Thema des Monats

Was ist uns die Pflege wert?

Eine solidarische und verlässlich finanzierte Pflegeversicherung stabilisiert die Gesellschaft – gerade auch in Krisenzeiten, betonen Martina Sitte, Dr. Antje Schwinger und Kathrin Hayn. Sie zeigen auf, worauf das aktuelle Milliarden-Defizit der Pflegekassen beruht, was jetzt und langfristig dagegen zu tun ist und welche Pläne das Gesundheitsministerium hat.

Die soziale Pflegeversicherung (SPV) befindet sich seit längerem in finanzieller Schieflage. Im zweiten Jahr in Folge liegen ihre Ausgaben höher als die Einnahmen: Auf 2,3 Milliarden Euro beläuft sich das Defizit im Jahr 2022. Ohne weitere Gegenmaßnahmen sind auch für die Folgejahre Defizite in ähnlicher Größenordnung prognostiziert. Das Gesundheits- und das Finanzministerium ringen seit langem um die Finanzierung der SPV. Ende Februar hat das Gesundheitsministerium den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Unterstützung und Entlastung in der Pflege (Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz, PUEG) zur Verbändebeteiligung und zur Abstimmung zwischen den Ministerien vorgelegt. Anders als im Koalitionsvertrag vereinbart, sind in diesem Entwurf aber keine Beteiligungen des Bundes zur Stabilisierung der Finanzierung der Pflegeversicherung vorgesehen. Das bedeutet: Die kurzfristige Stabilität der SPV muss nun vollständig von den Beitragszahlenden sichergestellt werden. Damit tragen sie auch die von den Pflegekassen finanzierten gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, für die eigentlich der Bund zuständig ist (beispielsweise die Pandemiekostenerstattung).

Finanzreform war lange überfällig.

Da schon die Vorgängerregierung keine grundlegende Finanzreform realisiert hat, befand sich die Pflegeversicherung seit 2021 mehrfach am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Worauf ist das zurückzuführen? Anders als in der Krankenversicherung legt für die Pflege allein der Gesetzgeber den Beitragssatz fest – für alle Pflegekassen gleich. Einnahmenüberschüsse einzelner Pflegekassen werden über den Ausgleichsfonds dazu verwendet, Ausgabenüberschüsse anderer Kassen auszugleichen. Darüber hinaus sind die Pflegekassen gesetzlich angehalten, einen bestimmten Anteil ihrer Ausgaben als Betriebsmittel und Rücklagen vorzuhalten.
 
Um die Liquidität des SPV-Ausgleichsfonds zu sichern, musste der Gesetzgeber in den letzten Jahren mehrfach kurzfristig eingreifen. Zuerst hat er die Betriebsmittel- und Rücklagenquote der Pflegekassen seit 2021 schrittweise von 1,5 auf 1,2 Monatsausgaben abgesenkt und die Einzahlung des regulären Bundeszuschusses ins erste Halbjahr vorgezogen. Im selben Jahr hat der Gesetzgeber dann mit Paragraf 153 Sozialgesetzbuch (SGB) XI bei Finanzengpässen einen Ausgleich von Corona-Lasten „in erforderlicher Höhe“ eingeführt.

Die Lohnkosten bestimmen die Pflege-Preise maßgeblich.

Hinzu kam im Rahmen des Haushaltsbegleitgesetzes 2022 ein zinsloses Darlehen in Höhe von einer Milliarde Euro. Zusätzlich wurden die monatlichen Zuführungen in den Pflegevorsorgefonds – 0,1 Prozent aller Beitragseinnahmen fließen hier ein – auf eine Einmalzahlung am Jahresende umgestellt. Als dem Ausgleichsfonds zum Jahreswechsel 2022/2023 wieder die Liquidität ausging, übertrug der Gesetzgeber 1,5 Milliarden Euro aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds zum Ausgleich steigender Energiekosten in stationären Pflegeeinrichtungen. Tragfähige Lösungsansätze für eine solide Finanzierung der Pflege sehen anders aus.

Pandemiekosten verursachen Milliardendefizit.

