Interview

„Freundschaften sind ein Übungsfeld“

Das AOK-Kindermagazin Jolinchen widmet sich aktuell dem Thema Freundschaft. Denn die Kontakte von Mädchen und Jungen untereinander haben in der Corona-Pandemie stark gelitten – mit unübersehbaren Folgen, wie Heilpädagoge Jan Hildebrand beschreibt.

Herr Hildebrand, warum sind Freundschaften für Kinder so entscheidend?

Jan Hildebrand: Freundschaften sind wichtig für die Sozialisation und die Persönlichkeitsentwicklung. Kinder lernen in der Interaktion mit anderen, indem sie sich etwa mit Freunden messen oder vergleichen. Freundschaftsbeziehungen sind ein Übungsfeld für soziales Miteinander: Es gibt Feedback, Anerkennung, Kritik, Konflikte und man wird auch zurückgewiesen. Daraus entwickelt ein Kind ein realistisches Selbstbild und kreiert Standards fürs Leben.

Porträt von Jan Hildebrand, Heilpädagoge

Zur Person

Jan Hildebrand, Heilpädagoge, arbeitet seit 2015 auf Leitungsebene im St. Vinzenz e. V. in Bochum, einer Jugendhilfeeinrichtung in freier Trägerschaft.

Was bieten Freund oder Freundin, was die Familie nicht kann?

Hildebrand: Freundschaften ermöglichen es, Erfahrungen außerhalb der eigenen Familie zu sammeln. Die Familie ist ja ein Ort, in dem es eine gewisse Hie­rarchie gibt, die unter anderem gekennzeichnet ist durch Über- und Unterordnung. Wenn sich Gleichaltrige zusammenfinden, gibt es eher eine Gleichrangigkeit. Kinder brauchen diesen Austausch auf Augenhöhe und diese Gegenseitigkeit. Das gibt es in Familiensystemen so erstmal nicht, allenfalls vielleicht mit den Geschwistern.

Welche negativen Auswirkungen hat es für die Gesundheit, wenn Kinder keine Freunde haben?

Hildebrand: Wenn ein Kind über längere Perioden ohne Freundschaften aufwächst, dann beeinträchtigt das die psychosoziale Stabilität. Die Kinder sind sozial isoliert, es fehlen Solidaritätserfahrungen. Gerade Jugendliche wollen einer Peer-Group angehören. Keine Freunde zu haben, bedeutet für sie Ausgegrenzt-Sein. Da besteht die Gefahr, dass sich depressive Symptome ausbilden. Es kommt auch zu Kopf- und Bauchschmerzen, Schulmüdigkeit, Trostessen bis hin zu einem exzessiven Medienkonsum.

Erfahrungen außerhalb der eigenen Familie sind notwendig.

Wie haben sich die Corona-Kontaktbeschränkungen auf Freundschaften ausgewirkt?

Hildebrand: Freundschaften als Entwicklungsräume, in denen sich Kinder frei bewegen können und ein Selbstwertgefühl entwickeln, hat es im Lockdown so nicht gegeben. Hinzu kommt, dass Sport und musische Bildung, kreative Angebote und alles, was Kinder und Jugendliche im Freizeitbereich ansonsten Positives erleben, ebenfalls nicht stattgefunden hat. Dies hat sich sehr auf das Gemüt von Kindern und Jugendlichen ausgewirkt. Wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass Traurigkeit zugenommen hat. Jugendliche waren da noch stärker betroffen als Kinder im Grundschulalter. Bei diesen gibt es eher eine Fokussierung auf ein oder zwei wichtige Freunde. Kontakt zu einem Haushalt gab es ja häufig noch. Die Eltern haben sich da meist abgestimmt.

Wie lassen sich Kinderfreundschaften in der Pandemie unterstützen?

Hildebrand: Wichtig ist es, den Kindern deutlich zu machen, dass Freundschaften in der Pandemie wichtig bleiben, auch wenn man sich nicht so trifft wie sonst. Dazu sollten Eltern mit den Kindern im Gespräch bleiben und sie authentisch über die Gründe aufklären. Zudem ist es wichtig, mit den Kindern zu sortieren: Welche Freundschaft ist aktuell bedeutsam? Es gibt oft den einen wichtigen Kontakt, der dann trotz Pandemie aufrechterhalten und gepflegt wird. Bei älteren Kindern helfen sicher auch soziale Medien, um in Kontakt zu bleiben. Das müssen Eltern aber gut im Blick behalten, da es schnell ausartet. Auch kleinere Kinder können im Übrigen schon per Facetime spielen. Das ist besser, als wenn es gar kein Miteinander gibt.

Thorsten Severin führte das Interview. Er ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: Anja Micke