Psychopharmaka

Trotz Demenz zurück ins Leben

Sie sind unruhig, rennen herum, schreien, werden handgreiflich – viele Menschen mit Demenz zeigen ein herausforderndes Verhalten. Gegen solche Symptome verordnen Ärzte häufig Psychopharmaka, um die Menschen ruhigzustellen. Doch die Präparate bringen unerwünschte Wirkungen mit sich. Ein Heim in Baden-Württemberg zeigt, dass es auch anders geht. Von Thorsten Severin

Da staunte das Team im Johanniter-Haus in Waibstadt nicht schlecht. Seit Jahren hatte Gerhard K. (Name geändert) sein Zimmer in dem Pflegeheim im Rhein-Neckar-Kreis nicht mehr verlassen, lebte zurückgezogen von den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern, nahm an Aktivitäten nicht teil. Auch das Essen ließ sich der demenzkranke 84-Jährige aufs Zimmer bringen, anstatt mit den anderen zu essen. Doch Gerhard K. hatte sich verändert – zum Positiven. Er kam nun bereitwillig aus seinem Raum, gesellte sich zu den anderen. Die Pflegerinnen und Pfleger beschrieben ihn als hellwach und gut gelaunt. Auf Fragen gab er sofort und klar Antwort. Gerhard K. ging auch wieder selbstständig zur Toilette, stuhlte kaum noch ein. „Er unterhielt sich auf einmal über Dinge, die ihn schon länger nicht mehr interessiert hatten beziehungsweise an die er sich nicht mehr erinnern konnte“, beschreibt Pflegerin Christina Biancorosso die Wandlung des Mannes. „Er äußerte auch vermehrt Wünsche und Bedürfnisse.“

Was war geschehen? Jahrelang bekam Herr K. hochdosierte Psychopharmaka. Doch im Jahr 2018 nahm sich die Leitungsebene um Heimleiter Kai Schramm vor, die Medikationen aller Bewohner zu überprüfen. In Abstimmung mit den Ärzten wurde bei vielen der demenzkranken Menschen die Dosierung der Psychopharmaka stark reduziert oder die Präparate wurden sogar komplett abgesetzt. Bei dem 84-Jährigen wurde die Arznei Melperon zuerst von 75 auf 25 Milligramm verringert, zunächst ohne Wirkung. Verbesserungen traten ein, als das Mittel komplett wegfiel. Die Zeit der jahrelangen Selbstisolation war vorbei, die Antriebslosigkeit wie weggeblasen. „Es ist Wahnsinn, was das ausmacht“, sagt Biancorosso, die im Heim als Praxisanleiterin und Qualitätsbeauftragte tätig ist.

Viele alte Menschen mit Demenz sind depressiv und ziehen sich zurück.

Experten weisen seit langem darauf hin, dass Antipsychotika bei alten Menschen zu oft, zu lange und in zu großer Menge eingesetzt werden. Auch Schramm und seine Kollegen hatten davon gehört. Die Initialzündung, etwas grundlegend ändern zu wollen, war für sie eine Fachtagung zu dem Thema im Herbst 2018 in Heidelberg. Schramm erinnert sich noch gut an die Rückreise von dem Symposium. „Wir waren uns als Kollegen einig, dass wir jetzt nicht so weitermachen wie bisher. Für uns war die Veranstaltung wie ein Kick-off.“ Das Team arbeitete sich verstärkt in die Materie ein und bereitete eine eigene Tagung vor. An dieser nahmen Vertreter aller 17 Johanniter-Häuser im Süden sowie Experten aus anderen Regionen Deutschlands teil.

Erfolge finden Beachtung.