Für das Finanzdefizit lassen sich drei wesentliche Ursachen benennen. Zum einen hat der Gesetzgeber bisher nicht alle pandemiebedingten Aufwände über Steuermittel refinanziert. Sie ergaben sich aus der Erstattung von Aufwendungen für Schutzmasken und für Tests. Pflegeheime und -dienste waren verpflichtet, ihre in der Pflege und Betreuung tätigen Angestellten und Angehörige vor einem Besuch auf Corona zu testen. Darüber hinaus zahlten die Pflegekassen im Rahmen des sogenannten Rettungsschirms (Paragraf 150 SGB XI) Erstattungen für aufgrund der Pandemie nicht genutzte Angebotsstrukturen insbesondere in der Tages- und auch vollstationären Pflege an die Leistungserbringer. Auch die Pflegeboni (Paragraf 150a SGB XI) und Corona-Prämien (Paragraf 150c SGB XI), die das Pflegepersonal als Anerkennung für die in der Pandemie geleistete Arbeit erhielten, haben die Pflegekassen bezahlt. Insgesamt beliefen sich die Ausgaben der SPV für die pandemiebedingten Aufwände in den Jahren 2020 bis 2022 auf 12,5 Milliarden Euro. Zur Gegenfinanzierung sind bisher lediglich 5,5 Milliarden Euro Steuermittel und 1,5 Milliarden Ausgleichszahlungen von privater Pflegepflichtversicherung (PPV) und gesetzlicher Krankenversicherung (GKV) geflossen. Damit verbleibt für die SPV ein Fehlbetrag in Höhe von 5,5 Milliarden Euro.

Bessere Bezahlung lässt Preise steigen.

Als zweiter wesentlicher Grund für die Defizite kommt hinzu, dass die „kleine Pflegereform“ im Rahmen des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) von 2021 nicht ausreichend finanziert ist. Zum Hintergrund: Der Gesetzgeber hat in der vergangenen Legislaturperiode zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege eine Reihe an Maßnahmen ergriffen. Dazu gehören ein Plan zur verbindlichen Einführung eines Personalbemessungsverfahrens in der vollstationären Pflege (Paragraf 113c SGB XI) und eine Reform der Entlohnung in der Langzeitpflege. Doch die Umsetzung über die Ausweitung von Tarifverträgen auf alle Beschäftigten in der Pflege scheiterte. Daraufhin beschloss die Koalition aus CDU/CSU und SPD im laufenden Gesetzgebungsprozess des GVWG eine „kleine Pflegereform“. Seit dem 1. September 2022 dürfen die Pflegekassen Versorgungsverträge mit Pflegeeinrichtungen nur noch schließen, wenn den in der Pflege und Betreuung tätigen Mitarbeitenden eine Entlohnung nach Tarif oder kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen bezahlt wird beziehungsweise eine solche durch „Tarifanlehnung“ oder Anwendung des regional üblichen Entgeltniveaus nicht unterschritten wird (Paragraf 72 Abs. 3c SGB XI). Weil die SPV als Teilleistungssystem konzipiert ist und Pflegebedürftigen feste Leistungssätze je Pflegegrad gewährt werden, steigen mit höheren Löhnen auch die Heimpreise und die Eigenanteile der Bewohnerinnen und Bewohner.

Entlastung wirkt nur kurz.

Parallel zu dieser Tariftreue-Regelung hat die Große Koalition mit dem GVWG eine prozentuale Begrenzung der Eigenanteile in der vollstationären Pflege eingeführt. Gestaffelt nach der Wohndauer reduzieren sich dadurch die Eigenanteile: Seit dem 1. Januar 2022 trägt die Pflegeversicherung im ersten Jahr fünf Prozent, im zweiten Jahr 25 Prozent, im dritten Jahr 45 Prozent und ab dem vierten Jahr 70 Prozent der unmittelbaren Pflegekosten, die nicht über die Pflegesätze abgedeckt sind (Paragraf 43c SGB XI). Die Kosten der Zuschläge beliefen sich im Jahr 2022 auf 3,6 Milliarden Euro. Sie entlasten die Pflegebedürftigen und die kommunalen Haushalte, belasten allerdings im Gegenzug die Beitragszahlenden der SPV.

Grafik: Immer mehr Menschen haben Anspruch auf Pflegeleistungen: Darstellung des Anteils der Pflegebedürftigen an den gesetzlich Versicherten in Prozent in einem Liniendiagramm (2012-2021)

Der Anteil der pflegebedürftigen Menschen an den gesetzlich Versicherten steigt seit Jahren an. So hatten Ende 2021 6,3 Prozent der Versicherten einen von fünf Pflegegraden erhalten. Im Jahr 2012 lag dieser Anteil noch bei 3,5 Prozent. Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Jahr 2017 bewirkte eine deutliche Steigerung des Anteils der Menschen mit einem Pflegegrad. Die standardisierten Werte zeigen den Anteil pflegebedürftiger Menschen bereinigt um den Alterungsprozess der Bevölkerung.

Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK, amtliche Statistik PG 2, amtliche Statistik KM 6

Der Gesundheitsminister der Vorgängerregierung, Jens Spahn, hat die Reform jedoch nicht ausreichend finanziert: Er führte einen jährlichen Bundeszuschuss in Höhe von einer Milliarde Euro ein und hob den Beitragszuschlag für kinderlose Versicherte um 0,1 Prozentpunkte an, was 0,4 Milliarden Euro entspricht. Faktisch kostete die Reform bereits im Einführungsjahr rund 2,2 Milliarden mehr. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass laut aktueller Studien von Professor Heinz Rothgang, Universität Bremen, die Begrenzung nach Wohndauer die Sozialhilfeträger kurzfristig um knappe 1,3 Milliarden Euro entlastet hat. Bereits 2023 haben die Kommunen ihre Ausgaben von 2019 allerdings fast wieder erreicht. Bis 2026 übersteigen laut Studie die Ausgaben den Vergleichswert von vorher bereits um rund eine Milliarde Euro.

Pflegebedürftigkeit hat zugenommen.

Der dritte wesentliche Grund für die finanzielle Schieflage in der Pflegeversicherung besteht in der Zunahme der Pflegebedürftigkeit. Die Wahrscheinlichkeit, Leistungen der SPV zu erhalten, steigt seit langem deutlich stärker, als demografisch zu erwarten wäre (siehe Abbildung „Immer mehr Menschen haben Anspruch auf Pflegeleistungen“). Ende 2021 waren 6,3 Prozent der gesetzlich Versicherten pflegebedürftig im Sinne des SGB XI. Im Jahr 2012 lag dieser Anteil noch bei 3,5 Prozent. Das entspricht einem Anstieg um rund 80 Prozent in den vergangenen zehn Jahren. Absolut stieg die Zahl der im Sinne der SPV pflegebedürftigen Menschen damit von 2,5 Millionen im Jahr 2012 auf 4,6 Millionen im Jahr 2021.
 
Die Zunahme der Pflegebedürftigkeit resultiert aus der im breiten politischen Konsens entwickelten und gesetzlich normierten Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Jahr 2017. Insbesondere die Zahl der Menschen mit dem neu geschaffenen, niedrigschwellig erreichbaren Pflegegrad 1 ist seither stark gestiegen. 2021 hatte eine Million pflegebedürftige Menschen Anspruch auf Pflegegrad 1. Aber auch ohne diese Effekte steigt die Pflegeprävalenz jährlich um rund vier Prozent – innerhalb der letzten zehn Jahre um insgesamt 40 Prozent.
 
Die Gründe hierfür sind kaum untersucht. Welchen Anteil epidemiologische Veränderungen (beispielsweise die Zunahmen von Demenzen) an der Entwicklung tragen, ist ebenso wenig bezifferbar wie die Effekte einer besseren Verfügbarkeit und Bekanntheit der Angebote an Pflegeleistungen. Auch sozioökonomische Faktoren (beispielsweise die Zunahme von Single-Haushalten oder die Abhängigkeit von Transferleistungen der SPV im Falle sinkender Haushaltseinkommen) sowie gesellschaftlich-normative Aspekte (beispielsweise weniger Stigmatisierung bei Pflegebedürftigkeit) könnten eine Rolle spielen.
 
In der Summe führen die Effekte seit 2012 zu deutlichen Ausgabensteigerungen. Bereinigt um die Ausgaben zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben sie sich von 2012 bis 2022 von rund 23 Milliarden Euro auf 49 Milliarden Euro mehr als verdoppelt.

Solidarisch finanzierter Leistungsanteil sinkt.

