Über den Applaus hinaus
Wer in der Langzeitpflege arbeitet, verdient Anerkennung – insbesondere in Form einer angemessenen Bezahlung. Der Gesetzgeber hat die Weichen dafür gestellt: Künftig können Pflegeeinrichtungen nur noch zur pflegerischen Langzeitversorgung zugelassen werden, wenn sie ihre Beschäftigten in Pflege oder Betreuung mindestens auf Tarifniveau bezahlen. Was das in der Umsetzung bedeutet, erläutern Michaela Evans und Nadine-Michèle Szepan.
Die bessere Bezahlung von Pflege- und Betreuungspersonal ist ein langfristiges sozial- und arbeitspolitisches Ziel. Auf dem Weg dahin ist das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) ein weiterer Meilenstein: Seit dem 1. September 2022 können Pflegeeinrichtungen demnach mit den Pflegekassen nur noch abrechnen, wenn sie Beschäftigte in Pflege oder Betreuung nach Tarif oder nach kirchenarbeitsrechtlichen Regelungen bezahlen. Wenn sie nicht tarifgebunden sind, müssen sie die Beschäftigten in Pflege oder Betreuung mindestens in Höhe eines Tarifvertrags oder einer kirchenarbeitsrechtlichen Regelung oder auf Basis des regional üblichen Entlohnungsniveaus bezahlen. Bei Bezahlung nach Tarif beziehungsweise kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen erkennen die Pflegekassen die Löhne als wirtschaftlich an. Für nicht-tarifgebundene Einrichtungen (Einrichtungen, die weder an einen Tarifvertrag noch an eine kirchliche Arbeitsrechtsregelung gebunden sind) gewährleisten die Kassen eine Refinanzierung bis zur Höhe von zehn Prozent über dem Durchschnitt der regional geltenden Tariflöhne.
Dieser Beitrag zeigt auf, wie es zur sozialrechtlichen Verankerung der „Tariftreue“-Regelungen im Pflegesektor kam. Darüber hinaus reflektiert er die Strukturlogiken des „regional üblichen Entlohnungsniveaus“ als Zulassungsvoraussetzung für nicht-tarifgebundene Pflegeeinrichtungen. Wie die „Tariftreue“-Regelungen potenziell wirken, stellt der Beitrag abschließend dar und vergleicht mögliche Szenarien mit den intendierten Zielen des Gesetzgebers.
Pflegekommission empfiehlt Mindestarbeitsbedingungen.
Mit der Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes (1995) hielten Privatisierung, markt- und wettbewerbliche Steuerungslogiken Einzug in den Pflegesektor. Die tarif- und personalpolitischen Folgen waren bald unübersehbar: Die Erosion von Flächentarifverträgen im Pflegesektor, die Diversifizierung kollektivvertraglicher Regelungen ebenso wie die Fragmentierung tarifpolitischer Verhandlungsarenen prägten die Entwicklung. Statt die Qualität zu fördern, ging der Wettbewerb im Pflegesektor zunehmend zulasten von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Dieser Entwicklung versuchte die Politik Einhalt zu gebieten. Seit 2010 gilt im Pflegesektor ein gesetzlicher Mindestlohn. Die 2009 eingerichtete Pflegekommission empfiehlt für Pflegeeinrichtungen seitdem bindende Mindestarbeitsbedingungen auf Grundlage des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes (AEntG). Sie werden durch Rechtsverordnung im gesamten Pflegesektor wirksam.
Seit 2017 ist der Mindestlohn in der Pflege erheblich gestiegen. Am 1. November 2017 lag er in den neuen Bundesländern bei 9,50 Euro pro Stunde – damals ohne Unterscheidung nach Qualifikation der Pflegepersonen. Nach einer schrittweisen Differenzierung für Hilfs-, Assistenz- und Fachpersonal wird der Mindestlohn Ende 2023 bei 18,25 Euro in der höchsten Qualifikationsstufe liegen. Der Mindestlohn hat sich damit fast verdoppelt und ist ein zentraler Treiber der Lohnentwicklung in der Pflege.
