Thema des Monats

Kassensturz bei Schwarz-Rot

Arzttermine, Pflegepersonal-Stellen, Digitalisierung, Wahlfreiheit, Wettbewerb – Schlag auf Schlag kommen neue Gesetze und Vorhaben, die die gesundheitspolitische Szene in Atem halten. Ob die Reformen die Gesundheitsversorgung verbessern, ist ungewiss. Eines aber zeichnet sich schon jetzt ab: Auf die Kassen rollt eine riesige Kostenlawine zu. Eine kritische Bestandsaufnahme von Kai Senf

Es ist ein Satz auf der vorletzten Seite des Ko­alitionsvertrags von CDU/CSU und SPD, der Sprengkraft entfalten kann: „Zur Mitte der Legislaturperiode wird eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrags erfolgen, inwieweit dessen Bestimmungen umgesetzt wurden oder aufgrund aktueller Entwicklungen neue Vorhaben vereinbart werden müssen“. Diese Bestandsaufnahme – sie soll Mitte Oktober vorliegen – fällt in eine Zeit, in der die heiße Phase des Rennens um den SPD-Parteivorsitz läuft. Mit der Personalentscheidung wird auch über die Zukunft der Großen Koalition (GroKo) entschieden. Gleichwohl ist kaum vorstellbar, dass die politische Zwischenbilanz von Union und SPD negativ ausfällt und sich einer der Koalitionspartner ein schlechtes Zeugnis ausstellt.

Der Politikchef des AOK-Bundesverbandes, Kai Senf, im Interview:

Unabhängig von der Aussagekraft dieser Nabelschau lohnt ein Blick auf den Umsetzungsstand des Koalitionsvertrags. Rein quantitativ ist die Zwischenbilanz zur Gesundheitspolitik beeindruckend: sieben abgeschlossene Gesetze, 15 bereits existierende oder angekündigte Gesetzentwürfe. Unlängst attestierte eine Studie der Bertelsmann Stiftung, dass 44 Prozent der gesundheitspolitischen Themen aus dem Koalitionsvertrag abgearbeitet oder in Arbeit sind (siehe Webtipp).

Sachwalter des Koalitionsvertrags.

Keinem anderen Gesundheitsminister ist es in ähnlichem Umfang gelungen, Amt und Sachfragen so zu personalisieren und mit den eigenen macht­politischen Ambitionen zu verknüpfen wie Jens Spahn. Als „Blitz-Heiler“ stufte ihn die Süddeutsche Zeitung am 18. August dieses Jahres ein und verwies darauf, dass es erstmals einem Gesundheitsminister gelungen sei, in die Top Ten der beliebtesten Politiker vorzustoßen. Die Zwischenbilanz zur Gesundheitspolitik ist damit zentral eine Leistungsbilanz Spahn. Dabei ist der Minister kein Visionär, der eigene ordnungspolitische Grundüberzeugungen von der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens verfolgt. Er ist ein gesundheitspolitischer Fachmann mit einem ausgespro­chenen Gespür für öffentlichkeitswirksame Themen.

Programmatisch bewegt er sich eng am Koalitionsvertrag, den er im gesundheitspolitischen Teil nicht selbst verhandelt hat. Er arbeitet also in erster Linie die Themen ab, die andere gesetzt haben: die Wiedereinführung der paritätischen Beitragsfinanzierung der Krankenversicherung, mehr Pflegepersonal im Krankenhaus und in der Altenpflege, schnellere Arzttermine, Digitalisierung, Finanzreform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Neustrukturierung der Notfallversorgung, Neuordnung des Arzneimittel-Versandhandels, mehr Arzneimittelsicherheit und die Reform der Medizinischen Dienste. In dieser Hinsicht agiert er als zuverlässiger Sachwalter der Koalitionsvereinbarung.

Der Minister hält sich sein Parlament.

Dabei beherrscht der Minister die perfekte mediale Inszenierung, mit der er die Themen und seine Person vermarktet. Er präsentiert sich als „Tempo­macher“ und „Wegschaffer“, als Minister, der verkrustete Strukturen im Gesundheitswesen aufbricht, Konflikte nicht scheut und deshalb für höhere Aufgaben berufen scheint.

