Debatte: Mehr Autonomie am Lebensende?
Ein höchstrichterliches Urteil hat die Diskussion über die Suizidassistenz neu belebt. Heiner Melching empfiehlt, bei den bestehenden gesetzlichen Regelungen zu bleiben und die Hospiz- und Palliativversorgung sowie die Suizidprävention auszubauen.
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zum Paragraf 217 Strafgesetzbuch (StGB, geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung) vom 26. Februar 2020 haben sich die Diskussionen über die Suizidassistenz intensiviert und polarisiert. Das höchstrichterliche Urteil besagt, dass das Recht, sein Leben zu beenden, auch das Recht einschließt, hierfür Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen – und zwar unabhängig von Lebenssituation, Alter oder Beweggründen.
Die rechtliche Situation in Deutschland ist nun wieder identisch mit der vor Inkrafttreten des Paragrafen 217 im Dezember 2015. Doch die öffentliche Aufmerksamkeit ist erheblich gestiegen. Offenbar besteht die Erwartung, dass die Politik noch irgendetwas regeln wird. Das resultiert auch aus der Aussage des Verfassungsgerichts, eine neue gesetzliche Regulierung der Suizidhilfe sei möglich. Diese soll sich allerdings darauf beschränken, die Freiverantwortlichkeit von Suizidwilligen sowie die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Suizidwunsches zu überprüfen. Aber wann ist eine Entscheidung freiverantwortlich? Welche Rolle spielt dabei akutes Leid oder sozialer Druck? Wie lässt sich die Ernsthaftigkeit eines Suizidwunsches zweifelsfrei feststellen? Wann kann von einer Dauerhaftigkeit ausgegangen werden?
Selbstbestimmung wird ad absurdum geführt.
Die Verfassungsrichter haben kein Gesetz gefordert, sondern es nur als Möglichkeit beschrieben. Dennoch drehen sich die aktuellen Debatten nicht darum, ob und mit welcher Zielsetzung und welchen Konsequenzen ein neuer gesetzlicher Rahmen geschaffen werden könnte. Vielmehr geht es ausschließlich darum, wie ein neues Gesetz aussehen sollte.
Die derzeit vorliegenden drei parlamentarischen und zwei außerparlamentarischen Gesetzentwürfe weisen einige Schwachstellen und Widersprüchlichkeiten auf. So geben alle Entwürfe vor, die Autonomie und Selbstbestimmung stärken zu wollen. Um dies zu gewährleisten, müssen sich Suizidwillige dann aber beraten und prüfen lassen. Zudem sind für die Suizidhilfe ausschließlich Ärztinnen und Ärzte vorgesehen.
Zusätzliche Regeln und unbestimmte Rechtsbegriffe schaffen Unsicherheit.
Außer Acht gelassen wird vielfach auch, dass ein normiertes Verfahren zur Suizidassistenz diese Form der Lebensbeendigung normalisieren wird: Es stellt für jeden die Frage in den Raum, ob und wann er sein eigenes Leben beenden kann oder sollte. Auf der anderen Seite schränken die geplanten Vorgaben die Selbstbestimmung ebenso ein wie andere Regeln und Normen des sozialen Zusammenlebens auch. Das führt die Theorie der absoluten Selbstbestimmung beim Sterben ad absurdum. Hinzu kommt, dass die vorliegenden Gesetzentwürfe ein hohes Maß an Rechtssicherheit anstreben, diese aber kaum zu erwarten ist. Denn zusätzliche Regeln und unbestimmte Rechtsbegriffe wie beispielsweise „Freiverantwortlichkeit“ schaffen neue Interpretationsspielräume und Unsicherheiten.
In Anbetracht der aktuellen Gesetzeslage in Deutschland würde jede neue Regelung eine Einschränkung der Suizidhilfe bedeuten. Derzeit macht sich niemand strafbar, der beim freiverantwortlichen Suizid hilft. Nachdem der Deutsche Ärztetag das Verbot der Suizidhilfe aus der Musterberufsordnung entfernt hat, müssen Ärztinnen und Ärzte auch keine berufsrechtlichen Konsequenzen mehr fürchten.
Suizidhilfe bricht den Sterbeprozess ab.
In der bevorstehenden Diskussion sollten die Beteiligten auf mehr Klarheit bei den Begrifflichkeiten, Zielen und Absichten achten. So sollten sie nicht in irreführender Weise von Sterbehilfe sprechen, sondern von Suizidhilfe, Selbsttötungshilfe oder Tötungshilfe (sofern der Paragraf 216 StGB, Tötung auf Verlangen, zur Disposition steht). Sterben ist ein Prozess. Insbesondere die Palliativ- und Hospizversorgung leistet dabei umfangreiche Hilfe, indem sie Sterbewünsche ernst nimmt, belastende Symptome lindert und Lebensqualität sowie eine Gestaltungsmöglichkeit des Sterbeprozesses bestmöglich sichert. Ein Suizid ist hingegen die legitime Möglichkeit, genau diesen Prozess zu beenden. Eine Unterstützung hierzu stellt keine Hilfe im Sterbeprozess dar, sondern seinen Abbruch.
Zudem sollte ernsthaft darüber nachgedacht werden, von neuen gesetzlichen Regelungen abzusehen. Denn dann würden Selbstbestimmung und Suizidhilfe nicht eingeschränkt. Darüber hinaus würde so verhindert, den Suizid durch ein Regelwerk zur normierten und damit normalisierten Form der Lebensbeendigung zu erheben. Stattdessen sollten der Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung sowie eine umfangreiche Förderung der Suizidprävention und Hilfe in Lebenskrisen auf den Weg gebracht werden.