„Es darf keinen Kahlschlag im Kliniksektor geben“
Schon durch ihre langjährige Tätigkeit als Klinikärztin kennt Ursula Nonnemacher das Gesundheitswesen aus dem Effeff. Als brandenburgische Ministerin gestaltet sie seit 2019 das Gesundheitssystem mit und hat in ihrem Bundesland viel vor.
Frau Ministerin Nonnemacher, die Notwendigkeit einer Reform des Kliniksektors gilt als unstrittig. Wie bewerten Sie die ersten Ansätze und den von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach eingeschlagenen Reformweg?
Ursula Nonnemacher: Die Regierungskommission hat einen interessanten Aufschlag gemacht. Positiv finde ich den Ansatz, aus dem übersteigerten ökonomischen Druck herauszukommen und die Fallpauschalen zurückzudrängen, die zu starken Fehlanreizen geführt haben. Auch sollten mehr Vorhaltekosten berücksichtigt werden. Produktiv empfand ich die Unterredung von Bund und Ländern zu Jahresanfang. Professor Lauterbach hat uns zugesichert, dass die Länder bei der Reform mit am Tisch sitzen, gemeinsam die Eckpunkte verhandelt werden und nichts bereits in Stein gemeißelt ist. Außerdem soll es Länder-Öffnungsklauseln geben.
Was muss für Sie am Ende auf jeden Fall stehen?
Nonnemacher: Für uns ist wichtig, dass die kleineren Krankenhäuser im ländlichen Raum abgesichert sind. Die ostdeutschen Länder haben in den 90er-Jahren nach der Wiedervereinigung bereits einen erheblichen Bereinigungsprozess hinter sich gebracht. In Brandenburg ist die Zahl von 73 Krankenhäusern auf jetzt 54 Kliniken an 66 Standorten heruntergegangen. Brandenburg kann nicht der Kollateralschaden für die überfällige Strukturbereinigung in verdichteten Metropolregionen werden. Für uns mit einer sehr dünnen Besiedlung in vielen Regionen stellen die Krankenhäuser einen Anker der medizinischen Versorgung dar. Denn bei der Haus- und Facharztdichte liegen wir in Deutschland im unteren Level. Da haben die Kliniken eine besondere Funktion. Wir haben als Landesregierung entsprechend ein Bekenntnis zu unseren Standorten abgegeben.
Das heißt aber vermutlich nicht, dass jeder Standort so bleiben wird, wie er ist …
Nonnemacher: Es ist völlig klar, dass Veränderungen und Anpassungen stattfinden müssen. Wir sind schon seit Jahren dabei, kleine Einrichtungen zum Beispiel in ambulant-stationäre Zentren umzuwandeln. Das Flaggschiff Templin hat ja deutschlandweit viel Beachtung erfahren. Es darf aber keinen Kahlschlag in der Krankenhausversorgung geben, denn die Menschen müssen schon jetzt zum Teil lange Wege zurücklegen.
Wie wichtig ist Ihnen, dass die traditionelle Trennung zwischen ambulant und stationär überwunden wird?
Nonnemacher: Die seit vielen Jahren beschworene sektorübergreifende Versorgung erachte ich als dringend notwendig. Krankenhäuser müssen zu mehr ambulanten Leistungen ermächtigt werden. Ich wünsche mir zudem, dass Kommunen leichter Medizinische Versorgungszentren betreiben können. Die Richtung sollte insgesamt hin zu einer gemeinsamen sektor-übergreifenden Versorgungsplanung gehen.
Ist die Zusammenarbeit mit dem Bund gut genug oder würden Sie sich wünschen, dass die Länder insgesamt mehr gehört werden?
Nonnemacher: Bei der Zusammenarbeit mit dem Bund sehe ich durchaus Luft nach oben. Die Länder werden nicht so stark einbezogen, wie wir uns das wünschen würden. Der Austausch hat sich im Vergleich zur vergangenen Legislaturperiode sogar eher verschlechtert. Während der Corona-Pandemie hatten wir einen extrem engen Kontakt. Natürlich haben wir jetzt eine andere Situation. Dennoch: Als Gesundheitsministerkonferenz fühlen wir uns nicht ausreichend gehört.
Ein großes Projekt soll in diesem Jahr auch die Pflegereform werden. Das Finanzdefizit ist groß und die Eigenanteile steigen. Was ist zu tun?
