Soziales Pflichtjahr einführen?
Pflegenotstand und mangelndes gesellschaftliches Engagement an allen Ecken: Sollten junge Menschen verpflichtet werden, sich ein Jahr lang im sozialen Bereich zu engagieren?
Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste e. V.:
Ein soziales Dienstjahr kann ein wichtiger Zugang zur Ausbildung in der Pflege sein. Von unseren Mitgliedern wissen wir, dass rund 60 Prozent der Teilnehmenden an einem Freiwilligen Sozialen Jahr in der Pflege sich danach für eine Ausbildung in diesem Bereich entscheiden. Somit ist ein solches Jahr ein bedeutsamer Beitrag für die Gesellschaft und für die Orientierung junger Menschen. Ob diese Dienste freiwillig oder verpflichtend sein sollen, ist eine gesellschaftspolitische Entscheidung. Da ein solches Engagement in vielen Bereichen geleistet werden kann, ist ein verpflichtendes Dienstjahr zumutbar.
Rainer Hub, Vorsitzender des Sprecher- und Sprecherinnenrats des Bundesnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement:
Die Auseinandersetzung um die Einführung einer Dienstpflicht kommt in Variationen immer wieder – insbesondere werden junge Menschen adressiert. Die Debatte kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Junge Menschen haben am stärksten mit den Folgen der Corona-Pandemie zu kämpfen. Insbesondere in dieser Situation sendet die Dienstpflichtdebatte ein grundsätzlich falsches Signal. Das Thema Pflegenotstand ist unabhängig von freiwillig oder Pflicht anzugehen. Durch eine Dienstpflicht würde man dem ohnehin angespannten Pflegearbeitsmarkt auch noch Arbeitskräfte vorenthalten.
Eva Maria Welskop-Deffaa, Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes e. V.:
Um in Krisenzeiten den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erhalten und gesellschaftliche Freiheit zu verteidigen, braucht es die Bereitschaft, individuelle Freiheiten einzuschränken. Das gilt für die Klimakrise ebenso wie für die Erfahrung von Pandemie und Krieg. Darin sehe ich den Kern der Debatte um eine soziale Pflichtzeit. Eine solche Zeit exklusiv für junge Leute zu fordern, halte ich für das falsche Signal. Die Jungen sind schon vielfach verpflichtet – in der Sozialversicherung etwa durch ihre Beiträge. Und: Der Pflegenotstand braucht andere Antworten.
Prof. Dr. Heike Ohlbrecht, Studiendekanin der Fakultät für Humanwissenschaften der Universität Magdeburg:
Durch ein soziales Jahr können sich junge Menschen beruflich und persönlich orientieren und Fähigkeiten sowie Vorlieben entdecken. Es ist problematisch, sie zu Solidarität zu verpflichten. Denn gesellschaftliches Engagement lässt sich nicht verordnen. Junge Menschen aufgrund eines Fachkräftemangels in die Pflege zu drängen, kann kritisch sein. Nicht jeder ist hierfür geeignet, und persönliche Interessen sind unterschiedlich. Der Pflegenotstand wird sich in der Zukunft massiv verschärfen und braucht nachhaltige Lösungen. Es wäre irreführend anzunehmen, dass ein soziales Pflichtjahr unsere Probleme löst.