Pflichtenheft für die Renovierung
Kassenfinanzen, Versorgungsstrukturen, Pflege: Am Ende dieser Legislatur hat die Große Koalition Baustellen hinterlassen. Wer auch immer die künftige Regierung stellt – die Zeit ist reif für grundlegende Reformen. Von Kai Senf
Die Bewerbungsfrist endet am 26. September: Bis dahin können alle Kandidatinnen und Kandidaten ihr Angebot für die Wahl zum kommenden Bundestag bei den Wählerinnen und Wählern abgeben. Bei der Ausschreibung geht es darum, wer in den kommenden vier Jahren die Regierungsverantwortung und damit sozusagen die Projektleitung der politischen Reformgroßbaustelle Deutschland übernimmt. Die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die künftige Bundesregierung sind hoch. Das gilt für alle Politikbereiche – auch für die Gesundheits- und Pflegepolitik.
Die vergangenen gut anderthalb Jahre Corona-Pandemie haben deutlich vor Augen geführt, wie wichtig ein gut funktionierendes Gesundheitswesen ist. Gute oder schlechte Entscheidungen in der Gesundheits- und Pflegepolitik wirken aber nicht nur unmittelbar im Gesundheitswesen. Auch haben sie Auswirkungen auf die Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage, die Konjunktur- und Finanzentwicklung, die Bildung, den sozialen Schutz und das kulturelle Leben. Gesundheits- und Pflegepolitik ist systemrelevant. Das gilt nicht nur während der Pandemie, sondern auch danach. Das gesundheits- und pflegepolitische Lastenheft hat daher Gewicht. Und es ist prall gefüllt. Zuallererst erwarten die Bürger von den politisch Verantwortlichen den allzu oft versprochenen, aber mindestens genauso häufig gebrochenen Kurs- und Perspektivwechsel in der Gesundheitspolitik.
Bedarfe in den Blick nehmen.
Alle Entscheidungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sollten konsequent auf die Bedarfe der Patienten, der Versicherten und Beitragszahler ausgerichtet sein. Welchen Mehrnutzen die Maßnahmen bringen, ist das zentrale Kriterium für alle Gesetze. Die „guten Jahre“, in denen die Beitragsgelder großzügig verteilt wurden, ohne dass ein spürbarer Nutzen dabei herausgekommen wäre, könnten einer Zeit weichen, in der Mut, Entschlossenheit und Durchsetzungsfähigkeit gefragt sind, um die dringend notwendigen Strukturreformen anzupacken. Dabei wäre es kaum vermittelbar, wenn Versicherte, Beitragszahler oder Patienten durch höhere Beiträge, Eigenbeteiligungen oder Leistungskürzungen für die Fehler der Vergangenheit zahlen. Das System muss aus sich heraus reformiert, besser und effizienter werden.
Fehler aufarbeiten.
Die künftige Bundesregierung startet unter schwierigsten Rahmenbedingungen und hat kaum Zeit, sich einzuarbeiten. Denn sollte es im Herbst oder Winter weitere Covid-19-Infektionswellen geben, muss sie schnell ihre Managementfähigkeiten unter Beweis stellen. Das Gesundheitswesen und die GKV haben sich in den zurückliegenden Monaten der Pandemie als außerordentlich leistungsfähig und robust erwiesen. Diese Leistungsfähigkeit gilt es weiterhin zu gewährleisten. Zugleich aber hat die Pandemie alt bekannte strukturelle und qualitative Mängel in der Gesundheitsversorgung deutlich aufgezeigt. Daraus sind für die post-pandemische Zeit die richtigen Lehren zu ziehen und Reformen anzupacken. Auch die Irrungen und Wirrungen im Krisenmanagement beim Ausbruch der Pandemie, beispielsweise bei Intensivkapazitäten, Ausgleichszahlungen, Tests und Schutzausrüstung, sind konsequent aufzuarbeiten und für kommende Pandemien auszuschließen. Corona wird sicherlich einen großen Teil der Arbeit der neuen Bundesregierung bestimmen.
Die vielen Gesetze haben Mehrkosten von über zehn Milliarden Euro pro Jahr verursacht.
Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele der in der nächsten Legislatur anstehenden Aufgaben hausgemachte Probleme der vergangenen Jahre sind und nichts mit Corona zu tun haben. Hier erbt die nächste Regierung eine riesige Last. Dabei geht es unter anderem um drei Bereiche: die GKV-Finanzen, die Versorgungsstrukturen und die Pflege.
