Gewaltprävention in der Pflege

Mit Empathie gegen Aggression

Um Eskalationen und Gewalt in der Pflege vorzubeugen, setzen die Vinzentinerinnen zu Köln in ihren Altenpflegeeinrichtungen auf Ursachenforschung und verstehende Diagnostik. Wie die funktioniert und wie sie wirkt, haben sich Dr. Silke Heller-Jung (Text) und Jürgen Schulzki (Fotos) angesehen.

Um kurz vor halb vier pinnt Maria Erdmann ihre letzte orangefarbene Karteikarte an die Stellwand hinter sich. „Macht nichts, ich habe noch mehr“, lacht sie und holt einen neuen Stapel Karten aus ihrem Moderationskoffer. An den beiden Stellwänden hinter ihr hängen zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche Notizen, farblich sortiert und nach Themen gruppiert. Die Fallbesprechung mit ihren Kolleginnen im Haus Luise, einer stationären Pflegeeinrichtung für demenziell veränderte und gerontopsychiatrisch erkrankte Menschen, ist seit rund zwei Stunden in vollem Gange. Maria Erdmann moderiert das Teamgespräch und hält wichtige Aussagen und Erkenntnisse aus der Runde auf verschiedenfarbigen Karten fest.

Haus Luise liegt an einer ruhigen Straße im Villenviertel von Bonn-Bad Godesberg. Die Einrichtung umfasst insgesamt 36 Wohneinheiten. Um den Bewohnern die Orientierung zu erleichtern, sind die drei Wohnbereiche in unterschiedlichen Grundfarben gehalten und nach bekannten regionalen Fixpunkten benannt: Rheinaue, Drachenfels und Wolkenburg. Der große Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss wird für Feiern genutzt und der Jahreszeit entsprechend festlich geschmückt.

Träger von Haus Luise ist die Vinzentinerinnen Köln GmbH (siehe Kasten „Mit Kopf, Herz und Hand“), die im Großraum Köln/Bonn unter anderem mehrere Altenpflegeeinrichtungen unterhält. Maria Erdmann ist als Qualitätsbeauftragte verantwortlich für die Qualität der Betreuung und Pflege in diesen Einrichtungen.

Die Gemeinschaft der Vinzentinerinnen wurde 1633 in Paris  gegründet. Unter der Devise „Arbeiten mit Herz, Kopf und Hand“ organisierte sie praktische Hilfen für Arme und Hilfebedürftige. 1852 kamen die ersten vier Schwestern nach Deutschland und ließen sich in Köln nieder. Heute unterhalten die Vinzentinerinnen zu Köln vier stationäre Altenpflegeeinrichtungen, zwei teilstationäre Einrichtungen sowie jeweils eine Einrichtung der Eingliederungshilfe und der Kinder- und Jugendhilfe.

Die körperliche und psychische Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat für die Vinzentinerinnen einen hohen Stellenwert. Bei der Betrieblichen Gesundheitsförderung arbeiten sie mit der AOK Rheinland/Hamburg und ihrem Institut für Betriebliche Gesundheitsförderung zusammen. Für ihr Engagement für die körperliche und seelische Gesundheit ihrer Beschäftigten wurde die Gemeinschaft 2022 mit einem der drei Hauptpreise beim Bundespreis für Betriebliche Gesundheitsförderung in der Pflege ausgezeichnet, den die AOK in diesem Jahr erstmals vergeben hat.

An diesem Mittwochnachmittag im Februar haben sich mehr als zehn Mitarbeiterinnen aus dem Haus Luise im großen Gemeinschaftsraum versammelt, der schon für die bevorstehenden Karnevalstage dekoriert ist. Vor jeder liegt ein umfangreicher Fragenkatalog, den Maria Erdmann zum Auftakt der Sitzung verteilt hat. Anhand dieser Fragen wollen die Teilnehmerinnen in den nächsten Stunden ergründen, warum eine Bewohnerin im Haus Luise immer wieder ein bestimmtes, problematisches beziehungsweise verändertes Verhalten an den Tag legt. „Verstehende Diagnostik“ heißt diese beinahe detektivisch anmutende Vorgehensweise. Ziel ist es, Lösungen zu finden, die das veränderte Verhalten abmildern oder ihm sogar vorbeugen. Gelingt dies, kommt das nicht nur den Pflegebedürftigen zugute, sondern auch denen, die sie versorgen.

