Ackern statt büffeln
Hier wächst Gesundheit: Kinder einer Grundschule in Laatzen bei Hannover bauen Gemüse an und lernen dabei, wo ihr Essen herkommt. Dahinter steht ein Bildungsprogramm des Vereins Ackerdemia. Über einen Pflanztag im Mai berichten Änne Töpfer (Text) und Werner Krüper (Fotos).
Miroslav hat zu Hause keinen Garten. „Ich wohne in einem Hochhaus, wir haben einen Balkon. Darauf wächst nichts.“ Miro, so nennen ihn die anderen Kinder, kennt sich trotzdem gut mit Gemüse aus. Behutsam berührt er die kleine gelbe Blüte einer Tomatenpflanze und sagt: „Da drin ist Nahrung für die Bienen.“ Dann zeigt er auf einen Knubbel am Stengel. Miro erklärt, dass dort später ein Seitentrieb entfernt werden muss, weil „der sonst die Energie rausnimmt“. Gemeinsam mit elf Mitschülerinnen und -schülern pflanzt Miro an einem sonnigen Maitag im Garten der Grundschule Pestalozzistraße in Laatzen bei Hannover Gemüse für die kommende Saison: Gurken, Zuckermais, Zucchini und Tomaten. Außerdem säen die Kinder Soja und Stangenbohnen. Im April hat die 2b bereits Kohlrabi gepflanzt, Möhren gesät und Kartoffeln gelegt.
Zusammenhänge herstellen.
Wie geht das – eine Jungpflanze aus dem Topf in die Erde bringen? „Mit der Kelle ein kleines Loch graben, dann in zwei Kellen-Längen Abstand das nächste.“ Und so weiter bis zum Ende der etwa fünf Meter langen Beetreihe. Leo folgt konzentriert der Anleitung von Gärtnermeister Klaus Fischedick. Den Topf umdrehen, die Hand auf den Rand legen und vorsichtig den Wurzelballen rausdrücken. Dann setzt Leo jeweils zwei Gurken-Sprösslinge in ein Loch. Die Pflänzchen liegen ein wenig schlapp auf der frischen Erde. Das begründet der Zweitklässler so: „Die Gurke muss schief aus dem Boden kommen, damit sie wie eine Gurke aussieht.“
Klaus Fischedick sagt mit Blick auf das frisch bepflanzte Beet: „Es ist schön, wenn aus dem Gewusel etwas Produktives wird. Wenn die Kinder regelmäßig im Garten sind, entsteht für sie der Zusammenhang: Was ich im Frühling gepflanzt habe, esse ich später. Das geht mit der Kresse los, dann kommen die Radieschen, der Salat, der Fenchel – über die nächsten Monate immer etwas Neues.“ Am Ende wissen die Kinder nicht nur, wie ihr Lieblingsgemüse – für eine Mehrheit ist das die Gurke – wächst und gedeiht, sondern haben auch Arten kennengelernt, die ihnen vorher fremd waren, so beispielsweise Zucchini und Mangold.
In den Lehrplan integrieren.
Fischedick hat einen Gartenbaubetrieb und unterstützt als „AckerCoach“ im Auftrag des Vereins Ackerdemia an drei Pflanztagen im Jahr 2021 die 2b. Der in Berlin ansässige Verein (siehe Kasten „Im Verein gegen die Naturentfremdung“) organisiert seit 2014 für die am Bildungsprogramm „GemüseAckerdemie“ teilnehmenden Schulen alles, damit das Gartenjahr zum Erfolg wird: Pflanzen aus regionalen Biogärtnereien, Pflanzpläne, Material für den begleitenden Unterricht, haupt- und ehrenamtliche Hilfe. Bis zu 30 Gemüsearten bauen die Kinder im Rahmen der „AckerSchule“ an. Und wenn kein geeignetes Stück Land vorhanden ist, können sie in der „AckerKlasse“ sogar Hochbeete im Klassenraum bepflanzen.