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Minister Spahn zeigt überdies Gespür für Themen, die die Öffentlichkeit aufrütteln wie zum Beispiel die Bereitschaft zur Organspende oder Schutzimpfungen gegen Masern. Diese trägt er dann mutig vor, betont dabei stets die offene Debattenkultur und seine Lust am konstruktiven Dialog um die bestmögliche Lösung. Dabei gibt er eine hohe Taktzahl vor. Wöchentlich kommen aus dem Gesundheitsministerium Themen und Gesetzesvorschläge. Dieses „Dauerfeuerwerk“ ist gut fürs Image, weckt aber auch Zweifel, wie stark sein Interesse an einem qualitativen Meinungsbildungsprozess ist und wie nachhaltig seine Initiativen am Ende wirklich sind.

Gleichzeitig lässt die hohe Schlagzahl die Interessengruppen im Gesundheitswesen nicht zur Ruhe kommen und atomisiert den Widerstand gegen die Ministervorschläge. Hier zeigt sich, dass Spahn auch das politische Handwerk des Teilens und Herrschens versteht. Er treibt die Gesundheitspolitiker in den Fraktionen des Bundestags quasi vor sich her, die ohne den Beamtenapparat des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) kaum eine Chance haben, sich intensiv mit den Reformvorhaben auseinanderzusetzen. Sie müssen sich notgedrungen auf einige wenige Schwerpunkte konzentrieren. So bleibt die Qualität der Gesetze allzu oft auf der Strecke.

Kurs auf Zentralisierung.

Aber nicht nur das. Auch setzt der Minister statt auf Staatsferne und Subsidiarität auf Zentrali­sierung und Vereinheitlichung. Das soll Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse beschleunigen. Aus Sicht der Politik ist durchaus nachvollziehbar, interessengeleitete Verzögerungs­taktiken bei der Umsetzung gesetzlicher Vorgaben nicht länger hinzunehmen und Lösungswege zu suchen, die die (Selbst-)Blockaden durchbrechen.

Die hohe Schlagzahl bei den Gesetzesvorlagen atomisiert den Widerstand gegen die Vorschläge.

Mit dem direkten Durchgriff des Ministeriums und seiner nachgelagerten Behörden auf die Entscheidungsprozesse im Gesundheitswesen sollen Länder, regionale Akteure sowie die Selbstverwaltung ins Abseits gedrängt werden. Dabei sind zwei Vorgehensmuster zu erkennen. Entweder entzieht das Ministerium den Beteiligten Handlungskompetenzen. Beispiele dafür sind die geplante Entmachtung der Länder durch die Öffnung regio­naler Krankenkassen, die Auseinandersetzung mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) zur Liposuktion (Fettabsaugung), die Übernahme der Mehrheitsanteile an der gematik oder der Konflikt über die Zusammensetzung des Verwaltungsrats im GKV-Spitzenverband und im Medizinischen Dienst der Kranken­kassen. Oder es wird versucht, die Gestaltungsspielräume re­gionaler Akteure durch bundesweite Einheitsvorgaben zurückzubauen beispielsweise in der Heilmittelversorgung oder bei der Prüfung von Krankenhausabrechnungen. Statt die Selbst­verwaltung zu stärken, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, steht der Kurs des Ministers für „selbst walten“ (siehe dazu das Interview „Angriffe auf Selbstverwaltung schwächen den Sozialstaat“).

Wirkung der Reformen fraglich.

In einem Brief an die Regierungskoalition hat er kürzlich das zentrale Ziel seiner Politik durchblicken lassen: „… die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf, dass wir Probleme lösen und ihr Leben konkret besser machen. In einem so lebenswichtigen Bereich wie Gesundheit und Pflege muss der Staat funktionieren. So entsteht Vertrauen“.

Ob die Reformen nachhaltig wirken, steht längst nicht fest. Das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) beispielsweise ist seit wenigen Monaten in Kraft. Ob aber die vielen kleinteiligen Anreize und Sanktionen letztlich das Problem der langen Wartezeiten auf Facharzttermine lösen, ist völlig offen.

Die fehlerhafte Abrechnung von Krankenhäusern droht zum Kavaliersdelikt zu werden.

Ein weiteres Beispiel ist das Pflegepersonal-Stärkungs-Gesetz (PpSG). Es soll den Pflegenotstand in der Kranken- und Altenpflege durch spürbare Verbesserungen im Arbeitsalltag der Pflegekräfte entgegentreten. Dass aber die Pflegekosten im Krankenhaus aus dem bisherigen Vergütungssystem für Krankenhäuser gelöst werden, haben im Vorfeld viele Experten kritisiert und vor dem Rückfall ins Selbstkostendeckungsprinzip gewarnt. Dieses Prinzip war ein wesentlicher Faktor für starke Kostensteigerungen im stationären Bereich, da Anreize für ein wirtschaftliches Handeln fehlten.