Quelle: eigene Darstellung
Die Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen reichte nicht aus, um die Entlohnungssituation im Pflegesektor substanziell und nachhaltig zu verbessern. Mit den Pflegestärkungsgesetzen I bis III (PSG, 2015 bis 2017) folgten weitere Anpassungen. Sie zielten insbesondere auf die Anerkennung der Wirtschaftlichkeit einer Entlohnung nach Tarifvertrag oder kirchlicher Arbeitsrechtsregelung sowie auf Maßnahmen zur Einhaltung der Bezahlung der Mitarbeitenden im Pflegesektor ab.
Konzertierte Aktion Pflege fokussierte Lohnhöhe und Tarifbindung.
In der „Konzertierten Aktion Pflege“ (KAP, ab 2019) machte die Bundesregierung die Verbesserung der Entlohnungsbedingungen in der Pflege zu einem prioritären Handlungsfeld. Die KAP-Arbeitsgruppe 5 „Entlohnungsbedingungen in der Pflege“ sollte einen Weg suchen, im Pflegesektor unter Wahrung der Tarifautonomie und des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts flächendeckend angemessene Tarifstrukturen zu etablieren. Ergebnis war das Pflegelöhneverbesserungsgesetz (2019), das den Paragrafen 7a des AEntG novellierte. Damit war die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, dass ein Tarifvertrag per Rechtsverordnung unter Einbezug von mindestens zwei paritätisch besetzten Kommissionen kirchlicher Arbeitgeber auf die Pflegebranche erstreckt werden kann (allgemeinverbindlicher Tarifvertrag). Noch während sich die Verhandlungen von ver.di und der Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) zum Tarifvertrag über die Mindestarbeitsbedingungen im „Tarifvertrag Altenpflege“ hinzogen, kündigte der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn im Oktober 2020 bereits die Bezahlung auf Tarifniveau als Zulassungsvoraussetzung als alternative Lösungsoption an. Als dann die erforderliche Zustimmung der beiden großen kirchlichen Arbeitsrechtskommissionen zum Tarifvertrag Altenpflege im Februar 2021 nicht vorlag, konnte das Verordnungsverfahren zur Erstreckung der tarifvertraglichen Regelungen nicht angestoßen werden.
Um dennoch das Ziel zu erreichen, die Beschäftigten in der Pflege oder Betreuung nach Tarif zu entlohnen, hat der Gesetzgeber mit dem GVWG die oben erwähnten Änderungen normiert. Die Bezahlung nach Tarif wurde damit eine Voraussetzung für die Zulassung zur Versorgung. Die Vergütungen sind entsprechend zu vereinbaren, vorausgesetzt die Entlohnung der Beschäftigten ist wirtschaftlich im Sinne des Pflegeversicherungsrechts, die Einrichtungsträger zahlen entsprechende Löhne an ihre Beschäftigten und können das gegenüber den Leistungsträgern auch nachweisen.
Zur Frage der Wirtschaftlichkeit und damit der Refinanzierungsfähigkeit vereinbarter Löhne in Vergütungsverfahren entwickelte der Gesetzgeber die Regelungen aus den Pflegestärkungsgesetzen weiter. Für tarifgebundene Pflegeeinrichtungen gilt nach wie vor uneingeschränkt, dass die Pflegekassen die Bezahlung bis zur Höhe der aus dieser Bindung resultierenden Vorgaben in den Vergütungsverhandlungen nicht als unwirtschaftlich ablehnen dürfen. Für nicht-tarifgebundene Pflegeeinrichtungen gilt dies nicht uneingeschränkt: Sie sind zwar frei in der Wahl des anwendbaren Tarifvertrags. Aber die Höhe der Löhne darf das regional übliche Entlohnungsniveau (durchschnittliche Entlohnung der Beschäftigten in Betreuung oder Pflege in einem Bundesland, die nach Tarif bezahlt werden) grundsätzlich um nicht mehr als zehn Prozent übersteigen. Damit verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, eine Preisobergrenze über die Regelung zur Wirtschaftlichkeit zu ziehen. Gleichzeitig wollte er aber auch einen Anstieg der Löhne um bis zu zehn Prozent ermöglichen, um regional bestehende Unterschiede nicht dauerhaft festzuschreiben.
Kein Preisetikett von Tarifverträgen.
