Corona störte die Sprachentwicklung
Kitas, Schulen, Spielplätze dicht: Während der Covid-19-Pandemie fehlten Kindern viele Möglichkeiten fürs Sprechen. Welche Folgen das hatte, macht der neue Heilmittelbericht deutlich. Von Andrea Waltersbacher
Kinder lernen
im sozialen Austausch mit anderen Menschen in den unterschiedlichsten Situationen des Alltags sprechen: beim gegenseitigen Erzählen, bei Laut- und Sprachspielen, beim Singen und beim verbalen Begleiten von Tätigkeiten aller Art. Für viele Kinder findet ein Großteil dieser Sprechanlässe außerhalb des eigenen Zuhauses in öffentlichen Einrichtungen wie Kitas, auf Spielplätzen und in Parks statt. Doch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie haben die Möglichkeiten des Übens durch die Schließungen der Einrichtungen über einen langen Zeitraum verhindert. Zudem schränkten die Abstandsregeln die Kontaktmöglichkeiten der Kinder ein.
Haben sich diese pandemiebedingten Einschränkungen auf die sprachliche Entwicklung ausgewirkt? War die Inanspruchnahme von Sprachtherapien seit Ausbruch der Pandemie rückläufig? Zeigte sich nach den Lockdowns ein höherer Bedarf an sprachtherapeutischer Unterstützung? Antworten auf diese Fragen gibt der neue Heilmittelbericht des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).
Rückgang anfangs der Pandemie.
Danach war zu Beginn der Corona-Pandemie die Inanspruchnahme von Heilmitteltherapien rückläufig. Fast zehn Prozent aller Heilmittelleistungen entfielen durchschnittlich pro Jahr auf Kinder bis 14 Jahre. Im Jahr 2022 waren es rund 415.300 Verordnungen für Ergo-, Physio- oder Sprachtherapie. Bei rund 44 Prozent der Kinder sind Sprachstörungen (Diagnosecode ICD-F80) der häufigste Anlass einer Behandlung. Im Vergleich zu allen Altersgruppen sind vor allem die Fünf- bis Siebenjährigen in einer Sprachtherapie. Dies erklärt sich unter anderem dadurch, dass in diesem Alter die Sprachentwicklung im Großen und Ganzen abgeschlossen ist und bei der zu dieser Zeit anstehenden U-9-Untersuchung besonders darauf geachtet wird, ob die Kinder sprachlich fit genug für die Schule sind.
Vom Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 bis Ende 2021 erhielten im Durchschnitt 15,8 Prozent der fünf- bis siebenjährigen Kinder die Diagnose Sprachentwicklungsstörung. Das sind zwei Prozent weniger als in den beiden vorpandemischen Jahren. Insgesamt befanden sich vor Covid-19 durchschnittlich 5,5 Prozent in einer sprachtherapeutischen Behandlung. Während der Pandemie ging dieser Anteil nur geringfügig auf durchschnittlich 5,4 Prozent zurück.
Quelle: AOK-Heilmittel-Informationssystem 2022
Vor der Covid-19-Pandemie (2018 bis erstes Quartal 2020) schwankte die Rate der fünf- bis siebenjährigen Kinder mit dokumentierten Sprachentwicklungsstörungen zwischen 14,7 und 17,3 Prozent. Im zweiten Quartal 2020 sank der Anteil auf 14,1 Prozent, stieg in den zwei darauffolgenden Quartalen nur langsam an und erreichte im ersten Quartal 2021 einen Wert von 16,6 Prozent (siehe Grafik „Wie es um die Sprache bestellt ist“). Eine Erklärung für diese Entwicklung könnte sein, dass mit Ende des zweiten Lockdowns im Januar 2021 trotz fortbestehender Beschränkungen Ärzte und Therapeuten wieder vergleichsweise häufiger aufgesucht wurden.
Diagnosehäufigkeit leicht gesunken.
Vom Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 bis Ende 2021 erhielten im Durchschnitt fast 16 Prozent der AOK-versicherten Kinder die Diagnose Sprachentwicklungsstörung. Das sind zwei Prozent weniger als vor der Pandemie. Dieser vergleichsweise geringe Rückgang lässt vermuten, dass es über den gesamten Pandemie-Zeitraum keine starken Einbrüche hinsichtlich der Diagnose Sprachentwicklungsstörung bei Kindern gab.
Jährlich bekommt rund ein Drittel der fünf- bis siebenjährigen Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen eine Sprachtherapie verordnet. Vor Covid-19 waren es in dieser Altersgruppe durchschnittlich 5,5 Prozent. Zwar ging vom ersten bis dritten Quartal 2020 die Behandlungsrate leicht zurück. Aber die Inanspruchnahme sprachtherapeutischer Leistungen lag mit 34,7 Prozent bei Kindern mit diagnostizierter Sprachentwicklungsstörung kurzfristig sogar über der Behandlungsrate der drei vorherigen Quartale.
Videosprechstunden ermöglicht.
Ab dem 18. März 2020 – also kurz vor dem ersten Lockdown – ermöglichten die Krankenkassen und der Gemeinsame Bundesausschuss abweichend von der bis dato gültigen Heilmittel-Richtlinie eine sprachtherapeutische Behandlung auch als Videosprechstunde. Dies kam Eltern entgegen, die sich scheuten, mit ihrem Kind zum Arzt oder zum Therapeuten zu gehen.
Zunahme bei den Verordnungen.
Nachdem die Verordnungen von Sprachtherapien rund ein halbes Jahr rückläufig waren, stiegen sie im ersten Quartal 2021 wieder an – ebenso die Zahl der Kinder mit der Diagnose Sprachentwicklungsstörung.
Rund 39 Prozent der Kinder mit einer diagnostizierten Sprachentwicklungsstörung bekamen eine logopädische Behandlung verordnet. Von allen Fünf- bis Siebenjährigen waren es 6,5 Prozent – ein Anteil, der noch nie so hoch gewesen ist.
Mehr Therapiesitzungen.
Parallel zum starken Anstieg der Verordnungen im ersten Quartal 2021 nahm auch die Behandlungsintensität zu. So erhielt jedes sprachtherapeutisch behandelte Kind elf Sitzungen. Das ist der höchste Wert in den beobachteten 14 Quartalen. Nach neun, maßgeblich von Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 geprägten Monaten wurden also mehr Kinder therapiert und zudem intensiver als im gesamten übrigen Beobachtungszeitraum.
Kinder vulnerabler Gruppen betroffen.
Dieser auffällige Anstieg in Umfang und Intensität der Sprachtherapie könnte ein Hinweis auf eine vermehrte Behandlungsbedürftigkeit von Kindern aus vulnerablen Gruppen sein, deren Sprachentwicklung durch die Kita- und Schulschließungen sowie die weiteren Kontaktbeschränkungen besonders beeinträchtigt wurde und in der Folge verstärkt behandelt werden musste. Dass die Prävalenzrate im weiteren Verlauf des Untersuchungszeitraums (zweites bis viertes Quartal 2021) stabil blieb, während die Behandlungsrate wieder sank, ist hoffentlich ein Zeichen dafür, dass der entsprechende Bedarf an professioneller Unterstützung bei der Sprachentwicklung durch die pandemiebedingten Einschränkungen nicht zunimmt.