Die Waibstadter Einrichtung setzte von da an ihr Wissen ein, um Neuroleptika, Benzodiazepine und Hypnotika konsequent zu reduzieren. Dabei startete sie mit den Bewohnern, die trotz der spezifischen Medikation Verhaltensauffälligkeiten oder einen hohen Leidensdruck zeigten. Sie waren zwischen 70 und 95 Jahre alt. Die Ergebnisse des Projekts können sich sehen lassen und haben über den Rhein-Neckar-Kreis hinaus Beachtung gefunden: Innerhalb des ersten halben Jahres stellten die Ärzte 36 Psychopharmaka-Verordnungen um. Bei 45 Prozent der Bewohner gab es positive Veränderungen, bei 44 Prozent weder eine Verbesserung noch eine Verschlechterung, elf Prozent waren nicht umstellbar. Von den 36 Verordnungen wurden innerhalb von sechs Monaten 70 Prozent abgesetzt und 19 Prozent reduziert, elf Prozent wurden ausgetauscht oder erneut angesetzt. „Zu Beginn des Projekts nahmen 35 Bewohner insgesamt 49 Psychopharmaka ein. Schon nach einem halben Jahr schluckten nur noch 26 Bewohner insgesamt 33 solcher Präparate“, erläutert Schramm.

Auch die weitere Auswertung des Projekts spricht für den Waibstadter Weg: Nach zwei Jahren nahmen lediglich noch acht Bewohner regelmäßig Psychopharmaka ein. Die Anzahl der täglich verabreichten Präparate sank in diesem Zeitraum sogar um 84 Prozent, sodass diese acht Bewohner im Durchschnitt nur noch ein Psychopharmakon täglich zu sich nahmen. „Es geht auch anders“, hat das Team daher seine Zwischenbilanz überschrieben.

Erinnerungen kommen zurück.

Da war etwa die 79-jährige Rosi S. (Name geändert). Sie litt seit Jahren unter Alzheimer-Demenz, Wahnvorstellungen sowie einer ängstlichen Persönlichkeitsstörung. Außerdem hatte sie depressive Episoden. Rosi zog sich häufig zurück und neigte dazu, sich selbst zu isolieren. Sie schlief am Tag sehr viel und mochte zeitweise gar nicht aufstehen. Zur Teilnahme an Aktionen im Haus musste sie motiviert und begleitet werden. Doch dann setzte das Team in Waibstadt die hohe Gabe des Neuroleptikums Quetiapin in Absprache mit dem Arzt herab und verringerte es in Schritten immer weiter. Schon nach der ersten Reduzierung war die alte Dame deutlich wacher und „extrem gut gelaunt“, wie Schramm beschreibt. Sie lachte viel und zeigte Interesse an ihrem Umfeld. Zu Angeboten in der Einrichtung ging sie jetzt sogar freiwillig.

Leitlinien sehen vor, den Einsatz von Neuroleptika nach sechs Wochen zu überprüfen.

Auch der Sohn von Rosi S. war angenehm überrascht. „Was ist mit meiner Mutter los?“, habe er sich gewundert, berichtet Schramm. Plötzlich habe seine Mutter ihn nach seiner Ehefrau und anderen Verwandten gefragt, was sie schon lange nicht mehr getan hatte. Die alte Dame verspürte auch wieder Harndrang und versuchte, alleine auf die Toilette zu gehen. Unglücklicherweise stürzte sie dabei und brach sich die Hüfte, musste ins Krankenhaus. Danach ging es ihr wieder schlechter, aber das Heim beharrte darauf, nicht gleich wieder die Antipsychotika-Keule herauszuholen. Laut Biancorosso war die Versuchung durchaus groß, der hochbetagten Frau erneut solche Mittel zu verabreichen. „Sie war extremst unruhig und man neigt sofort dazu, ihr mit Tabletten helfen zu wollen.“ Doch das Team in Waibstadt organisierte stattdessen mehr Gesellschaft für Rosi. Mittags etwa bekam sie regelmäßig Besuch vom Sozialen Dienst. Schon bald besserte sich ihr Zustand wieder und erreichte den Stand wie vor dem Unfall. „Es ist wirklich schön zu sehen, wie Menschen auf einmal aufblühen. Sie sind oft auch krank, weil sie die Medikamente nehmen“, so Schramm.

Verordnungen zu häufig und zu lang.