Die Mehrkosten wären sicher nicht zu kritisieren, wenn sie auch tatsächlich einen Mehrwert im Klinikalltag brächten. Hier zeigt das PpSG aber bisher – und viele hatten das erwartet – so gut wie keine Wirkung: Von den 13.000 in Aussicht gestellten neuen Pflegestellen sind bis Juli 2019 nur rund 300 bewilligt.

Mehrkosten in Milliardenhöhe.

Die nachweislichen Erfolge fehlen also noch. Eines aber ist jetzt schon klar: Die bisher verabschiedeten Gesetze und die geplanten Änderungen führen zu einem massiven Ausgabenschub in der gesetzlichen Krankenversicherung. Bislang sind bis zum Jahr 2022 Mehrausgaben der Krankenkassen von rund 29 Milliarden Euro zu erwarten (siehe Grafik: „Gesetze kommen Kassen teuer zu stehen“). Man könnte meinen, der Minister wirft das Geld zum Fenster raus – mit zweifelhaftem oder gar nicht vorhandenem Nutzen. Aber auch die SPD macht finanzielle Zugeständnisse an Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken, Physiotherapeuten, Psychologen oder Pflegekräfte – als sei das Ende ihrer Regierungsbeteiligung schon besiegelt und sicher, dass mit den Konsequenzen in der Zukunft andere als sie leben müssen.

Zwar ist die finanzielle Lage der Krankenkassen noch robust. Aber auch in Zeiten voller Kassen ist von einem Gesundheitsminister zu erwarten, dass zumindest er Kosten und Nutzen von Reformen im Blick hat – zumal sich Spahn auch als Wirtschafts- und Finanzexperte positioniert. Umso unverständlicher ist es, wenn ausgerechnet er die Ausgaben im Gesundheitswesen in neue Sphären treibt. Auch wenn die in einigen Wirtschaftsbranchen erkennbare konjunkturelle Eintrübung noch nicht auf das beitragsfinanzierte Gesundheitssystem durchschlägt – es droht eine Einnahmen-Ausgaben-Schere. Bisher konnten die kräftigen Ausgabenanstiege immer durch ebenso große Einnahmen­zuwächse aufgefangen werden. Dies hat aber spätestens dann ein Ende, wenn die wirtschaftliche Eintrübung die GKV-Einnahmen abschmelzen lässt. So ist es verwunderlich, dass die Wirtschaftspolitiker der Union und Arbeitgeberverbände bislang nicht deutlicher aufschreien.

Rechnung ohne die Kassen.

Wie zweifelhaft einige Vorhaben sind, zeigt sich am geplanten MDK-Reformgesetz. Es soll unter anderem die Streitigkeiten zwischen Krankenhäusern und Kassen bei der Abrechnung stationärer Leistungen beenden. Keine Frage, das ist ein gutes Ziel. Leider fehlt es den Vorschlägen aber an Stringenz und Rationalität. Eigentlich dürften nur solche Leistungen abrechenbar sein, die notwendig und tatsächlich auch erbracht worden sind. Doch statt den Krankenhäusern durch gezielte Anreize und Sanktionen klarzumachen, dass die heutigen Fehlerquoten in ihren Abrechnungen in Höhe von bis zu 50 Prozent nicht länger toleriert werden, soll die Zahl der durch die Medizinischen Dienste prüfbaren Rechnungen pro Krankenhaus drastisch begrenzt werden. Ab 2021 sollen bei einer Fehlerquote von bis zu 40 Prozent nur noch fünf Prozent der Rechnungen eines Krankenhauses prüfbar sein. Selbst bei Fehlerquoten von über 60 Prozent sollen lediglich 15 Prozent der Rechnungen geprüft werden dürfen. Fehlerhafte Rechnungen über diese Quote hinaus bleiben ohne Sanktionen und werden damit zur betriebswirtschaftlichen Manövriermasse von Krankenhäusern. So droht die Falschabrechnung zum Kavaliersdelikt zu werden. Jährliche Mehrkosten für die Krankenkassen: 1,2 Milliarden Euro.

Auf Abwegen bei der fairen Kassenwahl.

Lahnstein vollenden – diesen Anspruch hat Spahn für sein zentrales Reformwerk in dieser Wahlperiode, das Faire Kassenwahl-Gesetz (GKV-FKG), ausgegeben. Der Koalitionsvertrag sieht die Weiterentwicklung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA) auf Basis der wissenschaftlichen Empfehlungen der Experten im RSA-Beirat des Bundesversicherungsamts vor. Das Reformziel ist damit eindeutig definiert: Noch bestehende Anreize zur Risikoselektion sollen abgebaut, der Morbi-RSA auf Versichertenebene zielgenauer gemacht und Anreize für wirtschaftliches Verhalten der Krankenkassen gefördert werden.