Rücklagen aufgebraucht.
Seit Beginn der Legislaturperiode 2017 haben die Beitragseinnahmen in der GKV um über 20 Milliarden Euro auf zuletzt rund 236 Milliarden Euro im Jahr 2020 zugelegt. Mitsamt Steuermitteln kam die GKV im vergangenen Jahr auf Einnahmen von rund 260 Milliarden Euro. Doch insgesamt hat sich die Finanzlage der GKV in den letzten vier Jahren dramatisch verschlechtert. 2018 wies der Gesundheitsfonds noch 7,7 Milliarden Euro an Reserven auf. Die Kassen hatten Rücklagen von rund 21 Milliarden Euro. 2021 sind diese Finanzmittel nun weitgehend aufgebraucht. Seit 2019 steigen kontinuierlich die Ausgaben stärker als die Einnahmen (siehe Grafik „Finanzierungslücke wächst“). Das Minus der GKV ist nicht etwa das Ergebnis außerplanmäßiger Kosten der Pandemie, sondern das Resultat einer ausgabenintensiven schwarz-roten Gesundheitspolitik. Die vielen Gesetze haben einen dauerhaften Kostenschub von mehr als zehn Milliarden Euro pro Jahr ausgelöst, ohne dass dem ein messbarer Mehrnutzen für Versicherte und Patienten gegenübersteht.
Um die von Schwarz-Rot ausgesprochene Sozialgarantie 2021 einzuhalten – danach sollen die Beiträge zu den Sozialversicherungen nicht über die 40-Prozent-Marke steigen – hat die noch amtierende Regierung das klaffende Finanzloch in der GKV notdürftig geschlossen. Für das Wahljahr 2021 hat sie vor allem die Rücklagen der Krankenkassen in Höhe von acht Milliarden Euro verjubelt. Für das Jahr 2022 ist bei einem stabilen Zusatzbeitrag von 1,3 Prozent mit einem Finanzdefizit von bis zu 17 Milliarden Euro zu rechnen. Eine Finanzspritze aus dem Bundeshaushalt soll diese Lücke vollständig schließen. Wie hoch der Bundeszuschuss tatsächlich sein wird, soll erst im September endgültig entschieden werden. Bricht die Große Koalition noch vor der Wahl ihr Versprechen und fällt der Bundeszuschuss für 2022 zu gering aus, muss die künftige Regierung notgedrungen nach der Bundestagswahl entweder aus dem Bundeshaushalt nachschießen oder mit einem deutlichen Sprung des GKV-durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes ins erste Regierungsjahr starten. Will sie beides ausschließen, steht ad hoc ein Spargesetz auf der Agenda, um schnell Kostensenkungen zu erreichen.
Finanzen nachhaltig sichern.
Das alles verschafft der GKV aber nur vorübergehend eine Atempause. Die nachhaltige Stabilisierung der GKV-Finanzen wird zur vordringlichsten Aufgabe der nächsten Regierung. Die Erwartungen der Versicherten und Beitragszahler in der GKV sind klar formuliert. Die Finanzmittel müssen in erster Linie in eine gute Versorgung fließen und effektiv und effizient eingesetzt werden. Die Gesundheitspolitik hat die finanzielle Leistungsfähigkeit des Solidarsystems sicherzustellen. Ohne langfristig wirkende Gegenmaßnahmen auf der Einnahmen- und Ausgabenseite wird die neue Regierung diese Erwartungen nicht erfüllen. Es ist klar, dass Ausgabensenkungen das gewaltige Finanzloch allein nicht schließen können. Auf der Einnahmenseite ist daher ein Mix aus verschiedenen Maßnahmen unerlässlich. Pauschale Bundeszuschüsse, die je nach Haushaltslage unterschiedlich hoch oder niedrig ausfallen, sind allenfalls eine Behelf, aber kein geeignetes Mittel, um die GKV-Finanzen dauerhaft zu stabilisieren.
Ein Blick auf die Entwicklung der beitragspflichtigen Einnahmen und der Leistungsausgaben der GKV macht deutlich: Die Schere öffnet sich immer weiter. Während die Einnahmen zwischen 2009 und 2020 im Durchschnitt um 3,5 Prozent pro Jahr gestiegen sind, erhöhten sich die Ausgaben jährlich um durchschnittlich 4,1 Prozent. Ohne Gegensteuerung dürfte sich diese negative Entwicklung bis zum Jahr 2025 weiter verschärfen.