Nadine Duda, Klassenlehrerin der 2b, weiß die Unterstützung zu schätzen: „Wir werden organisatorisch entlastet, bekommen beispielsweise die Pflanzen und das Saatgut von der GemüseAckerdemie.“ Die Lehrerin hat als Kleinkind bei ihrem Opa Gartenerfahrung gesammelt. Obwohl sie deshalb „ein bisschen Bescheid weiß“, hat sie durch die AckerSchule selbst dazugelernt: „Das Mulchen kannte ich nicht. Das finde ich spannend und habe es für meinen eigenen Garten übernommen.“ Nadine Duda hat die AckerStunden teilweise in den üblichen Lehrplan integriert, beispielsweise im Sachunterricht. Teilweise gehe die Acker-Schule aber auch darüber hinaus. Die Kinder fänden es „richtig gut, dass sie mitgärtnern dürfen“, sagt Duda. „Sie freuen sich, wenn wir in den Schulgarten gehen, sie sind gerne draußen.“ Viele Kinder würden nicht wissen, wo die Kartoffeln oder der Salat herkämen. „Es ist schön für die Kinder, das zu sehen.“ Manche Kinder hätten zwar zu Hause einen Garten, aber da werde meist kein Gemüse angebaut.
Acker langfristig pflegen.
Die enge Betreuung durch die GemüseAckerdemie ermöglicht es auch Lehrkräften ohne Garten-Erfahrung, am Programm teilzunehmen. „An der Grundschule Pestalozzistraße sind die Pädagoginnen mit wenig gärtnerischem Vorwissen gestartet und haben sich im Laufe des ersten Programmjahres und in dieser zweiten Saison mit sehr viel Engagement und Lust bereits viel Wissen angeeignet“, erläutert Marlena Wache, die in der GemüseAckerdemie die Region Nord leitet. Ihre Kollegin Anne Müller betreut als Regionalkoordinatorin die Gartenarbeit in dieser Schule.
„Da drin ist Nahrung für die Bienen“, sagt Miro und zeigt auf eine Tomatenblüte.
Insgesamt 30 „Acker-Schulen“ beziehungsweise „AckerKitas“ nehmen in der Teilregion Hannover/Wolfsburg/Braunschweig am Programm teil. „Viele Schulen kommen von sich aus auf uns zu, weil sie Interesse haben, bei der GemüseAckerdemie dabei zu sein“, sagt Müller. Eine Schule kann fünf Jahre im Bildungsprogramm bleiben. „Sie durchläuft dabei mehrere Stufen. Im ersten Jahr ist es ein All-Inclusive-Programm.“ Die Selbstständigkeit nehme von Jahr zu Jahr zu, sagt die Freizeitwissenschaftlerin. „Nach Ablauf der fünf Jahre hat die Schule alles Wissen an der Hand, um den eigenen Acker langfristig weiter zu pflegen.“
Fortbildungen für Lehrkräfte.
Marlena Wache betont, dass die Schulen auch außerhalb der Pflanzungen vom Verein Ackerdemia begleitet werden. „Alle Schulen erhalten umfangreiche Bildungsmaterialien, mit denen sie im Unterricht arbeiten können.“ Die Lehrerinnen und Lehrer könnten zudem an jährlich drei Fortbildungen der GemüseAckerdemie teilnehmen, wo sie alles rund um ihren Acker, zum Gemüseanbau und zur Gestaltung der AckerStunden erfahren und sich mit anderen GemüseAckerdemie-Schulen vernetzen. „Darüber hinaus nutzen die Schulen die digitale Lernplattform der GemüseAckerdemie mit vielen Hintergrundinfos und Erklärvideos“, so Wache. Wöchentlich erhalten die Schulen außerdem per Mail Infos zu den aktuell anstehenden Tätigkeiten auf ihrem Acker.