Nonnemacher: Die ständig steigenden Kosten für die Pflege überfordern viele Betroffene – gerade bei dem Rentenniveau, das wir in Brandenburg haben. Es darf nicht sein, dass der Betrag der Pflegeversicherung gedeckelt ist und alles, was on top kommt, von den Pflegebedürftigen beziehungsweise den Angehörigen allein bezahlt werden muss. Wir brauchen hier einen Sockel-Spitze-Tausch, bei dem die Belastungen für die Betroffenen gedeckelt sind. Immer mehr von ihnen rutschen sonst in die Grundsicherung, also die Hilfe zur Pflege, ab.
Das strukturelle Defizit sehe ich mit großer Sorge.
In Brandenburg gibt es einen „Pakt für Pflege“. Was kann der Bund aus diesem Projekt lernen?
Nonnemacher: Das Kernstück unseres Pakts nennt sich „Pflege vor Ort“. Wir geben unseren Kreisen und kreisfreien Städten sowie jeder kreisangehörigen Kommune oder jeder Verbandsgemeinde ein jährliches Budget an die Hand, mit dem niedrigschwellige Angebote im Sozialraum gefördert werden können. Dazu gehören alltagsunterstützende Maßnahmen, die Etablierung von Pflegestammtischen und Projekte zur sozialen Teilhabe pflegebedürftiger Menschen, wie etwa gemeinsames Kochen oder Kulturangebote. Bei uns werden mehr als 85 Prozent der Pflegebedürftigen ambulant versorgt. Diesen Anteil wollen wir noch steigern. Denn die Menschen wollen nicht die letzte Phase ihres Lebens in einem Heim verbringen. Im Rahmen einer großen Pflegereform wünsche ich mir, dass es bundesweit solche Budgets für die Kommunen gibt. Für die Neuerungen muss Geld aus dem Bundeshaushalt fließen. Bei den Versicherten noch weiter draufzusatteln, wäre der falsche Weg.
Auch die gesetzliche Krankenversicherung steht unter finanziellem Druck. Was sind Ihre Erwartungen an die von der Bundesregierung angekündigte GKV-Reform?
Nonnemacher: Das strukturelle Defizit sehe ich mit großer Sorge. Mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz hat es unlängst wieder zweifelhafte Eingriffe in die Rücklagen der Krankenkassen gegeben. Ich glaube, bei Kassen, Beitragszahlern, aber auch bei der Pharmaindustrie ist jetzt nichts mehr zu holen. Ich bleibe Anhängerin einer Bürgerversicherung. Durch diese könnten die Belastungen auf alle Einkommen verteilt werden. Wenn die Gutverdiener mit in die gesetzliche Krankenversicherung integriert würden, ließen sich Beitragssteigerungen verhindern.
Bei der Bürgerversicherung ist aber wieder mal der Zug abgefahren. Sie müssen da sehr enttäuscht sein von Ihren im Bund mitregierenden Grünen, aber auch von der SPD ...
Nonnemacher: Dreierkoalitionen sind schwierig und stoßen leider an Grenzen. Ja, es wird auf absehbare Zeit keine Bürgerversicherung geben, das gibt der Koalitionsvertrag der Ampel nicht her. Man darf diese Idee aber nicht aus den Augen verlieren.
Sollte mehr Steuergeld ins GKV-System kommen?
Nonnemacher: Ja. Ich halte etwa die Forderung nach der vollen Ausfinanzierung der Krankenkassenbeiträge für Arbeitslosengeld-II-Empfänger für richtig. Das brächte zehn Milliarden Euro.
Muss der Leistungskatalog der GKV auf den Prüfstand?
Nonnemacher: Wir müssen uns sehr kritisch immer wieder fragen, welche Dinge evidenzbasiert sinnvoll sind und ob sie die Versorgung der Menschen verbessern. Im Krankenhaussektor bedeutet das: Wo stehen wir im europäischen Vergleich – mit der höchsten Zahl an Klinikbehandlungstagen, mit der höchsten Zahl an Gelenkersatz, mit der höchsten Zahl an Herzkatheter-Untersuchungen? Schafft immer mehr Menge eine bessere Gesundheit? Ich glaube nicht.
Die Versorgung mit Haus- und Fachärzten ist in dünn besiedelten ländlichen Regionen ein Problem.
In den vergangenen Monaten gab es Lieferengpässe etwa bei Kinderarzneien und Antibiotika, aber auch bei Krebsmitteln. Wie sollte gegengesteuert werden?