Gewalt gezielt vorbeugen.

Viele Beschäftigte in der Pflege, insbesondere in der Demenzpflege, machen Gewalterfahrungen, die von Beschimpfungen bis zum Schubsen oder Schlagen reichen. Um sowohl die Beschäftigten als auch die Pflegebedürftigen vor derartigen Übergriffen zu schützen, legen die Vinzentinerinnen großen Wert auf Gewaltprävention und auf eine frühzeitige Deeskalation von kritischen Situationen. „Wir haben schon vor vielen Jahren ein Gewaltpräventionskonzept erstellt“, erklärt Maria Erdmann. „Dafür haben wir überall Risikoanalysen durchgeführt und geschaut: Gibt es irgendwelche Situationen oder Strukturen, die Gewalt Vorschub leisten könnten?“

Mögliche Risiken wurden nach Eintrittswahrscheinlichkeit und dem möglichen Ausmaß ihrer Auswirkungen mithilfe der Ampelfarben bewertet: Rot bedeutete dabei „dringender Handlungsbedarf“ – diese Punkte standen bei der anschließenden Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten ganz oben auf der Tagesordnung. Systematisch wurden gewaltpräventive Maßnahmen und Konzepte erarbeitet und implementiert. „Heute sprechen wir das Thema Gewalt in jedem Bewerbungsgespräch an“, erläutert die Qualitätsbeauftragte. Multiplikatoren schulen die Beschäftigten, damit „alle Mitarbeiter für Gewalt und ihre unterschiedlichen Formen sensibilisiert sind und sie erkennen, sich bei Bedarf Hilfe holen und auch wissen, wo sie diese Hilfe bekommen können. Wir ermutigen die Mitarbeiter, Probleme oder zum Beispiel auch eine Überforderung offen anzusprechen“, betont Erdmann. „Die Gewaltprävention bei uns ist ein Puzzle aus vielen Teilen, die alle ineinandergreifen.“ Die verstehende Diagnostik ist ein wichtiger Baustein in diesem Gesamtkonzept.

Systematisch Leiden lindern.

„Herausforderndes Verhalten basiert oft darauf, dass wir bestimmte Bedürfnisse der Bewohner nicht erkennen und sie diese Bedürfnisse aufgrund ihrer Demenz nicht äußern können“, erklärt Maria Erdmann. „Unser Ziel ist es, die Stärken in den Vordergrund zu stellen, den Menschen mit Demenz als vollwertigen Menschen zu würdigen, seinen aktuellen Leidensdruck zu verringern, ihm Sicherheit zu geben und eine Umgebung des Wohlfühlens zu schaffen.“

Qualitätsmanagerin Maria Erdmann moderiert die Fallkonferenz und hält die Ergebnisse fest.

Im Dezember 2021 ging das Team im Haus Luise zum ersten Mal im Rahmen einer strukturierten Fallbesprechung auf Spurensuche. „Die Zeit war damals reif für neue Instrumente, um das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner und die Arbeitssituation für die Mitarbeiterinnen zu verbessern“, erklärt Maria Erdmann. Die Wahl fiel auf „Welcome-IdA“, ein demenz­orientiertes Assessmentsystem (siehe Kasten „Systematisch besser pflegen“), das mit seinem detaillierten Fragebogen einen klar strukturierten Rahmen für die verstehende Diagnostik vorgibt. Mittlerweile haben bereits rund 20 solcher Sitzungen im Haus Luise stattgefunden.

Der konkrete Anlass für eine derartige Fallbesprechung ist stets, „dass es eine Ausnahmesituation gibt, ein Problem, unter dem die Bewohner, die Mitbewohner, aber auch die Mitarbeiter leiden“, erklärt Erdmann. Emel Heimeshoff, Pflegedienstleiterin im Haus Luise, ergänzt: „In der Regel sind das erhebliche Verhaltensauffälligkeiten, die mit einem großen Leidensdruck bei den Bewohnerinnen und Bewohnern einhergehen. Daraus ergeben sich auch für unsere Mitarbeitenden oft schwere Belastungssituationen.“

Interdisziplinäre Ursachenforschung.