Zwei weitere Problemfelder haben sich in den letzten Jahren verschärft. Dies betrifft erstens die Frage nach dem Verhältnis von solidarischer Absicherung und Eigenverantwortung. Anders als die gesetzliche Krankenversicherung ist die Pflegeversicherung ein Teilleistungssystem: Pflegeleistungen werden seit jeher nur bis zu einem gesetzlich fixierten Betrag gewährt. Die Leistungssätze hätten zumindest seit 2008 regelhaft alle drei Jahre mit Bezug zur allgemeinen Preisentwicklung angehoben (dynamisiert) werden sollen, um Kaufkraftverluste zu vermeiden. Dieser Inflationsausgleich hat jedoch 2017 im Zuge der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zum letzten Mal stattgefunden. Eine Ausnahme bilden die ambulanten Sachleistungen, die 2022 um fünf Prozent angehoben wurden.
 
Zudem bestimmen die Lohnkosten maßgeblich die Preise für Pflegeleistungen. Die allgemeine Preisentwicklung ist deshalb ein ungeeigneter Parameter, einen Kaufkraftverlust in der Pflege abzubilden. Dies zeigt sich besonders mit der Einführung der Tariftreue-Regelung, die die Attraktivität des Pflegeberufs erhöhen soll. Durch diese gesamtgesellschaftlich gewollte Entscheidung steigen aktuell die Preise der Pflegeleistungen im ambulanten und stationären Setting. Die Leistungssätze der SPV sind jedoch bisher nicht erhöht worden. Wenn nicht gegengesteuert wird, verschiebt sich damit die Lastenverteilung immer weiter: Der solidarisch getragene Anteil der Gesamtaufwendungen für die Pflege sinkt, der privat (eigenverantwortlich) finanzierte Anteil steigt.

Eigenleistungen sind gestiegen.

In der stationären Pflege lässt sich dies gut an der Entwicklung der sogenannten Einrichtungseinheitlichen Eigenanteile (EEE) ablesen (siehe Abbildung „Pflegebedingte Eigenanteile von Heimbewohnenden steigen trotz Entlastung“). Sie sind von 623 Euro im Jahr 2017 auf 990 Euro im Jahr 2021 gestiegen. 2022 führte der Gesetzgeber eine Begrenzung der EEE nach Wohndauer ein. Dadurch sanken die durchschnittlichen Eigenanteile auf aktuell 743 Euro. Wenn die Löhne in der Pflege und Betreuung durch einen Inflationsausgleich und durch den anhaltenden beziehungsweise sich tendenziell verschärfenden Personalmangel weiterhin überproportional steigen, kann die Entlastung bei den Eigenanteilen schnell aufgezehrt sein.

Grafik: Pflegebedingte Eigenanteile von Heimbewohnenden steigen trotz Entlastung mit Säulendiagrammen, die die Entwicklung von 2017 bis 2026 darstellen.

Im Jahr 2022 hat die Pflegeversicherung Heimbewohnende zunächst entlastet: So sank der durchschnittliche pflegebedingte Eigenanteil von 990 Euro auf 713 Euro. Doch vor allem die Umsetzung der Regelungen zur tariflichen Entlohnung lässt die Eigenanteile wieder steigen. Ohne Umsetzung des Referentenentwurfs zum PUEG haben Heimbewohnende im Jahr 2026 durchschnittlich wieder 990 Euro Eigenanteile zu tragen. Auch bei Umsetzung des PUEG mit Dynamisierung im Jahr 2025 liegen die durchschnittlichen Eigenanteile im Jahr 2026 bei 843 Euro – also deutlich höher als im Jahr 2023.

Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK

Aber auch in der ambulanten Pflege führt die bessere Entlohnung der Pflege- und Betreuungskräfte dazu, dass Pflegebedürftige einen wachsenden Anteil der Leistungen durch eigene Zuzahlungen oder Angehörigenpflege sicherstellen müssen. Vier von fünf Pflegebedürftigen leben im eigenen Haus oder der eigenen Wohnung und nicht im Pflegeheim. Nach Ergebnissen von Befragungen lag bereits vor Einführung der Tariftreue die informell erbrachte Pflege durch die Hauptpflegeperson bei rund sechs Stunden pro Tag, der privat getragene finanzielle Aufwand bei rund 200 Euro pro Monat. Der politische Druck auf die Bundesregierung, sich der Frage nach der Lastenverteilung anzunehmen, ist also weiterhin hoch.

Versorgung sicherstellen.