Das regional übliche Entlohnungsniveau diente zu diesem Zeitpunkt als Verfahrens- und Vergleichsstandard für die Wirtschaftlichkeitsprüfung sowie für die Veröffentlichung der Übersicht, welche Tarifverträge das regional übliche Entlohnungsniveau um nicht mehr als zehn Prozent überschreiten. Jedoch war es kein „Preisetikett“ für Tarifverträge: Ein analog gebildeter Referenzwert als tarifübliches Entlohnungsniveau (statt auf eine Region bezogen) war zwar gewünscht, aber weder gesetzlich untermauert noch als Maßstab für nicht-tarifgebundene Einrichtungen geeignet.
Die Anwendung des regional üblichen Entlohnungsniveaus erhöht nicht die Tarifbindung.
Der GKV-Spitzenverband hat in seinen Richtlinien schließlich als dritte Option für die Zulassung zur Versorgung die Orientierung am regional üblichen Entlohnungsniveau („Durchschnittsanwender“) ermöglicht: Einrichtungen müssen dann mindestens in Höhe der Durchschnittswerte für die drei Qualifikationsgruppen (Hilfs-, Assistenz- und Fachpersonal) sowie der Durchschnittswerte der variablen Zuschläge entlohnen. Damit war der Intention des Gesetzgebers Rechnung getragen, mindestens in Höhe eines in der Region anwendbaren Tarifvertrags zu entlohnen, da es immer mindestens einen Tarifvertrag gibt, der unter dem regionalen Durchschnitt liegt. Mit dem Pflegebonusgesetz vom 28. Juni 2022 wurde jedoch nicht nur diese dritte Option gesetzlich nachgebessert, sondern gleichzeitig über die Entgeltbestandteile des regional üblichen Entlohnungsniveaus auch die Preise von Tarifverträgen für die „Tariforientierer“ definiert.
Durchschnittliche Entgelte zeigen Streuung.
Das regional übliche Entlohnungsniveau ist ein für die Entlohnungsrichtlinie entwickelter Verfahrens- und Vergleichsstandard. Er bildet weder die tatsächliche durchschnittliche Entlohnung der Beschäftigten oder die Personalkostenaufwendungen für die Vergütungs- und Pflegesatzverfahren in den Pflegeeinrichtungen ab, noch ist er mit anderweitigen Benchmarks zur Entlohnung vergleichbar. Vielmehr ist er ein Sonderkonstrukt und spiegelt ein für den Zweck definiertes Entlohnungsniveau der tarifgebundenen Einrichtungen zu einem Stichtag wider. Errechnet wird er als ein arbeitszeitnormierter und nach der Anzahl der Beschäftigten (Vollzeitäquivalente) in Pflege oder Betreuung gewichteter Stundenlohn in einem Bundesland. Dass der Durchschnitt dabei von der realen Beschäftigtenstruktur der einzelnen tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen abhängt, zeigt die Streuung der durchschnittlichen Entgelte in den jeweiligen Qualifikationsgruppen aller Pflegeeinrichtungen, die an denselben Tarifvertrag gebunden sind. So lagen in einer Beispiel-Gruppe von Langzeitpflegeeinrichtungen desselben Tarifvertrags im selben Bundesland die Entgelte zwischen 13,99 Euro und 20,70 Euro bei den Hilfskräften, zwischen 14,95 und 22,83 bei den Assistenzkräften und zwischen 18,97 Euro und 37,18 Euro bei den Fachkräften (siehe Abbildung „Varianz des Entlohnungsniveaus in einem Tarifvertrag“).
Vergleichbarkeit von Tarifwerken im Fokus.