Auf diesen Aspekt verweist auch Professorin Petra Thürmann. Die Klinische Pharmakologin, die an der Uni Witten-Herdecke lehrt, hatte schon 2017 im Pflege-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) Studien aufgezeigt, wonach in Heimen zu häufig und zu lange Psychopharmaka zum Einsatz kommen. 43 Prozent der demenzkranken Bewohner nahmen damals dauerhaft mindestens ein Neuroleptikum ein, also Medikamente gegen Wahnvorstellungen. 30 Prozent erhielten Mittel gegen Depressionen. In vielen anderen Ländern lagen die Verordnungszahlen deutlich niedriger. In Schweden etwa erhielten lediglich zwölf Prozent der Heimbewohner Neuroleptika, in Frankreich 27 Prozent und in Finnland 30 Prozent. Thürmann hält die fünf Jahre alten Zahlen für Deutschland weiterhin für aktuell. Sie habe aus verschiedenen Projekten in Altenheimen nicht den Eindruck gewonnen, dass sich in der Zwischenzeit viel verändert habe.
 
Grund für die Verordnung von Psychopharmaka ist, dass sich bei Menschen mit Demenz im Verlauf der Erkrankung das psychische Erleben verändert. In der Folge legen viele Betroffene ein sogenanntes herausforderndes Verhalten an den Tag: Sie leiden unter starker Unruhe, laufen nachts umher, rufen um Hilfe, werden apathisch, manche werden aggressiv oder sogar handgreiflich. Diese Auffälligkeiten lassen sich teilweise durch Neuroleptika dämpfen. Der massenhafte und dauerhafte Einsatz dieser Präparate sei aber äußerst bedenklich, betont Thürmann, die auch Mitglied im Gesundheits-Sachverständigenrat ist. Da Neuroleptika müde machten, führe das dazu, dass Demenzkranke weniger reaktionsschnell seien und die Sturzgefahr steige. „Die Betroffenen sind dann, wie man landläufig sagt, den ganzen Tag über abgeschossen.“ Würden die Mittel dauerhaft verordnet, trügen sie zudem dazu bei, dass sich die Demenz verschlimmere. „So entsteht ein Teufelskreis“, beschreibt Thürmann. Das sei auch der Grund, warum die Leitlinien einen Einsatz von maximal sechs Wochen vorsähen und die Medikation dann überprüft werden sollte – „man also einen Auslass- oder Dosisreduktionsversuch macht“.

Arzneien helfen nur wenigen.

Wenn 1.000 Patienten mit einer Demenz über drei Monate mit Neuroleptika behandelt würden, dann verbessere sich die Situation gerade einmal für zehn bis 20 Prozent, schildert Thürmann. Auf der anderen Seite gebe es rund ein Prozent mehr Todesfälle, etwa aufgrund von Herzrhythmusstörungen und 20 zusätzliche Schlaganfälle, Behinderungen, Gangstörungen. Die Demenz werde bei einer dauerhaften Verordnung oft noch schlimmer. Vor allem sei da die extreme Müdigkeit. Oftmals gleiche der Effekt einer „pharmakologischen Freiheitsberaubung“, denn die Wirkung entspricht im Prinzip der einer mechanischen Fixierung: „Mit einer großen Menge Neuroleptika kriegt man jeden Menschen still und er liegt nur noch da und sagt nichts mehr“, erläutert die Pharmakologin. Die meisten der Psychopharmaka seien für Menschen mit Schizophrenie oder bipolarer Störung und damit für Jüngere zugelassen.

Mehr Zuwendung kann eine Alternative zu Psychopharmaka bei Demenz sein.

„Die Medikation müsste daher sehr kritisch und sehr genau überwacht werden. Bei unseren Untersuchungen in den Heimen konnten wir jedoch feststellen, dass das in der Regel nicht der Fall ist“, so Thürmann. Nach sechs Wochen werde die Behandlung so gut wie nie beendet oder überprüft. Vielmehr werde das Rezept vom Arzt immer wieder neu ausgestellt. „Folglich wird hier permanent gegen medizinische Leitlinien verstoßen.“ Abgesehen davon, dass es schwierig sei, einen Psychiater überhaupt zu einer Visite ins Altenheim zu bekommen. Die Hausärzte wiederum hielten sich meist aus der fachärztlichen Verordnung heraus.