In einer strukturierten Fallbesprechung versucht das Team dann, die Ursachen für dieses Verhalten zu ergründen und Lösungsansätze zu entwickeln. Voraussetzung dafür ist ein möglichst umfassendes Bild der Situation. Das Wittener Assessment sieht darum vor, dass neben einer Moderatorin, der Wohnbereichs- oder -gruppenleitung und der Bezugspflegeperson stets noch weitere Teilnehmende eingebunden werden, die an der Versorgung des betreffenden Bewohners beteiligt sind. Dazu zählen zum Beispiel Pflege- und Betreuungskräfte, Therapeuten oder Hauswirtschaftskräfte.

Auch im Haus Luise sind an diesem Nachmittag unterschiedliche Berufsgruppen um den großen Tisch versammelt: Fach- und Hilfskräfte aus Alten- und Krankenpflege, eine gerontopsychiatrische Fachkraft, der Soziale Dienst und zwei externe Therapeutinnen, die regelmäßig ins Haus kommen und mit den Bewohnerinnen und Bewohnern arbeiten. Aus Sicht von Pflegedienstleiterin Emel Heimeshoff hat diese interdisziplinäre Herangehensweise große Vorteile: „Jeder hat seine eigenen Beobachtungskriterien. Der Sozialdienst nimmt wahr, was wir in der Pflege vielleicht nicht sehen. Unsere Physiotherapeutin hat eine völlig andere Perspektive als ich, die ich die Bewohner im Pflegealltag erlebe. Gerade in komplexen Fällen kommen wir durch die unterschiedlichen Blickwinkel oft zu Erkenntnissen, die jede einzelne von uns allein nicht finden würde.“

Jede Meinung zählt.

Bei der heutigen Fallbesprechung stellt Moderatorin Maria Erdmann darum eingangs noch einmal klar: „Wenn wir gleich in die Analyse und in die Diskussion gehen, ist eins ganz wichtig: Es gibt kein Falsch und kein Richtig. Wir sind gemeinsam auf dem Weg. Alle Ihre Erkenntnisse sind sehr wertvoll. Wir werden alles zusammentragen und gemeinsam überlegen: Was kann dieses Verhalten auslösen? Und wenn wir am Ende hier rausgehen, haben wir eine genaue Vorstellung davon und haben konkrete Maßnahmen vereinbart. Natürlich kann es passieren, dass wir falsche Hypothesen aufstellen und daraus falsche Maßnahmen ableiten. Aber auch das ist nicht schlimm. Denn wir werden unser Vorgehen evaluieren und schauen, ob unsere Maßnahmen wirksam waren oder nicht.“

Das Wittener Modell der Fallbesprechung bei Menschen mit Demenz mit Hilfe des Innovativen demenzorientierten Assessmentsystems (WELCOME-IdA) ist am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und am Department für Pflegewissenschaft der Universität Witten/Herdecke eigens für die stationäre Altenhilfe entwickelt worden. Es soll Pflegende in der stationären Altenhilfe darin unterstützen, problematisches oder belastendes Verhalten von Menschen mit Demenz besser zu verstehen und mögliche Gründe für dieses Verhalten zu erkennen.

Das Assessment beginnt stets mit einer Vorstellung des aktuellen Falles durch eine oder mehrere Beschäftigte, die an der Versorgung des betreffenden Bewohners beteiligt sind. Heute übernehmen Helene Dietrich, gerontopsychiatrische Fachkraft, und Altenpflegehelferin Silvia Böcher diesen Part. Präzise tragen sie die persönliche und medizinische Vorgeschichte von Christa Neumann (Name geändert), ihre Diagnosen und die aktuelle Medikation vor, bevor sie das problematische Verhalten schildern: Die Bewohnerin kann schlecht allein sein, sie fordert ständig Aufmerksamkeit und Zuwendung ein. Immer wieder ruft und schreit sie stundenlang. Auf Dauer sei dieses Verhalten sehr belastend, sagt Helene Dietrich. „Wenn man eine ganze Woche in ihrem Wohnbereich Dienst hat und das jeden Tag passiert, kann man das wirklich kaum aushalten.“ Auch die positiven Seiten der Bewohnerin werden umfassend gewürdigt: Aufgeschlossen, fleißig, hilfsbereit und gesellig – so erleben sie die Pflegenden. „Sie hat viele Ressourcen und ist in vielen Situationen sehr liebenswürdig“, sagt Pflegedienstleiterin Emel Heimeshoff.