„Das Interesse an der GemüseAckerdemie ist hoch“, berichtet Thomas Held, Fachreferent im Präventionsmanagement der AOK Niedersachsen. Allein in diesem Jahr fördere die AOK Niedersachsen 15 weitere Schulen „auf dem Weg in das Abenteuer ihres eigenen Gemüsegartens“. Insgesamt sind es im Jahr 2021 niedersachsenweit 50 Schulen mit 1.700 Kindern. „Kinder und Jugendliche lernen hier einen wertschätzenden und verantwortungsvollen Umgang mit der Natur kennen. Zudem erfahren sie durch das Anlegen eines eigenen Gemüsegartens, wo unsere Lebensmittel herkommen“, unterstreicht Held. „Wir sind froh, dass wir vor zwei Jahren den Zuschlag für die Teilnahme an der GemüseAckerdemie bekommen haben“, sagt Axel Paulig, Leiter der Grundschule Pestalozzistraße. Einen Teil der Mittel für das Projekt bringt der Förderverein der Schule auf, den Hauptanteil übernimmt die AOK Niedersachsen. „Wir haben schon seit vielen Jahren einen Schulgarten. Er lag aber in den vergangenen Jahren brach, weil die Kollegen viele andere Aufgaben haben und ihnen die Anleitung fehlte“, erzählt Paulig.
Ernährungshorizont erweitern.
Viktoria hat eine Zucchinipflanze aus dem Topf genommen und schaut sich den Ballen an: „Was ist das?“ fragt sie mit neugierig-skeptischem Blick auf das zarte weiße Geschlängel. Nach kurzem Überlegen gibt sie die Antwort selbst: „Wurzeln!“ Sie mag keine Zucchini essen, will sie aber für ihre Freundin Trinity anbauen. Trinity weiß nicht genau, was Zucchini sind, will sie aber probieren.
Ackerdemia e.V. ist ein gemeinnütziges Sozialunternehmen, gegründet 2014, das an der Schnittstelle von Bildung, Landwirtschaft, Umwelt und Ernährung arbeitet. Seine rund 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben sich zum Ziel gesetzt, die Wertschätzung für Lebensmittel in der Gesellschaft zu steigern, ein gesundes Ernährungsverhalten zu verankern und der voranschreitenden Naturentfremdung entgegenzuwirken.
Die Ackerdemia entwickelt Bildungsprogramme und Konzepte, um eine nachhaltige Wirkung zu erzielen. Im Zentrum der Arbeit steht das ganzjährige Bildungsprogramm „GemüseAckerdemie“ für Kitas und Schulen, in dem Kinder erleben, wo Lebensmittel herkommen und wie diese angebaut werden. Mehr als 100.000 Kinder und Jugendliche haben bereits mit der GemüseAckerdemie geackert. 2021 nehmen mehr als 35.000 Kinder an über 860 Kitas und Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz an dem Bildungsprogramm teil. Die Arbeit von Ackerdemia soll eine positive Veränderung bei den Zielgruppen bewirken – und dies möglichst ganzheitlich und nachhaltig. Das Maskottchen der GemüseAckerdemie, eine Möhre mit Brille namens „Orangela Möhrkel“, bittet im „Wirkungsbericht 2019“: „Unterstützt uns! … Wirkt mit uns und esst mehr Möhren!“
Die AOK fördert die GemüseAckerdemie im Rahmen ihres Engagements für Gesundheitsförderung und Prävention. AOK und Ackerdemia e.V. kooperieren bundesweit seit 2017. Im Jahr 2021 profitieren von dieser Kooperation, an der sich sechs Landes-AOKs beteiligen, rund 300 Schulen.
Quelle und mehr Infos: www.gemueseackerdemie.de
Ein Ziel der GemüseAckerdemie ist, den Ernährungshorizont von Kindern zu erweitern: Ihnen zeigen, dass das Gemüse nicht im Supermarkt wächst und Tomaten nicht immer rot sein müssen. Oder ihnen die Möglichkeit geben, Zucchini zu ernten, zu kochen und zu kosten. Kristiana weiß schon, woher die Pommes kommen: „Pataten wachsen unten, Du wartest ein bisschen und dann musst Du sie ausgraben, dann machst Du es so in Schnitze.“ Sie zeigt es mit ihren Händen in der Luft. Pataten heißen die Kartoffeln in Kristianas Muttersprache. Ihre Großeltern leben in Albanien und haben dort einen Garten, in dem viel Gemüse wächst und in dem sie in den Ferien helfen darf. „Pflanzen brauchen Wasser, Sonne, Erde und Liebe“, erläutert Kristiana und strahlt übers ganze Gesicht. Sie redet gern und viel, sucht dabei manchmal noch nach den passenden deutschen Wörtern.