Doch Thürmann will den Ärzten nicht generell einen Vorwurf machen. Die meisten von ihnen wollten helfen und hätten oft keine andere Wahl, als Medikamente zu verschreiben, wenn sie etwa von den Pflegekräften Situationen geschildert bekämen wie: „Frau S. hat schon wieder die Blumentöpfe aus dem Fenster geworfen, wo unten die anderen Heimbewohner im Garten spazieren gehen.“ Es sei dann nicht die Aufgabe des Mediziners, die Pflegekräfte im Umgang mit aggressiven oder depressiven Heimbewohnern zu schulen, so die Wissenschaftlerin. Und wenn ein Bewohner die Zimmernachbarn in der Nacht wachhält oder der Nachtschwester permanent hinterherläuft, dann neigt auch das Personal in Heimen schnell dazu, nach medikamentösen Hilfsmitteln zu rufen.

Viele Alternativen zu Antipsychotika.

Es gebe eine ganze Reihe von Alternativen zum Einsatz solcher Medikamente, so Thürmann. Das Spektrum reiche von beruhigenden Massagen, basaler Stimulation, Klangschalen, dem Einsatz ätherischer Öle, biografiebasierten Angeboten etwa mit bestimmten Erinnerungsgegenständen bis hin zu Musik- und Beschäftigungstherapie. „Das alles sind Möglichkeiten, um das verwirrte Gehirn zu sortieren und zu beruhigen.“ Oft seien es kleine Dinge, die Menschen mit Demenz dazu brächten, unruhig oder gar aggressiv zu sein, die aber leicht beseitigt werden könnten. Die Expertin nennt ein Beispiel: „Die kleinen Lämpchen neben Lichtschaltern, die im Dunkeln rot leuchten, können bei Patienten massive Angst und Erregung auslösen. Da hilft ein Streifen Hansaplast und plötzlich ist alles gut, auch ohne Neuroleptikum.“
 
Ähnliche Erfahrungen haben auch Schramm und sein Team in Waibstadt gemacht. Demenzkranke reagierten etwa auf zu viel Lärm und „Halligalli“ und liefen weg. Oder jemand geht ständig zum Klo, weil ihm eine andere Beschäftigung fehlt. Ein anderer ist vielleicht aggressiv, weil er im Speisesaal nicht neben einer bestimmten Person sitzen möchte, dies aber nicht äußern kann. „Sitzordnungen können in so einem Fall Demenzkranken richtig zusetzen“, weiß Schramm. Einen Bewohner in Waibstadt lassen die Pflegekräfte tagsüber nun an seinem Rollator rumschrauben oder eine Wand aus Schuhen bauen. „Er hat jetzt eine Beschäftigung, auch wenn sie für uns nicht sinnvoll erscheinen mag“, erläutert Biancorosso. Anderen hilft es, mit den Pflegekräften nach draußen zu gehen – die Eindrücke, die Bewegung, die frische Luft machen ebenfalls ruhiger und zufriedener und vertreiben oft die unter alten Menschen weit verbreiteten Schlafstörungen. Auch Massagen und Aromatherapien kommen im Johanniter-Haus zum Einsatz.

Schmerzen oft Grund für Auffälligkeiten.

Ein häufiger Grund für Unruhe bei Demenzkranken sind Schmerzen, die sie aber nicht benennen können. „Oft wird erst spät oder gar nicht festgestellt, dass eine Bewohnerin vielleicht randaliert, weil sie große Schmerzen hat“, weiß Professorin Thürmann. Heimleiter Schramm berichtet etwa von einem 86-Jährigen mit einem eingeklemmten Hodenbruch. Die Ärzte hatten entschieden, den alten Mann nicht mehr zu operieren, weil von einem solchen Eingriff letztlich auch eine Gefahr ausgeht. Der Heimbewohner war jedoch zeitweise aggressiv, fuhr Mitbewohner mit dem Rollator an. Dann litt er wieder unter depressiven Episoden. Die Kommunikation mit ihm war schwierig. Der Mann bekam Antidepressiva, Benzodiazepine und ein Neuroleptikum. Die Demenz sei durch die Mittel immer schlimmer geworden. Irgendwann drängte das Heim darauf, den Hodenbruch doch zu operieren, da die Mitarbeiter die Schmerzen hinter dem auffälligen Verhalten vermuteten. Der Effekt: „Nach der OP hat er keine Psychopharmaka mehr gebraucht. Er hat sich für seine Umgebung interessiert und wieder gelacht“, berichtet Schramm.