Schritt für Schritt zum Kern des Problems.

Anhand des IdA-Leitfadens, eines umfassenden Fragenkatalogs, tragen die Teilnehmenden nun Zug um Zug Informationen zusammen. Im ersten Abschnitt geht es im Detail um das problematische Verhalten selbst. Wann ist es zum ersten Mal aufgetreten? Wann zeigt sich das Verhalten gewöhnlich? Wie häufig tritt es auf? „Sie wacht früh auf, kommt auf den Flur und schreit“, sagt Silvia Böcher. „Abends kommt es oft auch noch mal zu solchen Spitzen.“ Auslöser, da ist sich die Runde rasch einig, ist wohl in erster Linie Angst – vor allem morgens, wenn Christa Neumann im Dunkeln aufwacht und das Gefühl hat, vollkommen allein zu sein. Abends, so die Beobachtung, bringe sie vor allem Unruhe auf dem Flur vor ihrem Zimmer schnell aus der Fassung. Maria Erdmann notiert die Beiträge auf farbigen Karten und pinnt sie an die Stellwände.

Mithilfe des IdA-Fragebogens klopft das Team nun eine ganze Reihe möglicher Ursachen ab. Das Tool deckt mit detaillierten Fragen fünf Themenkomplexe ab, die Aufschluss über mögliche Gründe für ein problematisches Verhalten geben können. Im Abschnitt „Gesundheitszustand und Selbstständigkeit im Alltag“ etwa wird minutiös erfasst, inwieweit bestehende gesundheit­liche Beeinträchtigungen das tägliche Leben beeinflussen. Aufstehen und Laufen fielen Frau Neumann schwer, berichtet Physiotherapeutin Heidi Köhnen. „Das möchte sie auch gar nicht. Sie hat Angst.“

Auf jede Bestandsaufnahme zu einem Themenbereich folgt die Überlegung: Was ist hier zu tun? Wo bedarf es einer weitergehenden Klärung? Welche Maßnahmen könnten hilfreich sein? Zum Punkt Mobilität etwa notiert die Moderatorin, bei Frau Neumanns Ärztin nachzufragen, ob möglicherweise Nebenwirkungen von Medikamenten die Einschränkungen verursachen können. „Manche Arzneimittel können Schwindel auslösen“, wirft Physiotherapeutin Köhnen ein. Auch die Blutwerte sollten noch einmal überprüft werden. „Niedrige Natriumwerte zum Beispiel können sich auf das Verhalten auswirken“, merkt Maria Erdmann an.

Ursachen erkennen und vermeiden.

Weitere Themenkomplexe im Assessment sind die Bereiche Kommunikation, „Persönlichkeit und Lebensstil vor der Demenzerkrankung“, „Stimmungen und Emotionen“ und „Umwelteinflüsse“. Stück für Stück entsteht im Austausch der Pflegenden ein vielschichtiges Bild. Mit jeder Wortmeldung kommen weitere Informationen hinzu – so schnell, dass Maria Erdmann zwischendurch kurz die Karten ausgehen.
 
Am Ende kristallisieren sich zwei wahrscheinliche Auslöser für Frau Neumanns Rufen und Schreien heraus: Verlustängste und Reizüberflutung. Die Karten an den Stellwänden dokumentieren aber auch, worauf Christa Neumann positiv reagiert und womit sie sich in der Regel gut beruhigen lässt: Licht und eine leise Geräuschkulisse, vertraute Gesichter und eine ruhige, freundliche Ansprache, Musik, eine Tasse Kaffee und die Aussicht auf eine Zigarettenpause, ein kleines Kompliment und das Gefühl, ernstgenommen zu werden.
 
Es zeigt sich, dass fast jede Pflegende bereits eine oder mehrere Ressourcen kennt und nutzt, um Christa Neumann in schwierigen Situationen zu beruhigen. Aus dem kollektiven Erfahrungsschatz lassen sich nun aber konkrete Maßnahmen ableiten, die alle gemeinsam umsetzen können: Die kleine Lampe in Frau Neumanns Zimmer wird auch nachts nicht ausgeschaltet. Der Frühdienst lädt die Bewohnerin, sobald sie morgens wach wird, erst einmal auf eine Tasse Kaffee in die Küche des Wohnbereichs ein. Ein CD-Spieler wird angeschafft, um zu schauen, ob die Bewohnerin zum Beispiel die Hilfe beim Waschen besser annimmt, wenn die Körperpflege mit ihrer Lieblingsmusik untermalt wird. Soweit möglich, kümmern sich stets die gleichen Pflegepersonen um Frau Neumann. „Sie braucht das Vertraute. Das gibt ihr Sicherheit“, fasst Helene Dietrich, die gerontopsychiatrische Fachkraft, zusammen.