Nonnemacher: Es handelt sich um ein Problem, das über Jahrzehnte entstanden ist, wodurch die Abhilfe nicht ganz banal ist. Mit deutscher Gründlichkeit wurde es hier mit der Ökonomisierung übertrieben. Viele kleinere Hersteller sind ausgestiegen. Wir sind nun abhängig von den billigsten Produzenten, die meistens aus China oder Indien stammen. Die geltende Aussetzung der Festbeträge für Kinderarzneimittel ist kurzfristig richtig. In den Plänen von Minister Lauterbach sind vernünftige Vorschläge enthalten – etwa die Vorgabe, bei Rabattverträgen stets einen Hersteller aus dem EU-Sektor mitzuberücksichtigen. Der Weg kann am Ende nur sein, Abhängigkeiten zu reduzieren. Die Herstellung in der EU muss wieder an Bedeutung gewinnen. Allerdings gibt es nichts ohne Nebenwirkungen. Wenn wir partiell in der EU produzieren, wird das nicht zu den gleichen Preisen zu realisieren sein wie in Indien.
Wichtig ist auch die Sicherstellung der flächendeckenden medizinischen Versorgung, was gerade im ländlich geprägten Brandenburg schwierig sein dürfte. Wie groß ist das Problem und welche Konzepte haben Sie?
Nonnemacher: Die Versorgung mit Haus- und Fachärzten ist in dünn besiedelten ländlichen Regionen ein Problem. Dagegen lässt sich nicht so einfach mit einem Fingerschnipsen der Stein des Weisen finden. Wir haben in Brandenburg seit 2019 ein kostenintensives Landärzte-/Landärztinnen-Programm. Dort werden Vollstipendien von 1.000 Euro im Monat an Studierende über längstens 75 Monate vergeben, die sich verpflichten, später mindestens fünf Jahre in ländlichen Regionen zu arbeiten. Das Programm ist bisher erfolgreich, aber wir müssen es natürlich weiter evaluieren. Es gibt in unserem Bundesland seit 2015 darüber hinaus eine private medizinische Hochschule, die MHB. Sie wurde gegründet zur Verbesserung der Versorgung auch mit Absolventen im ländlichen Bereich. Hier werden Stipendien von Kliniken vergeben, die sich so Absolventen sichern. Die seit 2021 fertig ausgebildeten jungen Ärztinnen und Ärzte bleiben zu einem erfreulich hohen Anteil in Brandenburg. Wir haben die Absicht, in Cottbus eine staatliche Medizinerausbildung auf den Weg zu bringen. Wenn alles gut läuft und die Akkreditierung durch den Wissenschaftsrat gelingt, dann könnte eine solche Fakultät 2024 gegründet werden und es könnten 2026 die ersten Studierenden dort ihr Studium beginnen.
Aber die Ausbildungsförderung ist nur ein Faktor gegen den Ärztemangel ...
Nonnemacher: Richtig. Es gilt natürlich auch, die Attraktivität unserer Kommunen zu steigern. Wir müssen ganz gezielt damit werben, dass es in Brandenburg mit seinen tollen kleinen Städten und seiner wunderbaren Natur schön ist, um hier als Ärztin oder Arzt zu leben. Wir verfolgen zudem den Ansatz, dass Kommunen Medizinische Versorgungszentren gründen können und dass sie jungen Ärzten und Ärztinnen zum Beispiel dabei helfen, für die Partnerin oder den Partner einen Arbeitsplatz zu finden. Sie sollen auch bei der Praxisakquise unterstützt werden. Da ist unsere Kassenärztliche Vereinigung sehr aktiv.
Bundesminister Lauterbach möchte bundesweit 1.000 Gesundheitskioske schaffen, um sozial benachteiligten Gruppen einen besseren Zugang zur medizinischen Versorgung zu ermöglichen. Was halten Sie davon?
Nonnemacher: Den Ansatz, durch sehr niedrigschwellige Angebote gerade Bevölkerungsgruppen mit sehr geringen Ressourcen zu erreichen, finde ich gut. Aber das scheint mir doch eher ein Modell für Ballungsräume zu sein. Ich bezweifle, dass Herr Lauterbach am Ende die 1.000 Gesundheitskioske auf den Weg bringen wird. In Brandenburg haben wir noch keine entsprechenden Modelle eingerichtet. Die Ärzteschaft bei uns steht dem auch sehr kritisch gegenüber. Wie gesagt: Brandenburg ist sehr ländlich geprägt und wir haben da andere Probleme.