Grafik: Ausgaben für Reformpläne von 2019 bis 2022

Die gesundheitspolitischen Gesetze und die Reformpläne treiben die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung in völlig neue Sphären. Bis zum Jahr 2022 beläuft sich der Kostenanstieg für die Kassen auf rund 29 Milliarden Euro.

Berechnungen: AOK-Bundesverband

Doch an die wissenschaftliche Expertise fühlt sich der Minister nicht gebunden. So plant er die Herausnahme der Erwerbsminderungsrentner aus der RSA-Systematik, die Einführung eines Ist-Kosten-Ausgleichs für besonders teure Behandlungen und als „Manipulationsbremse“ getarnte Versorgungsbarrieren, die genau das Gegenteil der Empfehlungen der Wissenschaftler darstellen.

Preiswettbewerb befeuert.

Mit dem GKV-FKG hat er aber noch viel mehr im Sinn: Zweieinhalb Jahrzehnte nach Einführung der freien Kassenwahl will er den Kassen-Wettbewerb auf ein neues Fundament stellen. Von einem ausgewiesenen Wirtschafts- und Wettbewerbspolitiker hätte man an dieser Stelle Vorschläge erwartet, die die vertragswettbewerblichen Beziehungen zwischen Kassen und Leistungserbringer in den Blick nehmen und damit – als Schlussstein zur Lahnstein-Reform – einen an der Qualität der Versorgung orientierten Kassen-Wettbewerb in Gang setzt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Für den Minister zählt ausschließlich der Wettbewerb um den günstigsten Preis.
 
Bereits das Anfang des Jahres in Kraft getretene GKV-Versichertenentlastungsgesetz (GKV-VEG) weist den Weg in die ordnungspolitische Sackgasse. Danach müssen die Kassen ab 2020 Finanzreserven an den Gesundheitsfonds abführen, wenn ihre Rücklagen eine Monatsausgabe überschreiten. Bestehende Reserven müssen sie dann innerhalb von drei Jahren abbauen. Hat eine Kasse eine Reserve von mehr als einer Monatsausgabe, darf sie ihren Zusatzbeitrag nicht anheben.

Versichertenentlastung klingt auf den ersten Blick vernünftig und mag den einen oder anderen Beitragszahler, der nur auf den Preis schaut, kurzfristig freuen. Mittelfristig aber werden jene Kassen bestraft, die im Wettbewerb durch gutes Versorgungsmanagement und solide Haushaltsplanung ein Finanzpolster für schlechtere Zeiten aufgebaut haben. Das zwangsweise Abschmelzen der finanziellen Rücklagen heizt den Preiswettbewerb an und verhindert Investitionen der Krankenkassen in gute regionale Versorgungsangebote.

Versorgungsqualität bleibt auf der Strecke.

Ferner macht die vorgesehene Öffnung regionaler Krankenkassen wenig Sinn. Sie soll mehr Wahlfreiheit bringen. Doch bereits heute können Versicherte in jeder Region zwischen rund 40 Kassen wählen. Außerdem sind gerade regional aufgestellte Kassen prädestiniert, Versorgungsprobleme vor Ort zu lösen. Durch ihren räumlichen Fokus wird der Wettbewerb auf eine passgenaue, bedarfsge­rechte und qualitativ hochwertige Versorgung vor Ort gelenkt. Mit ihrem Know-how und Organisationsgrad können sie mit Leistungserbringern über ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis verhandeln. Die geplante Entregionalisierung stellt diese Kassen nun in einen forcierten Preiswettbewerb, aus dem allenfalls für jüngere und gesunde Versicherte ein kurzfristiger finanzieller Preisvorteil entsteht. Für Versicherte, die auf eine qualitativ hochwertige Versorgung vor Ort angewiesen sind, entsteht kein Mehrwert. Stattdessen droht der Verlust an Qualität und Wirtschaftlichkeit.  

Digitalisierung braucht hohe Sicherheit.

Und bei der Digitalisierung? Hier legt sich Spahn mächtig ins Zeug. Das ist auch notwendig. Denn der Nachholbedarf ist enorm. Trotzdem darf nicht allein Geschwindigkeit zählen. Vor allem ist eine Balance zwischen den besonderen Anforderungen des Gesundheitswesens und einem sich rasant entwickelnden digitalen Anbietermarkt zu finden. Dabei muss der Schutz von Versicherten und Patienten bei der Verarbeitung ihrer hochsensiblen Daten Vorrang haben. Zugleich müssen digitale Angebote ähnlich hohe Anforderungen an die Qualität und Wirksamkeit erfüllen, wie sie für andere Gesundheitsdienstleistungen gelten, beispielsweise Arzneimittel.