Gut investierte Zeit.

Obwohl die verstehende Diagnostik mit einem erhöhten Zeitaufwand einhergeht, überwiegt für Maria Erdmann klar der Nutzen: „Am Ende weiß jeder Bescheid. Wir kommen aus einer Sitzung und haben einen Plan. Jeder weiß, was zu tun ist, wenn sich eine problematische Situation anbahnt.“ Auch Pflegedienstleiterin Emel Heimeshoff ist von dem Konzept überzeugt: „Wir finden durch diese Fallbesprechungen oft ganz einfache, alltägliche Maßnahmen, mit denen wir bestimmte Situationen gut auffangen können.“ Ihrer Erfahrung nach zahlen sich auch vermeintliche Kleinigkeiten rasch aus. Wenn sich das Team nach zwei Wochen zu einer kurzen Evaluation zusammenkommt, hat sich die Lage häufig bereits deutlich entspannt. „Es ist sehr schön, wenn wir einem Bewohner, dessen Verhalten von den Mitarbeitenden als sehr stressig und belastend erlebt wird, mit ganz einfachen Mitteln und individuell angepassten pflegerischen Maßnahmen helfen können,“ so Heimeshoff.

Buscher, Ines et al. (2012). Wittener Modell der Fallbesprechung bei Menschen mit Demenz mit Hilfe des Innovativen-demenzorientierten‑Assessmentsystems – WELCOME-IdA. Witten: Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen. Download

Mitunter verbessern sich das Wohlbefinden und die Zufriedenheit eines Bewohners so stark, dass seine Bedarfsmedikation reduziert werden kann oder im besten Fall gar nicht zum Einsatz kommt. Auch das ist ein Ziel, auf das Maria Erdmann und ihre Kolleginnen mithilfe der verstehenden Diagnostik hinarbeiten: durch psychosoziale Interventionen die Gabe von Psychopharmaka zu verringern oder zu vermeiden. „Wenn es uns gelingt, so zu deeskalieren, dass sich gar kein Aggressionspotenzial aufbaut, dann haben wir viel erreicht“, sagt die Qualitätsbeauftragte.  

Ein Modell mit Zukunft.

Bei den Vinzentinerinnen wird es auch künftig Fallkonferenzen zur verstehenden Diagnostik geben, nicht nur im Haus Luise. Damit das Tool hilfreich sein könne, müssten einige Grundvoraussetzungen erfüllt sein, sagt Maria Erdmann: „Das Wittener Konzept basiert auf einer Struktur, die man erst einmal verinnerlichen muss. Dann hilft sie aber sehr dabei, den roten Faden nicht zu verlieren. Wenn die Leitung das Konzept annimmt, eine Verbindlichkeit da ist, Strukturen und Freiräume dafür geschaffen werden, dann kann das wirklich gut gelingen. Wenn man halbherzig darangeht und die Abläufe nicht richtig geplant werden, wird es manchmal eher zur Belastung.“ Mittelfristig möchte Erdmann den Teilnehmerkreis der Fallbesprechungen noch erweitern. An der heutigen Sitzung haben zum ersten Mal die beiden Therapeutinnen teilgenommen. In Zukunft, da ist sich die Runde einig, sind die beiden immer mit dabei. Mittelfristig würde Maria Erdmann gern auch behandelnde Ärzte sowie Angehörige mit einbinden. „Das wird sicher eine Herausforderung, alle unter einen Hut zu bekommen“, lacht sie. „Aber dieses Vorgehen ist sinnvoll und wichtig. Und es zahlt sich am Ende für alle Beteiligten aus.“

Silke Heller-Jung hat in Frechen bei Köln ein Redaktionsbüro für Gesundheitsthemen.
Jürgen Schulzki ist freier Fotograf.