Der gesetzlich definierte Preis des Tarifwerks entspricht somit nicht dem „Wert“ eines Tarifwerks, denn nicht alle Entlohnungsansprüche, die in einem Tarifvertrag geregelt sind, sind auch im regional üblichen Entlohnungsniveau und dem Niveau der pflegetypischen Zuschläge abgebildet. Insgesamt sechs regelhafte und fixe sowie drei variable Entgeltbestandteile gehen in die Berechnung des regional üblichen Entlohnungsniveaus ein, um die Vergleichbarkeit der Tarifwerke untereinander zu gewährleisten. Die fixen Entgeltbestandteile umfassen das Tabellengrundentgelt, vermögenswirksame Leistungen, pflegetypische Zulagen, Jahressonderzahlungen sowie den Lohn für Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst. Die variablen Entgeltbestandteile beinhalten Nachtzuschlag, Sonntags- und Feiertagszuschlag. Dass aber nicht in jedem Tarifvertrag diese Entgeltansprüche vereinbart sind, schlägt sich in der Heterogenität der regional üblichen Niveaus, insbesondere bei den pflegetypischen Zuschlägen nieder. So liegt beispielsweise der Zuschlag für Nachtarbeit im Saarland bei 17 Prozent, während er in Baden-Württemberg 24 Prozent beträgt (siehe AOK: Veröffentlichung der Tarifübersicht durch die Landesverbände der Pflegekassen – bundesweite Übersicht der regional üblichen Entlohnungsniveaus).
Auch wenn in einer Gruppe von Pflegeeinrichtungen derselbe Tarifvertrag Anwendung findet, variieren die Löhne zwischen den Einrichtungen. Ursachen können abweichende einrichtungsindividuelle Alters- beziehungsweise Eingruppierungsprofile sein. In diesem Beispiel erzielte das Fachpersonal im arbeitszeitadjustieren Durchschnitt in einer Einrichtung einen Stundenlohn von 37,18 Euro. In einer anderen Einrichtung mit demselben Tarifvertrag lag der Durchschnitt der Entlohnung hingegen bei 18,97 Euro.
Quelle: eigene Darstellung
Zwar liegen die veröffentlichten Durchschnittswerte des regional üblichen Entlohnungsniveaus in allen Qualifikationsgruppen oberhalb des Pflegemindestlohns. Auf der Einrichtungs- oder Tarifebene können diese den Mindestlohn in der Pflege für die jeweilige Beschäftigtengruppe jedoch unterschreiten. Inkonsistenzen der Tarifmeldungen können sich daraus nur ableiten lassen, wenn tatsächlich alle Entlohnungsansprüche eines Tarifwerks in der Summe den Mindestlohn der jeweiligen Beschäftigtengruppe unterschreiten. Ein weiterer Grund für eine Unterschreitung des Mindestlohnes kann darin liegen, dass der zugrundeliegende Tarifvertrag den Mindestlohn unterschreitet und deshalb gekündigt wurde, aber eine Anschlussvereinbarung zum Erhebungszeitpunkt der Tarifinformationen noch nicht vorlag.
Durchschnittsanwendung konterkariert höhere Tarifbindung.
Das „regional übliche Entlohnungsniveau“ wurde also zunächst lediglich als Instrument zur Herstellung der Vergleichbarkeit von Tarifverträgen beziehungsweise kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen mit Blick auf die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Höhe der Entlohnung entwickelt. Im Zuge der Umsetzung des GVWG ist diese Funktion mit dem Pflegebonusgesetz jedoch gesetzlich um die Zulassungsvoraussetzung erweitert worden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Option der „Durchschnittsanwendung“ zu den ursprünglich avisierten politischen Zielen – Verbesserung der Entlohnung und flächendeckende Anwendung von Tarifverträgen – leistet.
Die Anwendung des regional üblichen Entlohnungsniveaus ermöglicht es zunächst, dass tarifungebundene Pflegeeinrichtungen weder einen Tarifvertrag abschließen noch ein gültiges Tarifvertragswerk unter Mindesteinhaltung der Eingruppierungsgrundsätze und Erfahrungsstufen anwenden müssen. Zum Stichtag 30. April 2022 mussten die Einrichtungen mitteilen, wie sie die Zulassungsvoraussetzungen ab dem 1. September 2022 erfüllen werden. Die Daten zeigen, dass nicht-tarifgebundene Pflegeeinrichtungen häufig die Anwendung des regional üblichen Entlohnungsniveaus als Alternative zur Tarifbindung oder Tarifanwendung wählen (siehe Abbildung „Durchschnittsanwendung als überwiegend gewählte Option“). Demnach orientierten sich bundesweit nur 33 Prozent der nicht-tarifgebundenen Einrichtungen an Tarifverträgen, 66 Prozent wendeten hingegen das regional übliche Entlohnungsniveau an. Die Möglichkeit der „Durchschnittsanwendung“ verhindert also, dass sich die Tarifvertragsbindung flächendeckend ausweitet.