Quelle: IGES Institut, Abschätzung des Finanzbedarfs in der GKV bis 2025 unter besonderer Berücksichtigung einer stärkeren Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen. Juni 2021
Notwendig sind nachhaltig wirkende Maßnahmen auf der Einnahmenseite wie ein sauber abgegrenzter und verlässlicher Bundesbeitrag für versicherungsfremde Leistungen, die anderen staatlichen Aufgaben wie der Familien-, Bildungs- oder Infrastrukturpolitik zuzuordnen sind. Zusätzlich muss es zu einer deutlichen Anhebung der Krankenversicherungsbeiträge für die Bezieher von Arbeitslosengeld II kommen. Der Bund trägt qua Zuständigkeit die finanzielle Verantwortung für die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge der Langzeitarbeitslosen. Würden diese Beiträge nicht mehr, wie es bislang geübte Praxis ist, zur Entlastung des Bundeshaushalts künstlich nach unten gerechnet, sondern zum Beispiel auf dem Niveau eines durchschnittlichen Beitragszahlers in der GKV entrichtet, beliefen sich die Mehreinnahmen der Kranken- und Pflegeversicherung auf acht bis zehn Milliarden Euro pro Jahr.
Fonds vor staatlichem Zugriff schützen.
Zudem muss die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds künftig vor dem Zugriff des Staates geschützt werden. Sie dient ausschließlich dem Ausgleich unterjähriger Einnahmenschwankungen und darf nicht im Krisenfall zweckentfremdet werden. Umgekehrt muss im Krisenfall, sofern die GKV vorübergehend systemfremde Aufgaben des Katastrophenschutzes und der Infektionsabwehr übernimmt, auch die Refinanzierung dieser Kosten geregelt sein. Das trägt zur Stärkung des beitragsfinanzierten Systems und zu einer klaren Abgrenzung von Aufgaben- und Finanzierungsverantwortung der GKV gegenüber staatlichen Aufgaben bei.
Ausgaben begrenzen.
Um ein bezahlbares Leistungsversprechen nachhaltig zu sichern, sind auch auf der Ausgabenseite flankierende Maßnahmen unverzichtbar. Im ersten Schritt müssen schnell wirksame und möglichst dauerhaft wirkende Maßnahmen zur Kostensenkung umgesetzt werden. Das schließt alle Leistungsbereiche im Gesundheitswesen ein und umfasst beispielsweise die Senkung der Mehrwertsteuer für alle Gesundheitsdienstleistungen und -produkte, auf die heute noch unverständlicher Weise der volle Steuersatz gezahlt wird. Mitnahmeeffekte durch die Preispolitik der Hersteller sind zu unterbinden. Außerdem ist eine Erhöhung des Herstellerrabatts auf Arzneimittel unumgänglich. Grundsätzlich müssen wegen der angespannten Finanzsituation alle Leistungsanbieter zumindest temporär einen Solidarbeitrag zur Begrenzung der Ausgaben leisten. Ein Tempolimit für das Ausgabenwachstum darf kein Tabu sein.
Darüber hinaus sind mittel- und langfristig die Strukturen und Prozesse im Gesundheitswesen anzugehen. Dies schließt die Verfahren zur Bestimmung, welche Arznei- oder Medizinprodukte zu welchem Preis in die Erstattungsfähigkeit der GKV kommen, wie auch die Finanzierung der Krankenhausinvestitionen und den Umbau der Versorgungsstrukturen ein. Im Mittelpunkt muss zuallererst die flächendeckende, sichere und qualitativ hochwertige Versorgung sowie der Nutzen für die Patienten und Beitragszahler stehen. Der effiziente Ressourceneinsatz ist immer auch ein wichtiger Beitrag zur langfristigen Sicherung der finanziellen Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens.
Versorgung qualitätsorientiert verzahnen.