Als weitere große Aufgabe ist die auch im Koalitionsvertrag benannte Sicherstellung der Versorgung hervorzuheben. Schon heute lässt sich nicht mehr ausreichend Personal für die Pflege und Betreuung gewinnen. Zu Recht hat die Ampel-Regierung in ihrem Koalitionsvertrag die Stärkung der Rolle der Kommunen bei der Planung der regionalen pflegerischen Versorgung, die Förderung quartiernaher Wohnformen, den Ausbau von Tagespflege und solitärer Kurzzeitpflege sowie die Schaffung eines Entlastungsbudgets (aus Kurzzeit- und Verhinderungspflege) zur Unterstützung der pflegenden Angehörigen vereinbart. Auch die angekündigte Lohnersatzleistung im Falle pflegebedingter Auszeiten sowie generell mehr Zeitsouveränität bei Übernahme von Pflege weisen in die richtige Richtung.
 
Die Sicherstellung der Pflege in den nächsten Jahrzehnten ist angesichts des Fachkräftemangels eine große Herausforderung. Dieser Kraftakt wird finanziert werden müssen, auch in einer schwierigen sicherheits- und energiepolitischen Lage und vor dem Hintergrund der Folgen der Corona-Pandemie.

Koalitionsvertrag sieht eine breite finanzielle Stärkung vor.

Bereits im Koalitionsvertrag 2021 hatten sich SPD, Grüne und FDP auf die finanzielle Stärkung der sozialen Pflegeversicherung verständigt. Im Wesentlichen durch zwei Stellschrauben: durch weitere Steuermittel – insbesondere für gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie Ausbildung, Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige und pandemiebedingte Zusatzkosten – sowie die „moderate“ Anhebung des Beitragssatzes. Damit hat sie gezeigt, dass sie die finanzielle Sicherung der SPV als eine bundespolitische Aufgabe versteht und gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die bislang von der SPV und damit von den Beitragszahlenden getragen werden, aus Bundesmitteln refinanzieren will. Das Gesundheitsministerium fordert hierfür bereits seit Herbst 2022 zusätzliche Mittel für die SPV aus dem Bundeshaushalt ein.

Die Finanzierung ist weiterhin nicht nachhaltig gesichert.

Finanzminister Christian Lindner lehnt dies insbesondere mit Verweis auf die Einhaltung der Schuldenbremse ab und hat sich nun anscheinend durchgesetzt. Mit dem im Februar vorgelegten Referentenentwurf versucht Gesundheitsminister Karl Lauterbach zu zeigen, wie es ohne zusätzliche Steuermittel gehen könnte. Zentrale Versprechen aus dem Koalitionsvertrag werden damit nicht eingelöst. Der Bund übernimmt weder die Rentenversicherungsbeiträge für pflegende Angehörige mit einem jährlichen Volumen von rund 3,7 Milliarden Euro noch die ausstehenden pandemiebedingten Aufwände von einmalig 5,5 Milliarden Euro.

Referentenentwurf setzt allein auf Beitragserhöhung.

Damit muss das strukturelle Defizit allein durch Beitragsgelder der Versicherten und der Arbeitgeber finanziert werden. Auch die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils zur Berücksichtigung von Erziehungszeiten erfolgt nicht im Steuerrecht, sondern zulasten der Beitragszahlenden. Nach dem Referentenentwurf soll der Beitragszuschlag für kinderlose Versicherte um 0,25 Prozentpunkte angehoben werden und Versicherte mit zwei bis fünf Kindern sollen je Kind um 0,15 Prozentpunkte lebenslang entlastet werden. Laut Gesundheitsministerium sei diese Staffelung für die SPV „finanzneutral“. Da den Beteiligten die genaue Anzahl der zu berücksichtigenden Kinder aber derzeit nicht bekannt ist, kann auch die finanzielle Wirkung schwer geschätzt werden. Zur Umsetzung dieses Beschlusses dürfen – so eine zentrale Forderung der AOK-Gemeinschaft – nicht allein die Beitragszahler in der SPV zur Kasse gebeten werden. Denn die Entlastung von Familien mit Kindern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und deshalb über Steuermittel auszugleichen.

Dynamisierung vorgesehen – Effekt verpufft.

Die angekündigte Reform enthält darüber hinaus einige im Koalitionsvertrag vereinbarte Leistungsverbesserungen. Die ambulanten Sachleistungen und das Pflegegeld sollen ab 1. Januar 2024 um fünf Prozent erhöht werden. Zusätzlich werden dann alle Leistungen ab 1. Januar 2025 nochmals um fünf Prozent dynamisiert. Um auf die stetig steigenden Heimkosten zu reagieren, sollen ferner die Leistungszuschüsse zur Begrenzung der Eigenanteile ab 2024 steigen. Die Eigenanteile würden damit 2024 ungefähr wieder auf dem Niveau von 2022 liegen – letztlich wird der Kaufkraftverlust aber nur kurzfristig kompensiert (siehe Abbildung „Pflegebedingte Eigenanteile von Heimbewohnenden steigen trotz Entlastung“).