Und wie steht es um die Verbesserung der Bezahlung? Bisher bildeten die Mindestlöhne in der Pflege die Lohnuntergrenzen. Nun wird diese Funktion durch den „günstigsten“ Tarifvertrag, der im jeweiligen Bundesland zur Anwendung kommt, ergänzt.Pflegeeinrichtungen, die sich für die Anwendung des regional üblichen Entlohnungsniveaus entscheiden, dürfen die für ihr Bundesland ermittelten Werte für die jeweiligen Beschäftigten-/Qualifikationsgruppen im Durchschnitt der Entlohnung ihrer Beschäftigten in diesen Beschäftigten-/Qualifikationsgruppen nicht unterschreiten. Das schließt jedoch eine Unterschreitung im Einzelfall innerhalb einer Beschäftigtengruppe nicht aus. Das regional übliche Entlohnungsniveau stellt somit keine echte Lohnuntergrenze dar.
Tarifpolitik im Pflegesektor ist zwischen Mindestlohn und regional üblichem Entlohnungsniveau neu auszutarieren.
Das regional übliche Entlohnungsniveau ist ein gewichteter und arbeitszeitadjustierter Durchschnittswert der Entlohnung. Dies führt in der Praxis allerdings dazu, dass die Entlohnung einzelner Tarifvertragswerke im Vergleich zum regional üblichen Entlohnungsniveau höher oder niedriger ausfallen kann. Dies hat zur Folge, dass die Löhne der Beschäftigten trotz einer Tarifbindung ihres Arbeitgebers unterhalb des Durchschnitts nach regional üblichem Entlohnungsniveau im jeweiligen Bundesland liegen können. Hinzu kommt, dass vor dem Pflegebonusgesetz bei Tarifanwendern alle Entgeltbestandteile gemäß Paragraf 2a AEntG berücksichtigt werden mussten. Mit Einführung des Pflegebonusgesetzes gilt dies jedoch nur für die Entgeltbestandteile des regional üblichen Entlohnungsniveaus einschließlich der jeweiligen Eingruppierungsgrundsätze.
Pflegeeinrichtungen, die sich für die Option der „Durchschnittsanwendung“ entschieden haben, müssen die jährlichen Anpassungen des regional üblichen Entlohnungsniveaus nachvollziehen. Eine zusätzliche Herausforderung besteht in der Passgenauigkeit der ermittelten Eckwerte der Entlohnung auf Basis des regional üblichen Entlohnungsniveaus mit den einrichtungsindividuellen Beschäftigungs- und Qualifikationsstrukturen. Denn wie gezeigt, reagiert das Konstrukt des regional üblichen Entlohnungsniveaus sensibel auf einrichtungsindividuelle Beschäftigungs- und Qualifikationsstrukturen.
Wirkung der Tariftreue-Regelung analysieren.
Zentrale sozial- und arbeitspolitische Ziele sind die Verbesserung der Entlohnung derjenigen Beschäftigten, die überwiegend in Pflege oder Betreuung arbeiten, sowie die flächendeckende Anwendung von Tarifverträgen im Pflegesektor. Vor diesem Hintergrund sind vor allem drei potenzielle Wirkungsszenarien und Wirkungseffekte von besonderem Interesse: Das erste Szenario unterstellt, dass das GVWG sowohl positive Effekte auf das Lohnniveau als auch auf die Tarifbindung in der Fläche hat (Progressionsszenario). Dies wäre dann der Fall, wenn bislang nicht-tarifgebundene Pflegeeinrichtungen sich vermehrt für eine Tarifbindung in etablierten Sozialpartnerstrukturen entscheiden. Auf teilräumlicher Ebene könnte dieses Szenario zudem strukturbildende Effekte haben, etwa dann, wenn sich bislang nicht-tarifgebundene Pflegeeinrichtungen zu neuen Tarifgemeinschaften zusammenschließen.