Ein Verzicht auf Psychopharmaka kann sich auf Menschen mit Demenz positiv auswirken.

Das Johanniter-Haus in Waibstadt hat sich die Forschung nach den Gründen für ein auffälliges Verhalten auf die Fahnen geschrieben. „Ursachensuche ist das Allerwichtigste“, so der Heimleiter. Dazu gehört die Analyse: Wann tritt das Verhalten auf und unter welchen Bedingungen nicht? Was hilft und was verschärft die Situation? Um über die Bewohner zu sprechen, Absetzversuche zu planen und Alternativen zur Medikamentengabe zu erörtern, treffen sich Heimleitung, Pflegedienst- und Wohnbereichsleitung, der Soziale Dienst und die Qualitätsbeauftragte monatlich im Steuerungsgremium.

Pflegekräfte spielen eine wichtige Rolle.

Wichtig ist es Schramm, die Pflegekräfte bei dem Vorhaben mitzunehmen und ihnen nicht nur Vorgaben zu machen. „Es gab vereinzelt Mitarbeiter, die von dem Weg überzeugt werden mussten.“ Eine Studie zeigt, dass das Pflegepersonal beim Psychopharmaka-Einsatz eine Schlüsselrolle einnimmt. Das WIdO hatte im Jahr 2017 2.300 Pflegekräfte befragt. Hierbei zeigte sich, dass mehr als vier von fünf Pflegekräften (84 Prozent) darauf hinwirken, dass Ärzte solche Mittel verordnen, mehr als ein Viertel (27 Prozent) sogar regelmäßig. Andererseits halten aber auch die meisten Befragten nicht-medikamentöse Ansätze für wirksam. Doch nach Angaben von 56 Prozent führt Zeitdruck dazu, dass diese Alternativen teilweise zu wenig zum Einsatz kommen. Für den Arzt selbst sei es oft eine „Verzweiflungstat“, erneut ein Rezept auszustellen, beschreibt Thürmann. „Wenn er hört, dass der Bewohner in der letzten Nacht wieder randaliert hat, dann wird er einen Teufel tun und sagen: Dann machen wir jetzt mal einen Absetzversuch.“

Die Pharmakologin verweist darauf, dass das Personal vielerorts nicht gut genug geschult und zudem knapp sei, es sich also sowohl um ein Wissens- wie auch ein Zeitproblem handele. Und selbst wenn Pflegekräfte erahnten, dass Medikamente vielleicht in zu großer Menge eingesetzt werden, fänden sie bei den Ärzten oft kein Gehör oder trauten sich nicht, die Verordnung infrage zu stellen. „Pflegekräfte müssen stärker für eine leitliniengerechte Gabe von Psychopharmaka sensibilisiert werden“, fordert daher WIdO-Expertin Dr. Antje Schwinger, die 2017 an der Untersuchung zum Psychopharmaka-Einsatz beteiligt war.
 
Da das Team in Waibstadt eine große Entschlossenheit zeigte, ließen sich die Ärzte vor Ort von Anfang an weitgehend überzeugen, den Weg mitzugehen. Denn oft sind es Rat- und Hilflosigkeit, die zur Medikamentenverschreibung führen. „Wenn man den Ärzten klarmacht, dass es das Beste für den Patienten ist, die Medikamente nur im Notfall einzusetzen und dann auch nur befristet, dann machen sie in der Regel mit“, so Schramm. Angehörige werden vom Johanniter-Heim dann einbezogen, wenn sie auch sonst über Medikamentenumstellungen ihres Familienmitglieds informiert werden wollen. Und natürlich müssen geistig fitte Bewohner selbst in die Tablettenänderungen einwilligen. Sowohl sie wie auch einzelne Angehörige seien nicht immer sofort bereit, sich auf eine Dosis­reduktion einzulassen, meist weil über einen langen Zeitraum eine Gewöhnung an bestimmte Pillen eingetreten sei. „Wir haben unsere Argumente dann in Abständen immer mal wieder vorgetragen. Viele entschieden sich dann später, den Versuch zu wagen“, so Schramm.