„Auf unsere Schule gehen Kinder aus rund 30 Nationen. Viele unserer Schülerinnen und Schüler haben keinen muttersprachlich deutschen Hintergrund. Sie lernen bei der Gartenarbeit neue Begriffe“, meint Axel Paulig. „Wenn man sagt: Hol mal den Spaten aus dem Gewächshaus, müssen sie wissen, was ein Spaten ist.“ Mit den Gartengeräten beschäftigt sich am Ende der AckerStunde auch Mudassir. Er hockt im Gras und bürstet die Erde von einer Spatengabel, bis alles glänzt. Dann schaut er sich nach weiterer Arbeit um: „Gibt es noch was zu putzen?“
Alltagskompetenzen erproben.
Der Schulgarten ist ein Lernort mit vielen Möglichkeiten. Er bietet nicht nur Anlass, den Wortschatz zu erweitern. Beim Anbinden der Tomaten haben die Zweitklässler Gelegenheit, Alltagskompetenzen zu erproben oder zu erwerben. So bindet Elian langsam und sorgfältig eine Tomatenpflanze am Spiralstab an und übt dabei einen Knoten. Die Kinder kommen beim Wühlen in der Erde der Natur auf die Spur. Miro fasst in eine Brennnessel und zieht die Hand schnell zurück. Leo hält einen Regenwurm in die Höhe, den sich ein paar andere Kinder genau anschauen. In Vorbereitung auf die AckerStunde haben sie gehört, wie Regenwürmer den Boden für die Pflanzen verbessern. Vorsichtig legt Leo den Wurm zurück in eine Furche. Respekt vor der Natur, Interesse an Zusammenhängen – auch das gehört zu den Erträgen der AckerStunden.
Bewegungsdrang ausleben.
Außerdem ist im Schulgarten viel Platz für Bewegung. Ein paar Kinder laufen zum Wasserhahn, füllen Zehn-Liter-Kannen und schleppen sie zu den Beeten. Leo trägt zwei Kannen gleichzeitig und findet das „überhaupt nicht schwer“. Andere graben ein Stück Beet um. „Der Bewegungsdrang ist groß“, beobachtet Gärtnermeister Klaus Fischedick.
Aus dem Topf in die Erde: Trinity pflanzt mit Klassenlehrerin Nadine Duda Gurken.
Er sorgt dafür, dass die Jungen und Mädchen auf den schmalen Wegen zwischen den Reihen bleiben. „Das hat auch eine gewisse Strenge, sonst kann man mit dem Gemüse nicht hantieren, sonst wächst da nichts.“ Beim Jäten müsse er erklären, dass da winzig kleine Möhren stehen. „Aber die Kinder sind schon vorsichtig. Gestern habe ich auf einem etwas größeren Areal mit circa zwanzig Kindern gejätet – das geht auch.“
Für Fischedick sind Gärten „immer etwas mehr“. „Ich würde mir wünschen, dass die Kinder die Möglichkeit haben, mit Holz, Baumstämmen, Ästen oder Steinen zu arbeiten.“ Er sieht auf dem Areal an der Grundschule Pestalozzistraße noch viel Potenzial. „Da müssen die Schulen reinwachsen.“
Wirkungsberichte veröffentlicht.
Der Verein Ackerdemia prüft in Zusammenarbeit mit verschiedenen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, ob seine Bildungsprogramme wirken. Ergebnisse von Umfragen unter Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern aus den Jahren 2017 und 2018 veröffentlichte der Verein im Wirkungsbericht 2019 (www.ackerwirkung.de, dort auch die aktuellen Wirkungsberichte 2020). Demnach essen sechs von zehn teilnehmenden Schülerinnen und Schülern Gemüse, das ihnen vorher nicht geschmeckt hat. Acht von zehn Kindern haben Spaß daran, Gemüse anzubauen und sind durch die körperliche Arbeit ausgeglichener. Sieben von zehn Kindern können jetzt selbstständig Gemüse anbauen und würden dies auch gern zu Hause tun. Miro aus der Grundschule in Laatzen bestätigt das: „Tomaten auf dem Balkon anbauen? Das wäre cool!“