„Ich erwarte ein Machtwort des Kanzlers zur Finanzierung“
Manne Lucha ist eine gewichtige Stimme im Chor der Landesgesundheitsminister – erst recht seit der Baden-Württemberger im Januar Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz wurde. Bei der Finanzierung von Kranken- und Pflegeversicherung fordert er beherzte Reformen.
Herr Minister Lucha, die gesetzliche Krankenversicherung steckt in finanziellen Schwierigkeiten. Besorgt Sie die Situation?
Manne Lucha: Die Reserven der Krankenkassen wurden auf ein kritisches Niveau abgeschöpft. Stand jetzt ist ihre Finanzierung nur bruchstückhaft gesichert. Kassenschätzungen gehen für 2024 von einem Defizit von 17 bis 30 Milliarden Euro aus. Das ist ein riesiges Problem.
Was ist zu tun?
Lucha: Wir brauchen langfristig grundlegende Reformen und zudem kurzfristige Maßnahmen. Dazu zählen mehr Steuermittel. Zum Beispiel müssen die Beiträge für Bürgergeld-Empfänger bedarfsgerecht fließen. Die Mehrwertsteuer für Arzneimittel sollte auf den ermäßigten Satz reduziert werden. Und der jährliche Steuerzuschuss für versicherungsfremde Leistungen muss dynamisiert werden, um das tatsächliche Volumen der Leistungen aus Steuermitteln zu vergüten.
Bundesfinanzminister Christian Lindner will offenbar kein Geld locker machen. Was wird dann aus den Vorhaben im Koalitionsvertrag der Ampel im Bund?
Lucha: Finanzminister Lindner muss sich bei der Finanzierung endlich bewegen. Das gilt für die Kranken- wie auch die Pflegeversicherung. Ich erwarte von Bundeskanzler Olaf Scholz dazu ein Machtwort.
Was sollen einzelne Akteure leisten, etwa die Pharmaindustrie?
Lucha: Es ist sachgerecht, Defizite nicht nur den Beitragszahlern aufzubürden. In kluge Lösungen mit dem Ziel von Verbesserungen im System sind alle Leistungserbringer einzubeziehen, auch Ärzte, Krankenhäuser und Pharmaindustrie. Wir müssen etwa die Steigerungen der Ausgaben im Arzneimittelbereich in den Blick nehmen. Reformen müssen Antworten geben auf Ressourcenallokation.
Die Reserven der Krankenkassen wurden auf ein kritisches Niveau abgeschöpft.
Sie haben die Pflegeversicherung erwähnt, auch hier steht eine Reform an. Was sind Ihre Erwartungen an den Bund?
Lucha: Wir Länder fordern, dass der Bund ein Gesetzespaket auf den Tisch legt, das die Finanzierung der Pflegeversicherung nachhaltig reformiert. Vor allem müssen die versicherungsfremden Leistungen – zum Beispiel die Leistungen zur sozialen Absicherung für Pflegepersonen – endlich mit Steuermitteln finanziert werden. Bei den Beiträgen für die Versicherten ist dagegen Vorsicht angezeigt. Die Lohnnebenkosten dürfen nicht ins Uferlose wachsen. Ein weiteres Problem sind die erheblich steigenden Eigenanteile der Pflegebedürftigen. Die Bundesregierung muss dieses Thema endlich anpacken und die Eigenanteile deckeln.
An welches Modell denken Sie da?
Lucha: Ich setze mich für den Sockel-Spitze-Tausch ein, damit die Mehrausgaben nicht mehr automatisch zulasten von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen gehen. Im Koalitionsvertrag der Ampel haben wir vereinbart, dass die Bundesregierung die Eigenanteile in der stationären Pflege begrenzt und weitere Absenkungen prüft. Wenn wir das Thema weiter verschlafen, wird Pflege für die Betroffenen und deren Familien unbezahlbar werden.
Wie gelingt es, den Pflegeberuf attraktiver zu machen?
Lucha: Der Fachkräftemangel ist eines der entscheidenden Probleme in der Pflege. Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen und eine bessere Finanzierung. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe arbeitet dazu an Vorschlägen. In Baden-Württemberg setzen wir auf weitere Stellschrauben. Wir errichten zum Beispiel gerade eine Pflegekammer, damit Pflegekräfte endlich mehr Selbstverantwortung bekommen und sich mit einer starken Stimme für die Interessen ihrer Mitglieder einsetzen.
Wie besorgt sind Sie darüber, dass Investoren aus aller Welt immer mehr Praxen aufkaufen und Kapitalgesellschaften Medizinische Versorgungszentren (MVZ) übernehmen?
Lucha: MVZ brauchen wir, weil es dort Anstellungsmöglichkeiten für junge Ärztinnen und Ärzte gibt, die sich heutzutage nicht mehr unbedingt selbstständig machen wollen. Doch immer öfter übernimmt das Kapital das Regiment und die unabhängige medizinische Behandlung steht infrage. Das ist höchst problematisch. Im September haben wir Länder eine Arbeitsgruppe eingerichtet, um Vorschläge für ein Regulierungsgesetz und eine Bundesratsinitiative zu erarbeiten. Wir bleiben da dran. Aber am Ende kann es nur der Bund regeln.