Über die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen wird schon seit Jahrzehnten diskutiert. Geschehen ist aber wenig, um das Gesundheitswesen auf die Nöte und Bedarfe der Patienten auszurichten. Auch in der zu Ende gehenden Legislatur sind die Strukturen – zum Teil coronabedingt – nicht oder wenn doch, dann nur unzureichend verändert worden, beispielsweise bei den Qualitätsvorgaben für Krankenhäuser, der Notfallversorgung oder beim einfacheren Zugang zu Arztterminen. Auch hier ist das Aufgabenheft für die kommende Regierung eindeutig definiert: Patienten erwarten einen schnellen und barrierefreien Zugang zu guter Versorgung, unabhängig davon, ob sie in strukturschwachen und ländlich geprägten Regionen leben oder in der Stadt. Sie wollen vor allem eine hohe Behandlungsqualität, die durch die verschiedenen Gesundheitsberufe überall gleichermaßen gewährleistet wird. Die Behandlung soll für sie so organisiert sein, dass sie schnellstmöglich beim passenden Arzt oder Therapeuten sowie in der richtigen Praxis oder Klinik sind.
- eine zeitnahe, erreichbare, abgestimmte, vernetzte, verständliche, empathische und den aktuellen medizinischen Erkenntnissen folgende medizinische Gesundheitsversorgung,
- im akuten Notfall eine schnelle Ersthilfe und eine koordinierte sowie zielgerichtete Weiterleitung in die qualitativ bestmögliche Folgeversorgung,
- bei erforderlichen Behandlungen/Eingriffen eine gesichert qualitativ hochwertige Versorgung in einer für den Behandlungsanlass vertretbaren Erreichbarkeit,
- eine sichere, konstante und auch im Krisenfall stabile Versorgung mit medizinischen und pflegerischen Leistungen, Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln,
- einen schnellen Zugang zu medizinischen, technischen, therapeutischen Innovationen mit belegtem Nutzen,
- einen niedrigschwelligen und für jeden gleich einfachen Zugang zur medizinischen Versorgung,
- eine sozial gerechte und solidarische Verteilung der finanziellen Lasten,
- ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis und ein langfristig bezahlbares Leistungsversprechen,
- bei Pflegebedürftigkeit eine verständliche, koordinierte Begleitung sowie eine dauerhafte, ganzheitliche und individuelle Pflege,
- Unterstützung bei der Gesunderhaltung beziehungsweise bei der Vermeidung von Gesundheitsrisiken,
- Nutzung von Gesundheitsdaten für eine patientenindividuelle Versorgung bei gleichzeitiger Sicherstellung der persönlichen/individuellen Schutzinteressen.
Quellen: unter anderem die Forsa-Umfragen „Die Gesundheitsversorgung“ im Auftrag der AOK, Oktober 2020, und „Meinungen zu Reformvorschlägen für das deutsche Gesundheitssystem“ im Auftrag der Robert Bosch Stiftung, Mai 2020.
Koordination und Kooperation sind hier die entscheidenden Reformschlagwörter, wenn es um die seit vielen Jahren angemahnte qualitätsorientierte Verzahnung der Behandlungsstrukturen geht, die ein Patient im Krankheitsfall durchlaufen muss. Zu häufig scheitern Behandlungsabläufe an starren Sektorengrenzen sowie an fehlender Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten.
Regionale Planung gefragt.
Bundesweite Vorgaben und Steuerungsansätze sind keine geeignete Lösung, um die Vielzahl regionaler Probleme passgenau zu beheben. Es ist mittlerweile allen Beteiligten klar, dass Versorgungsplanung und Sicherstellung nicht funktionieren können, wenn nur auf einzelne Sektoren, Arztsitze und Bettenzahlen geblickt wird. Stattdessen müssen sich Planungsansätze an sektorenunabhängigen Versorgungsaufträgen und Leistungskomplexen orientieren, und regionale Lösungsansätze gestärkt werden. Die Bundesebene sollte ausschließlich Rahmenvorgaben formulieren, die es den Akteuren in den Ländern ermöglichen, die konkreten Versorgungsbedarfe vor Ort zu gestalten.
Die passgenaue Planung und Umsetzung vor Ort sollten auf Landesebene einem gemeinsamen Gremium aus Kassenärztlichen Vereinigungen, Landeskrankenhausgesellschaften und Krankenkassen übergeben werden. Die Bundesländer agieren in der Rolle des Schiedsrichters. Dieses 3+1-Gremium übernimmt den Sicherstellungsauftrag, definiert in Abstimmung mit den obersten Landesbehörden den Versorgungsbedarf vor Ort und vergibt entsprechende Versorgungsaufträge sektorenunabhängig an geeignete Leistungserbringer. Mit diesem subsidiären Lösungsansatz wird auch der Raum geschaffen für zum Beispiel regionale interprofessionelle Gesundheitszentren, die zur zentralen Anlaufstelle, zum Dreh- und Angelpunkt interdisziplinärer Vernetzung und Kooperation werden können.
