„GKV hat Tempo, Pragmatismus und Lernfähigkeit gezeigt“
Corona hat nicht nur die Menschen, sondern auch das Gesundheitssystem in Deutschland auf eine harte Probe gestellt. Was im Umgang mit der Pandemie kritisch zu sehen und worauf künftig zu achten ist, erläutert Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes.
G+G: Herr Litsch, im März legte die Gesellschaft eine Vollbremsung hin. Vier Monate nach Ausbruch der Corona-Pandemie fährt das öffentliche Leben jetzt wieder hoch. In den Rückblicken heißt es nun oft, das deutsche Gesundheitswesen habe sich in der Krise gut geschlagen. Ist so viel Lob berechtigt?
Martin Litsch: Ich finde schon. Ärzte und Pflegekräfte werden unter Fachleuten ja gern mit dem sperrigen Oberbegriff „Leistungserbringer“ belegt. In der Krise zeigte sich, wie berechtigt dieser Titel ist. Darüber hinaus war das schnelle, flexible Zusammenspiel zwischen Politik, Leistungserbringern und Kostenträgern vorbildlich. Das selbstverwaltete System der Gesetzlichen Krankenversicherung, oft gescholten für seine umständlichen, langsamen Prozesse, hat sich nicht nur als krisenfest erwiesen, es hat auch Tempo, Pragmatismus und Lernfähigkeit gezeigt.
Aber der AOK-Bundesverband hat sich zwischenzeitlich auch kritisch zu Wort gemeldet, etwa als es um die Übernahme der Testkosten durch die Krankenkassen oder die pauschale Leerstandsprämie für Krankenhäuser ging.
Litsch: An einigen Stellen musste Kritik sein. Dass etwa die Beitragszahler dauerhaft für Kosten des allgemeinen Infektionsschutzes aufkommen, ist einfach nicht in Ordnung. Das ist der klassische Fall von Verschiebebahnhof. Deshalb müssen wir auch bald über entsprechende Bundeszuschüsse für die GKV reden. Und dass die Leerstandsprämie von 560 Euro nach dem Gießkannen-Prinzip verteilt wurde, mag zu Anfang noch vertretbar gewesen sein. Da brauchte es einen ersten, schnellen Aufschlag. Aber der Forderung nach Differenzierung ist ja jetzt auch entsprochen worden.
Gibt es weitere Beispiele für Mängel der Corona-Gesetzgebung?
Litsch: Natürlich versuchen einige auch, die Krise als Vorwand für die Durchsetzung altbekannter Forderungen zu nutzen. Wir müssen jetzt höllisch aufpassen, dass wichtige Errungenschaften nicht auf Dauer entsorgt werden. So wittern einige Krankenhaus-Funktionäre gerade die Chance, unter der Überschrift „Bürokratielasten“ sinnvolle Qualitäts- und Prüfinstrumente wie die Pflegepersonaluntergrenzen oder Krankenhausabrechnungsprüfung, die man krisenbedingt vorübergehend ausgesetzt oder gelockert hatte, endgültig loszuwerden.
Stichwort GKV-Reserve und Debatte über den Bundeszuschuss, der im Herbst wieder Thema sein soll. Wie sieht die finanzielle Lage der GKV wirklich aus? Und: Rechnen Sie mit einer Einigung über Bundesmittel?
Litsch: Der Einbruch bei den Einnahmen ist unstrittig. Und es gibt neue gesamtgesellschaftliche Aufgaben für die GKV, siehe Testfinanzierung. Die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds ist also mehrfach verplant. Auch da ist man sich mit dem Gesundheitsminister ziemlich einig. Offen sind das Ausmaß und die Dauer der rückläufigen Fallzahlen in Krankenhäusern und Arztpraxen und welche Finanzwirkung das unterm Strich entfaltet. Da tauschen sich die Fachleute fortlaufend aus. Spätestens mit Vorliegen der Finanzkennzahlen zum zweiten Quartal werden wir dann mehr wissen über den tatsächlichen Finanzbedarf. Jedenfalls ist es gut, dass wir dazu mit dem Bundesgesundheitsministerium im Gespräch sind und hoffentlich das gemeinsame Ziel haben, ein Darlehen für die GKV in diesem Jahr zu vermeiden – und die Finanzen auch im kommenden Jahr stabil zu halten.
Lassen sich aus Ihrer Sicht auch positive Lehren aus der Krise ziehen?
Litsch: Da bin ich mir nicht ganz sicher. Die Pandemie hat zu tiefen Verwerfungen auch im Gesundheitssystem geführt. Wir müssen jetzt sehen, was wir wieder zurückdrehen können, ja müssen. Zwar finde ich es sehr positiv, welchen Schub das Thema Digitalisierung auf Ärzteseite bekommen hat. Jahrzehntelang haben sich viele Ärzte geziert, und plötzlich sind Videosprechstunden selbstverständlich und das Fernbehandlungsverbot veraltet. Wir müssen aber aufpassen, dass durch die zunehmende Digitalisierung nicht bestimmte Menschen abgehängt werden.
Welche Menschen meinen Sie genau?
Litsch: Der Gesundheitsamts-Chef von Berlin Reinickendorf hat neulich im Interview die Corona-Warn-App als „Spielzeug der digitalen Oberklasse“ bezeichnet. Sie spiele in der Realität der Abgehängten und schlechter Gestellten praktisch keine Rolle. Und eine aktuelle Studie im Auftrag der AOK Rheinland/Hamburg belegt, dass Bezieher von Arbeitslosengeld II ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko für einen COVID-19-bedingten Krankenhausaufenthalt haben. Wir als Gesundheitskasse haben die App als zusätzliches Instrument bei der Eindämmung der Pandemie grundsätzlich begrüßt, weil sie dabei helfen kann, Infektionsketten zu unterbrechen. Aber die App ist kein Ersatz für Hygiene, Abstand und Masken! Außerdem darf sie nicht zum Beschleuniger sozialer Ungerechtigkeiten werden. Neue Zugangsbarrieren und Klassenunterschiede sind inakzeptabel. Das gilt in Schulen genauso wie im Gesundheitswesen.