Bei der weiteren Baustelle, der großen Krankenhausreform, gibt es einen straffen Zeitplan. Wie ist der zu schaffen?
Lucha: Der Zeitplan ist ehrgeizig, das stimmt. Gut ist deshalb, dass Bund und Länder sich auf einen sehr strukturierten Arbeitsprozess geeinigt haben – mit regelmäßigen Sitzungen auf Fachebene, auf Ebene der Amtschefinnen und -chefs, mit den Koalitionsfraktionen im Bundestag und mit uns Ministerinnen und Ministern. Ich bin optimistisch, dass wir gute Eckpunkte bis zum Sommer hinbekommen.
Was muss für Sie am Ende unbedingt stehen?
Lucha: Unser erklärtes und oberstes Ziel ist es, die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Es muss am richtigen Ort die richtigen Angebote geben. Damit das so bleibt, müssen Kompetenzen gebündelt werden. Mit Bundesminister Karl Lauterbach haben wir vereinbart, dass die Planungshoheit der Länder nicht angetastet wird.
Unser erklärtes und oberstes Ziel ist es, die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger zu verbessern.
Wird es den vielen kleinen Krankenhäusern an den Kragen gehen?
Lucha: Dass Mini-Krankenhäuser die Grundversorgung sichern, ist eine romantische Mär. Notwendig ist das richtige Angebot am richtigen Ort. Da ist nicht unbedingt die Entfernung zum nächsten Krankenhaus entscheidend. Als Dreh- und Angelpunkt für die Versorgung vor Ort gibt es bessere Konzepte, etwa die sektorenübergreifenden Primärversorgungszentren, die wir in Baden-Württemberg auf den Weg bringen. In diesen Anlaufstellen für Gesundheitsthemen aller Art arbeiten unterschiedliche Gesundheitsberufe zusammen. Große Kliniken sind dann für komplexe Behandlungen zuständig.
Woher kommt das Geld für den Umbau der Kliniklandschaft? Hier ist ja von Summen in Höhe von 80 bis 100 Milliarden Euro zu hören …
Lucha: Da sind wir am springenden Punkt. Die Antwort dazu müssen wir in diesem Frühjahr und Sommer mit dem Bundesgesundheitsminister besprechen.
Welche Reformen im Kliniksektor hat Ihr Land bereits in Gang gesetzt?
Lucha: In Baden-Württemberg sind wir beim Wandel der Krankenhausstrukturen sehr fortschrittlich. Viele Landkreise haben sich mutig auf den Weg gemacht. Als Land unterstützen wir sie dabei, geben aber keine vorgefertigten Maßnahmen vor. Ein Beispiel ist der Ortenaukreis, wo zwei große Klinikneubauten entstehen, in denen mehrere Krankenhausstandorte zusammengefasst werden. Gleichzeitig fördern wir die sektorenübergreifende Versorgung mit 29 Modellprojekten. Wir erproben dabei, wie niederschwellige medizinische Versorgung künftig aussehen könnte.
Geht es bei den Primärversorgungszentren auch darum, dem Ärztemangel auf dem Land entgegenzuwirken?
Lucha: Ja. Gerade junge Medizinerinnen und Mediziner wollen nicht mehr als Alleinkämpfer in der Einzelpraxis arbeiten. Die sektorenübergreifenden Zentren bieten viele Vorteile, etwa die Arbeit im Team oder Teilzeitarbeit. Gleichzeitig haben wir weiter unser Förderprogramm „Landärzte“ und seit 2021 eine Landarztquote beim Medizinstudium.
Welche Erfahrungen gibt es bei Ihnen mit der Landarztquote?
Lucha: Sehr gute. 150 Studierende in Baden-Württemberg profitieren schon von diesem Programm und haben jetzt einen Studienplatz. Auch wenn sie nicht zwingend über ein Spitzen-Abi verfügen, ermöglichen wir diesen motivierten, fähigen, empathischen jungen Menschen den Weg ins Medizinstudium. Teilweise haben sie bereits in Gesundheitsberufen gearbeitet und wissen daher, worauf sie sich in der hausärztlichen Versorgung einlassen. Später arbeiten sie dann mindestens zehn Jahre lang in einem unterversorgten Gebiet.
Was halten Sie von Gesundheitskiosken, wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sie flächendeckend etablieren möchte?
Lucha: Grundsätzlich ist die Idee gut, weil sie ganz niedrigschwellig sind und gesundheitliche Chancengleichheit schaffen. Über die konkrete Ausgestaltung von Gesundheitskiosken, auch in Abgrenzung zu unseren Primärversorgungszentren, werden wir mit Bundesminister Lauterbach aber noch sprechen müssen.