Der Transformationsprozess der Versorgungsstrukturen kostet Geld. Bereits heute vorhandene sektorale Strukturfonds sollten zukünftig vor allem für einen zielgerichteten regionalen Umbau eingesetzt werden. Auch das sollte dem 3+1-Gremium auf Landesebene obliegen.
Notfallversorgung verändern.
Im akuten Erkrankungsfall verzweifeln viele Patienten an den Sektorengrenzen. Die gezielte Weiterentwicklung der Notfallversorgungsstrukturen steht daher nach dem gescheiterten Versuch einer großen Reform unter Schwarz-Rot in der kommenden Legislaturperiode ganz oben auf der Agenda. Nach der Einführung von Portalpraxen an Krankenhäusern und Notfallstufen müssen weitere konsequente Reformschritte folgen. Dazu gehört die Überführung der Notfallversorgung in integrierte Notfallzentren (INZ), deren Erreichbarkeit, Strukturvoraussetzungen und die Qualifikation des Personals der Gemeinsame Bundesausschuss konkretisieren sollte. Darüber hinaus ist die Errichtung integrierter Leitstellen für den ärztlichen Bereitschaftsdienst und den Rettungsdienst erforderlich, die dafür sorgen, dass Erkrankte die richtigen Hilfen bekommen. Der Rettungsdienst nimmt eine wichtige Rolle bei der Erstversorgung von Notfallpatienten und dem Transport in ein geeignetes Krankenhaus ein. Deshalb ist seine Stellung in der Notfallversorgung durch mehr Kompetenzen aufzuwerten.
Kliniklandschaft neu gestalten.
Qualität zuerst, Zentralisierung von Spezialmedizin und Vernetzung der Standorte – damit muss der notwendige Reformkurs bei der Weiterentwicklung der Krankenhausstrukturen weiterhin überschrieben werden. Im stationären Bereich sind immer noch erhebliche Qualitätsunterschiede zwischen den Standorten festzustellen. Demzufolge sind vielerorts sowohl die Behandlungsergebnisse als auch die Arbeitsbedingungen für Ärzte, Pflegepersonal und viele weitere beteiligte Berufsgruppen nicht optimal.
Die Leistungen der Pflege sind zu dynamisieren.
Um den qualitätsorientierten Umbau der Krankenhauslandschaft deutlich zu beschleunigen, müssen die Strukturvorgaben und Mindestmengen forciert und ausgebaut werden. Die dafür notwendigen Rahmenbedingungen sind durch den Gemeinsamen Bundesausschuss zu schaffen, auf deren Grundlage die Bundesländer differenzierte Versorgungsaufträge entwickeln müssen. Ziel muss die Verbesserung der Versorgungsqualität durch eine konsequente Konzentration spezialisierter Leistungsangebote auf die dafür geeigneten Standorte sein. Die Konsolidierung der Krankenhausstrukturen ist auch ein wesentlichen Erfolgsfaktor für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten in den Krankenhäusern.
Zu einer zukunftsfähigen Krankenhausinfrastruktur gehört auch die Finanzierung der notwendigen Investitionskosten. Die Bundesländer müssen endlich ihrer Verantwortung für die Investitionskostenfinanzierung nachkommen. Der Bund unterstützt die Länder bei den Strukturveränderungen finanziell. Die zusätzliche Finanzierung von Vorhaltekosten zulasten der GKV jenseits von Sicherstellungszuschlägen in ländlichen Regionen ist kontrainduziert. In diesem Zusammenhang ist es auch erforderlich, das Fallpauschalen-System so weiterzuentwickeln, dass eine sachgerechte und leistungsorientierte Finanzierung der Krankenhäuser gewährleistet ist.
Große Pflegereform anpacken.
Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung hat die Große Koalition noch schnell vor dem Ende der Legislatur eine Pflegereform verabschiedet. Dennoch bleibt die Pflege auch nach der Wahl weiter auf der Agenda. Die Erwartungen der Pflegebedürftigen, pflegenden Angehörigen und der Pflegekräfte waren – nicht zuletzt durch die politischen Ankündigungen geschürt – extrem hoch. Doch die Ernüchterung wird groß sein. Denn im Ergebnis ist die Reform unausgegoren und unterfinanziert. Zudem zementiert sie die sektoralen Strukturen auch in der Pflegeversicherung. Dabei mangelte es nicht am Problembewusstsein, aber in der Endphase von Schwarz-Rot an der Kraft für eine wirklich große Reform. Die Entlastung der Pflegebedürftigen bei den Eigenanteilen bleibt überschaubar. Spätestens ab 2023 sind die Mittel aus den Reserven der Pflegekassen aufgebracht. Die Hauptaufgabe, die Leistungen der Pflegeversicherung angemessen zu strukturieren, zu dynamisieren, die Eigenanteile zu begrenzen und dabei gleichzeitig Beitragsstabilität durch eine solide Gegenfinanzierung hinzubekommen, steht weiterhin im Lastenheft der nächsten Bundesregierung ganz oben.
Pflege ist und bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die soziale Pflegeversicherung ist eine wichtige Säule bei der Schaffung bedarfsgerechter Angebote. Sie stellt als Teilleistungssystem eine Absicherung in Form von unterstützenden Hilfeleistungen zur Verfügung, die Eigenleistungen der Versicherten jedoch nicht unentbehrlich machen. Für eine Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung müssen eine Struktur- und Finanzreform miteinander verbunden werden. Dabei gilt es, die Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen zu verbessern, sie vor wirtschaftlicher Überforderung zu schützen sowie die Beitragssatzstabilität abzusichern.
Sektorengrenzen in der Pflege beseitigen.
Bei einer großen Pflegereform ist beispielsweise das Leistungsrecht in den Blick zu nehmen. Die Pflegeleistungen müssen flexibilisiert und die Sektorengrenzen aufgehoben werden. Unabhängig von der Wohnform der pflegebedürftigen Menschen und vom Ort der Leistungserbringung – stationär oder ambulant – sollten die bisherigen Leistungsansprüche in Budgets zusammengefasst und in der Höhe abhängig vom Pflegegrad zur Verfügung gestellt werden. Die Kommunen sollten verpflichtet werden, die Bedarfs- und Infrastrukturplanung im Einvernehmen mit den Pflegekassen vorzunehmen.
- Neue Nähe – Für ein gesünderes Deutschland. AOK-Positionen zur Gesundheitspolitik nach der Bundestagswahl 2021
- Klaus Jacobs, Adelheid Kuhlmey, Stefan Greß, Jürgen Klauber, Antje Schwinger (Hrsg.): Pflege-Report 2021. Sicherstellung der Pflege: Bedarfslagen und Angebotsstrukturen. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg. Download
- Klaus Jacobs: Gesundheitspolitik nach Corona: Einfacher wird es kaum werden. In G+G-Wissenschaft 2/2021, Seite 7–14. Download
Um die Pflegebedürftigen zu entlasten, müssen die Leistungsbeträge der Pflegeversicherung jährlich dynamisiert und die Finanzierung der medizinischen Behandlungspflege vollständig durch die GKV übernommen werden. Für ausgewählte, besonders förderungswürdige Leistungen, beispielsweise die Kurzzeitpflege, müssen die pflegebedingten Aufwendungen gänzlich durch die Pflegeversicherung finanziert werden. Die Länder müssen ihrer finanziellen Verantwortung für die Investitionskosten vollumfänglich nachkommen, da diese Kosten bisher den pflegebedürftigen Menschen aufgebürdet wurden.
Bundesbeitrag einführen.
Um die Beitragszahler zu entlasten, muss ein zweckgebundener Bundesbeitrag zur Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben, die bisher die Pflegekassen tragen, eingeführt werden. Dieser Bundesbeitrag beispielsweise für Beiträge der Pflegepersonen zur Rentenversicherung muss verlässlich finanziert und regelmäßig dynamisiert werden.
Das sind nur drei der wichtigsten von vielen Reformbaustellen im Lastenheft für die kommenden vier Jahre. Weitere wichtige Aufgaben warten auf eine hoffentlich schnell handlungsfähige, aber auch handlungswillige Bundesregierung. Mit den Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl und dem zu verhandelnden Koalitionsvertrag wird das Pflichtenheft formuliert. Man kann gespannt sein, wer das Bewerberrennen macht und was dann am Ende im Umsetzungskatalog steht.