Neue demenzkranke Bewohner kommen meist mit einer entsprechenden Psychopharmaka-Verordnung ins Heim. Zu Hause wurden sie in der Regel schon von Angehörigen gepflegt, was sich oft schwierig gestaltete. Ärzte versuchen dann mit Medikamenten die Verhaltensauffälligkeiten in den Griff zu bekommen, damit die Angehörigen nachts durchschlafen oder am Tag mal durchschnaufen können.

Zu viele Ärzte in den Heimen.

Thürmann weist noch auf ein anderes Problem hin: In den Einrichtungen seien zu viele verschiedene Mediziner im Einsatz. „Im ungünstigsten Fall sind bei 40 Heimbewohnern 40 Hausärzte zuständig, von den Fachärzten ganz zu schweigen. Wie wollen Sie da intervenieren?“ Allerdings gebe es auch gute Gegenbeispiele, etwa von Neurologen oder Psychiatern, die ihre Praxis um die Ecke eines Altenheims hätten und oft vorbeischauten. Allen, die ein Heim für einen Familienangehörigen suchen, empfiehlt Thürmann, sich die jeweilige Einrichtung genau anzusehen und etwa darauf zu achten, wie mit den Menschen mit Demenz umgegangen werde, wie die Expertise im Umgang mit solchen Patienten sei und ob regelmäßig ein Psychiater vorbeikomme. In vielen Heimen empfehle die Leitung mittlerweile, dass neue Bewohner zu einem ihr bekannten Hausarzt oder Psychiater wechseln, der auch die anderen Bewohner betreut. Die Mediziner kommen dann entsprechend häufig vorbei und es besteht ein gutes Zusammenspiel mit den Mitarbeitern der Einrichtung.

Verordnungen als Qualitätskriterium.

Wie Thürmann bedauert WIdO-Expertin Schwinger, dass in Deutschland kein Qualitätskriterium für Heime zur Anwendung kommt, das die Antipsychotika-Verordnungsraten bei demenziell erkrankten Heimbewohnern misst. „International ist eine solche Messung seit vielen Jahren ein klassischer und etablierter Indikator bei der Qualitätsberichterstattung, so unter anderem in Kanada, den USA und den Niederlanden“, erläutert Schwinger. Im Rahmen des Innovationsfonds-Projekts „Qualitätsmessung in der Pflege mit Routinedaten“ (QMPR) hat das WIdO deshalb unter anderem auch einen Qualitätsindikator entwickelt, der sich auf die Verordnungen bezieht. Das Institut wirbt nun dafür, dass das Modell Eingang in die Praxis findet und sich das deutsche Qualitätsverständnis entsprechend erweitert. „Zurzeit wird bei der Qualitätsmessung zu sehr auf pflegesensitive Dinge geschaut“, bemängelt Schwinger. Auch Thürmann führt an, dass bei Kontrollen in den Heimen zwar darauf geachtet werde, dass Medikamente trocken und sauber aufbewahrt würden, nicht aber darauf, wie viel Prozent der Bewohner mit Demenz Psychopharmaka oder Beruhigungsmittel verabreicht bekämen.

Schramm und sein Team haben sich für das 78-Betten-Haus in Waibstadt noch viel vorgenommen, zumal regelmäßig neue Bewohner kommen, die unter dem Einfluss von Psychopharmaka stehen. Alle Akteure haben mit dem Projekt inzwischen so etwas wie eine Berufung gefunden. „Die Erfolge beflügeln uns“, sagt Schramm. Seine Erfahrungen hat er mit allen 17 Johanniter-Häusern im Bereich Süd geteilt. Auch sie wollen nun den „Waibstadter Weg“ gehen.

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
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