Um die Digitalisierung voranzutreiben, ist Spahn einiges couragiert angegangen. Anders als in anderen Bereichen will er mit dem Digitale-Versorgungs-Gesetz (DVG) den Kassen mehr Handlungsspielraum geben, damit sie ihren Versicherten passgenaue digitale Informations- und Unterstützungsangebote machen können. Künftig sollen Patienten über mobile Endgeräte direkt auf ihre Daten zugreifen können und selbst entscheiden, ob und an wen die Daten weitergegeben werden. Zwar fehlt noch ein tragfähiges, datenschutzkonformes Konzept. Aber der Weg zur Digitalisierung ist geebnet – zumal auch das ärztliche Fernbehandlungsverbot aufgehoben und Krankenhäuser und Apotheken an die Telematik-Infrastruktur angeschlossen werden sollen.

Nutzen digitaler Angebote gehört geprüft.

Ein Teil des DVG trübt jedoch die positiven Elemente des Vorhabens. So sollen die Krankenkassen digitale Anwendungen zahlen, ohne dass deren Nutzen und eventuelle Risiken für Patienten zuvor überprüft worden sind. Den zu zahlenden Preis für die digitalen Angebote sollen deren Hersteller zumindest im ersten Jahr frei festlegen können. Dadurch drohen den Kassen hohe Kosten. Hier ist im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren nachzubessern. Anderenfalls könnte der Vorwurf laut werden, bei der Digita­lisierung gehe es in Wahrheit nur darum, der digitalen Gesundheitswirtschaft den Weg für einen schrankenlosen Zugriff auf den milliardenschweren Beitragstopf der GKV zu bereiten.

Die Entregionalisierung von Krankenkassen forciert den Preiswettbewerb und geht zulasten der Versorgungsqualität.

Sicherlich hat der Minister recht, wenn er gegenüber Journa­listen betont, „es muss cool werden, dabei zu sein, für Ärzte und für Patienten, weil beide die Vorteile in der Versorgung erleben und von der besseren Behandlung profitieren“. Es darf jedoch nicht cool sein, Klientelpolitik zu betreiben.

Quo vadis SPD?

Während der Minister die gesundheitspolitischen Schlagzeilen dominiert, tritt die SPD öffentlichkeitswirksam kaum in Erscheinung. Dabei hatten die Sozialdemokraten den Großteil der gesundheitspolitischen Ziele in den Koalitions­vertrag verhandelt. So gehörten etwa die Wiedereinführung der paritätisch finanzierten Krankenversicherungsbeiträge oder die Gleichstellung von GKV- und PKV-Ver­sicherten in den Wartezimmern der Ärzte zu den Grund­bedingungen für ihre Regierungsbeteiligung. Die Gesundheitspolitik war anfangs ein Feld, in dem sich die SPD profilieren und die Wählergunst wiedergewinnen wollte. Stattdessen arbeitet sie an den Reformen fleißig mit und zeigt pflichtschuldig Regierungsverantwortung. Der Impulsgeber aber ist Spahn. Er treibt die SPD vor sich her. Das alles macht den Eindruck, als hätte die SPD auch in der Gesundheitspolitik an Kraft verloren.

Nachweis für Nachhaltigkeit fehlt.

Der Bundestag hat in diesem Jahr noch sieben Sitzungswochen, um die geplanten Reformgesetze zu beraten. Angesichts der vielen bedeutsamen und komplexen Vorhaben ist das eine kaum zu schaffende Aufgabe und für die Qualität der Gesetze sicher auch kein gutes Zeichen. Dennoch ist zu erwarten, dass der Minister seine politische Agenda weiterhin konsequent verfolgt, mit hoher Schlagzahl Gesetze und Änderungen vorlegen und sich dazu medial perfekt in Szene setzen wird.

Aber noch ist nicht bewiesen, dass seine Gesetze das Gesundheitssystem wirklich so weiterentwickeln, wie er verspricht. Ob Versicherte und Patienten echte Verbesserungen erleben, ist unklar. Auf jeden Fall kommt irgendwann der Kassensturz.

Kai Senf ist Geschäftsführer Politik und Unternehmensentwicklung im AOK-Bundesverband.
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