich deutlich. Zu diesem Zeitpunkt äußerte die Frau den Wunsch nach einem Kaiserschnitt.
Dass die Klinik dem Wunsch der Patientin nachkam, ist nicht von vornherein als Fehler zu werten, so die obersten Zivilrichter.
Nach einem Gespräch mit der geburtshilflichen Oberärztin und einem Aufklärungsgespräch mit dem Assistenzarzt wurde die Frau um 23:28 Uhr in den Operationssaal verlegt. Der Kaiserschnitt erfolgte unter Vollnarkose. Um 23:44 Uhr war das Kind auf der Welt. Kurz nach dem Ende des chirurgischen Eingriffs um 00:08 Uhr trat eine massive Nachblutung auf, die weder durch Infusionen noch durch manuelle Kompressionen zu stoppen war. Wegen einer parallel laufenden Risikogeburt musste die Ärztin den Operationssaal zwischen 00:15 Uhr und 00:29 Uhr verlassen, blieb aber währenddessen in Telefonkontakt. Nachdem sich bei der Öffnung des Bauchraums arterielle Blutungen und ein Hämatom zeigten, wurden der Chefarzt und der Oberarzt der Gefäßchirurgie hinzugezogen, um die Gebärmutter zu entfernen.
Während dieses Eingriffs musste die Patientin mehrfach reanimiert und intensivmedizinisch behandelt werden. Schließlich starb sie in der Nacht auf den 23. Juni 2012 an Multiorganversagen.
Der Ehemann der Verstorbenen und ihre zwei Kinder warfen der Krankenhausträgerin und den Ärzten Behandlungs- und Aufklärungsfehler vor und forderten Schadenersatz sowie Schmerzensgeld. Nachdem das Landgericht ihre Klage abgewiesen hatte, legten sie Berufung beim Oberlandesgericht ein und bekamen Recht. Ihnen stünden wegen fehlerhafter Behandlung die geltend gemachten Ansprüche zu. Werde nach Geburtsbeginn ein Kaiserschnitt vorgenommen, bestehe ein hohes Risiko, die Uterusgefäße zu verletzen.
Es hätte sichergestellt werden müssen, dass der Eingriff in jedem Fall unter Berücksichtigung aller personellen und organisatorischen Ressourcen wie bei einer geplanten Operation vorgenommen werde. Dies sei in der Nacht außerhalb der Kernarbeitszeit jedoch nicht der Fall gewesen.
Behandlungsfehler nicht klar.
Gegen diese Entscheidung legten die Beklagten Revision beim Bundesgerichtshof ein. Die obersten Zivilrichter hoben das Urteil auf und verwiesen den Fall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurück.
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Der Bundesgerichtshof rügte, dass auf der Basis der vom Oberlandesgericht getroffenen Feststellungen Schadenersatzansprüche nicht begründbar seien. Zum einen habe die Vorinstanz ausdrücklich offengelassen, ob ein Aufklärungsfehler vorliegt. Zum anderen sei nach den bisherigen Feststellungen des Oberlandesgerichts das Vorliegen eines Behandlungsfehlers nicht erwiesen. Die Tatsache, dass die Oberärztin dem Wunsch der Patientin nach einem Kaiserschnitt bei bereits geöffnetem Muttermund noch nachkam, sei nicht von vornherein als Behandlungsfehler zu werten, sondern nur dann, wenn dieser Eingriff in der konkreten Situation „keine medizinisch vertretbare Alternative war“. Zur Klärung dieser Frage sei noch ein Sachverständigengutachten notwendig.
Organisationsfehler muss kausal sein.
Auch genügten die bisher getroffenen Feststellungen nicht für die Annahme einer fehlerhaften Behandlung aufgrund eines Organisationsverschuldens. Hierfür hätten diejenigen Maßnahmen konkret benannt und erörtert werden müssen, welche die Beklagten pflichtwidrig nicht ergriffen haben.
Zwar habe die Oberärztin den Operationssaal für 14 Minuten verlassen. Aber es sei nicht geklärt, ob sich der zeitweilige Ausfall der Oberärztin negativ auf den weiteren Behandlungsverlauf ausgewirkt habe und ob wegen der Gerinnungsstörungen nicht auch bei einer vaginalen Entbindung unkontrollierbare Blutungen aufgetreten wären. Entscheidend sei zudem nicht die Anwesenheit mehrerer Oberärzte, „sondern ob und vor allem wie schnell das Geburtshelferteam in der gebotenen Weise verstärkt werden kann“, so die obersten Zivilrichter.
Ferner habe das Oberlandesgericht rechtsfehlerhaft angenommen, die Beklagten müssten nachweisen, dass die nicht beherrschbare Blutung auch bei einer vaginalen Entbindung eingetreten wäre. Dass sich ein Organisationsmangel auf das Behandlungsgeschehen ausgewirkt und das Behandlungsgeschehen bei optimaler Planung und Vorbereitung einen anderen Verlauf genommen hätte sowie der eingetretene Schaden verhindert worden wäre, habe das Oberlandesgericht nicht festgestellt.
Kommentar: Das Urteil zeigt, wie schwierig es für Patienten ist, den Kausalitätsbeweis zu erbringen. Trotz offensichtlicher Organisationsmängel konnte er nicht geführt werden. Dafür ist sachverständig zu klären, ob eine frühzeitigere Versorgung der Blutung an dem tödlichen Verlauf etwas geändert hätte.