Seit 1. September 2022 dürfen Pflegeeinrichtungen ihre Leistungen nur mit den Pflegekassen abrechnen, wenn sie entweder in der Tarifbindung sind, einen Tarifvertrag anwenden oder wenn sie ihre Beschäftigten in Pflege oder Betreuung auf Basis des regional üblichen Entlohnungsniveaus bezahlen. Zum Stichtag 30. April 2022 mussten die Einrichtungen mitteilen, wie sie die Zulassungsvoraussetzungen ab dem 1. September 2022 erfüllen werden. Die Mehrheit der nicht-tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen hatte zum Stichtag 30. April 2022 als Zulassungsvoraussetzung die Anwendung des regional üblichen Entlohnungsniveaus gewählt.
Quelle: Meldungen nach Paragraf 72 3d zum Stichtag 30.4.2022
Vorliegende Befunde liefern jedoch Evidenz für ein weiteres Szenario: Denn es wurde deutlich, dass sich in den meisten Bundesländern der überwiegende Anteil der nicht-tarifgebundenen Pflegeeinrichtungen für die Zulassungsoption des „regional üblichen Entlohnungsniveaus“ entschieden hat. Ausgehend hiervon wären durch das GVWG auf teilräumlicher Ebene zwar durchaus (moderate) Lohneffekte zu erwarten, allerdings ohne nennenswerte Effekte auf die Tarifbindung (Segmentationsszenario). Und schließlich wäre es aufgrund der Zulassungsregelungen auch denkbar, dass das GVWG weder auf die Lohnhöhe noch auf die Tarifbindung nennenswerte Effekte erzielt. Dies könnte insbesondere für Regionen wie in Niedersachsen zutreffen, die ohnehin durch ein vergleichsweise niedriges Lohnniveau bei gleichzeitig niedriger Tarifbindung gekennzeichnet sind (Stand 30.4.22: 21 Prozent Tarifbindungsquote in Niedersachsen, 32 Prozent Deutschland gesamt). Denkbar wäre zudem, dass die Tarifbindung durch die Option des regional üblichen Entlohnungsniveaus sogar sinkt oder diese zwar steigt, dabei jedoch günstigere „Tarifverträge“ an Bedeutung gewinnen (Erosionsszenario).
Mindestlohn beeinflusst Tarifverträge.
Seit 2010 war der Mindestlohn in der Pflege die Lohnuntergrenze für die Beschäftigten in der Pflege. Mit dem GVWG wird dem Mindestlohn aber eine neue Rolle zugeordnet: Er dient nun insbesondere für Tarifvertragspartner als Orientierung.
• AOK: Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Höhe der Entlohnung des Pflege- und Betreuungspersonals – Erläuterungshilfe des AOK-Bundesverbandes zu den Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes. Download
• Bundesgesundheitsministerium: Konzertierte Aktion Pflege
So mussten einige Tarifvertragspartner im ersten Halbjahr 2022 ihre Tarifwerke kündigen und neu verhandeln, als die Pflegelohnkommission ihre Empfehlungen für die deutlich höheren Mindestlöhne in den jeweiligen Qualifikationsgruppen zum 1. September 2022 bekanntgab. Seit 2017 sind die Mindestlöhne in der Pflege erheblich gestiegen. So betrug der Mindestlohn damals in den neuen Bundesländern 9,50 Euro (nicht nach Qualifikation unterschieden). Die Empfehlung für Ende 2023 liegt bei 18,25 Euro für Pflegefachpersonen – nunmehr bundesweit einheitlich (siehe Abbildung „Entwicklung der Mindestlöhne in der Pflege“).
Eine zentrale Herausforderung besteht künftig darin, Tarifpolitik im Pflegesektor zwischen Pflegemindestlohn und regional üblichem Entlohnungsniveau neu auszutarieren. Dabei zeichnen sich bereits heute erste nicht-intendierte Effekte des GVWG ab. Etwa dann, wenn Entlohnungsansprüche der Beschäftigten in Tarifverträgen vorbehaltlich einer Refinanzierungszusage im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung normiert werden. Es gilt zukünftig auch einen Blick auf die Qualität der Tarifwerke im Kontext der Tarifbindung zu richten.