Referentenentwurf begegnet den Herausforderungen nicht.

Da nun die gesamte Reform über Beitragserhöhungen finanziert werden muss, soll der Beitragssatz ab 1. Juli 2023 auf 3,4 Prozent steigen. Für kinderlose Versicherte erhöht sich der Beitragssatz aufgrund der gleichzeitigen Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils auf vier Prozent – ein Anstieg um 0,6 Beitragssatzprozentpunkte. Das ist nicht als „moderat“ zu bezeichnen. Gleichzeitig scheint selbst das Gesundheitsministerium nicht sicher, dass diese Erhöhung die finanziellen Probleme mittelfristig lösen wird: Für kurzfristige Liquiditätsbedarfe hat es im Entwurf des PUEG eine Rechtsverordnungsermächtigung vorgesehen, um schneller – und am Parlament vorbei – mit weiteren Beitragserhöhungen reagieren zu können. Zudem plant das Gesundheitsministerium, die Einzahlung in den Pflegevorsorgefonds von 2023 auf 2024 zu verschieben. Damit müssten dann im Jahr 2024 3,4 Milliarden Euro zur Verfügung stehen, um den Vorsorgefonds bedienen zu können. Und schließlich soll die Rückzahlung des Darlehens für die SPV in Höhe von einer Milliarde Euro ins Jahr 2028 verschoben werden – ein Schuldenerlass war mit Minister Lindner wohl nicht möglich. Ebenso fehlen im Gesetzentwurf Regelungen zur Auffüllung der Rücklagen der Pflegekassen auf das gesetzlich vorgesehene Soll.

In der Gesamtschau wird die Finanzierung der SPV durch die starke Beitragserhöhung insbesondere für kinderlose Versicherte und die geringe Entlastung der Mehrkind-Familien bis zum Ende der Legislaturperiode kaum zu sichern sein; gegebenenfalls muss bereits im Jahr 2025 auch die vorgesehene Verordnungsermächtigung zur Beitragserhöhung angewandt werden. Den mittelfristigen Herausforderungen in der Finanzierung begegnet der Gesetzesentwurf nicht.

Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit.

Finanzminister Lindner versucht mit seiner Weigerung, die SPV durch Steuermittel für die von ihr getragenen gesamtgesellschaftlichen Leistungen zu entlasten, die Quadratur des Kreises. Wenn er eine restriktive Fiskalpolitik betreibt und auf der Schuldenbremse besteht, wird er den Anstieg der Lohnnebenkosten nicht verhindern können. Gleichzeitig will er für die Kapitalanlage in der gesetzlichen Rente jährlich rund zehn Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung stellen.
 
Kassenverbände, Sozialverbände und freie Wohlfahrtspflege und Gewerkschaften haben die Bundesregierung aufgefordert, die Finanzierung der SPV durch Bundesmittel zu stabilisieren, damit die notwendige Sicherung der Liquidität nicht ausschließlich zulasten der Beitragszahlenden geht. Gesundheitspolitikerinnen und -politiker von SPD und Grünen argumentieren ähnlich und verweisen auf den Koalitionsvertrag, der eine gute und nachhaltige Finanzierung vorsieht.

Eine solidarische und verlässlich finanzierte Pflegeversicherung leistet einen bedeutenden Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit. Sie ist ein wichtiger Stabilitätsanker in unserer Gesellschaft – gerade auch in Krisenzeiten. Das darf nicht leichtfertig auf Spiel gesetzt werden. Es bleibt abzuwarten, wie sich das weitere parlamentarische Gesetzgebungsverfahren gestalten wird. Eine Reform, die allein zulasten der Beitragszahlenden geht, wird weiterhin der Kritik ausgesetzt sein.

Martina Sitte ist Referentin in der Abteilung Politik des AOK-Bundesverbandes.
Antje Schwinger leitet den Forschungsbereich Pflege im Wissenschaftlichen Institut der AOK.
Kathrin Hayn leitet den Geschäftsbereich Finanzen im AOK-Bundesverband.
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