Teilhabe

Debatte: Gesundheit ohne Barrieren

Zugang über Stufen, schmale Türen, keine rollstuhlgerechten Toiletten, Vorurteile: Menschen mit Behinderungen stoßen im Gesundheitswesen häufig auf Hindernisse, kritisiert Jessica Schröder. Barrierefreiheit sollte zur gelebten Praxis werden.

Wenn Menschen in ihren Körper- und Sinnesfunktionen

beeinträchtigt sind, stehen sie beim Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen meist vor vielfältigen Barrieren. Das erscheint absurd und widersinnig, da gerade sie häufiger als der Durchschnitt diese Leistungen benötigen. Schätzungen gehen davon aus, dass zwei Drittel aller in Deutschland zugelassenen Arztpraxen nicht barrierefrei sind. Nach Medienberichten, die sich auf eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion stützen, liegen lediglich für knapp 79.000 der etwa 132.000 Praxen im Bundesarztregister Informationen zur Barrierefreiheit vor. 36,7 Prozent davon weisen den Berichten aus dem Jahr 2020 zufolge wenigstens ein entsprechendes Merkmal auf. Problematisch an diesen Zahlen ist, dass die Ärztinnen und Ärzte durch Selbstauskunft die Barrierefreiheit ihrer Praxen bescheinigen. Auch ist die Erfassung von Merkmalen zur Barrierefreiheit im Bundesarztregister noch im Aufbau.

Behindertenbeauftragte fordern Zertifizierungssystem.

Nach dem Sozialgesetzbuch V (Paragraf 75 Absatz 1a) sind die Kassenärztlichen Vereinigungen verpflichtet, die Versicherten im Internet in geeigneter Weise bundesweit einheitlich über die Zugangsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen zur Versorgung (Barrierefreiheit) zu informieren. Dieser Verpflichtung kommen sie bislang aber nicht in angemessener Weise nach. Um diesem Missstand konstruktiv zu begegnen, fordern die Behindertenbeauftragten von Bund und Ländern die Entwicklung eines bundeseinheitlichen, modularen Beratungs- und Zertifizierungssystems für Arztpraxen. Dieses muss einen umfassenden Kriterienkatalog enthalten, der die Bedürfnisse aller Behinderungsarten berücksichtigt. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Ärztinnen und Ärzte nicht mit den umfangreichen Anforderungen alleine gelassen werden.

Besonders gravierend ist der Mangel an barrierefreien Praxen bei Fachärzten.

Therapeutische und ärztliche Leistungen sollen bei Beachtung baulicher Barrierefreiheit besser honoriert werden, um Anreize für die barrierefreie Gestaltung zu schaffen. Der Gesetzgeber muss eine umfassende Barrierefreiheit aller Praxen und Apotheken verbindlich festschreiben, finanzielle Förderanreize für die barrierefreie Renovierung schaffen und entsprechende bauliche Normen in die Länderbauordnungen integrieren.

Mehr Zeit einplanen.

Besonders gravierend ist der Mangel an barrierefreien Praxen bei Fachärzten. Beispielsweise gibt es in Deutschland nur wenige barrierefreie gynäkologische Zentren. So können beeinträchtigte Frauen ihr Recht auf die gleichwertige Versorgung im Rahmen von Verhütung, Schwangerschaft und Geburt sowie auf Vorsorgeuntersuchungen kaum wahrnehmen. Für mobilitätseingeschränkte Frauen sind häufige Barrieren Stufen und Treppen, zu geringe Türbreiten, fehlende rollstuhlgerechte Toiletten, zu kleine Aufzüge, Behandlungszimmer oder Umkleiden, nicht höhenverstellbare Untersuchungsliegen oder -stühle sowie fehlende Rollstuhlparkplätze. Frauen mit Lernschwierigkeiten brauchen medizinisches Personal, das ihnen Sachverhalte in einfacher Sprache und unter Zuhilfenahme von Piktogrammen erklären kann. Auch ist für die Behandlung von beeinträchtigten Frauen oftmals mehr Zeit einzuplanen.

Der einheitliche Bewertungsmaßstab und somit die Vergütung orientieren sich jedoch an der Versorgung und damit verknüpften Zeitvorgaben von Menschen ohne Behinderung. Hinzu kommen oft einstellungsbezogene Barrieren, die medizinisches Personal unbewusst dazu verleiten, aus der Beeinträchtigung eines Menschen Rückschlüsse auf all seine Fähigkeiten zu ziehen. Diese Haltung führt im schlimmsten Fall dazu, dass Frauen wichtige Informationen vorenthalten oder zu Verhütungsmethoden wie der Dreimonatsspritze gedrängt werden.

Selbstvertretung beteiligen.

Um diesen Barrieren kritisch zu begegnen, braucht es neben gesetzlichen und baulichen Konzepten gezielte Aufklärung und Wissenstransfer. Das Thema Barrierefreiheit und Behinderung muss in die Studien- und Lehrpläne von medizinischem Fachpersonal integriert werden. Die Partizipation von Selbstvertretungsorganisationen in Gremien wie dem Gemeinsamen Bundesausschuss muss weiter gestärkt und ihre Anliegen ambitioniert berücksichtigt werden. Barrierefreies Bauen, barrierefreie Kommunikation und der Abbau von Stereotypen dürfen nicht länger als eine lästige Pflichtübung verstanden werden, die nur wenige angeht. Barrierefreiheit und ein offenes und gleichberechtigtes Miteinander aller Bürgerinnen und Bürger sollten auch außerhalb von Papieren und Gesetzen und vor allem im Gesundheitssektor umfassende gelebte Praxis werden.

Jessica Schröder ist Referentin in der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V.
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