Beschluss der Schiedsstelle ungültig
Der Gemeinsame Bundesausschuss darf für Arzneimittel ohne Konkurrenz (Solisten) keine Nutzenbewertung erstellen. Ein Vergleich mit Off-Label-Anwendungen ist unzulässig. Darauf basierende Schiedssprüche und Verhandlungen über den Erstattungspreis sind unwirksam. Dies hat das Bundessozialgericht entschieden. Von Anja Mertens
– B 3 KR 14/21 R –
Bundessozialgericht
Pharmaunternehmen müssen
für jedes in den deutschen Markt eingeführte erstattungsfähige Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff den Zusatznutzen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie nachweisen. Auf Basis des Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) über die Nutzenbewertung verhandeln der GKV-Spitzenverband und das Unternehmen den Erstattungsbetrag. Können sie sich binnen sechs Monaten nicht einigen, setzt eine Schiedsstelle innerhalb von drei Monaten den Erstattungspreis fest (Paragraf 130b Sozialgesetzbuch V). Die Schiedsstelle setzt sich aus einem unparteiischen Vorsitzenden, zwei weiteren unparteiischen Mitgliedern sowie aus jeweils zwei Vertretern des GKV-Spitzenverbandes und des Pharmaherstellers zusammen. Akzeptiert das Unternehmen den von der Schiedsstelle festgelegten Erstattungspreis nicht, kann es dagegen klagen, wie in dem Fall, der dem Bundessozialgericht (BSG) zur Entscheidung vorlag.
Kein Beleg für Zusatznutzen.
Ein Pharmahersteller vertreibt das seit 2010 zugelassene Medikament Rapiscan® mit dem Wirkstoff Regadenoson. Dabei handelt es sich um ein Diagnostikum, das als pharmakologischer Stressauslöser bei Herzuntersuchungen zur kurzzeitigen Gefäßerweiterung eingesetzt wird. Nach der Erstzulassung im Jahr 2010 für einen bestimmten Typ der bildgebenden Herzuntersuchung (Myokardperfusionsaufnahmen) wurde Regadenoson 2019 für das weitere Anwendungsgebiet Messung der fraktionellen Flussreserve zum Erkennen von Engstellen der Herzkranzgefäße zugelassen. Die Nutzenbewertung ergab, dass für den Wirkstoff Regadenoson im neuen Anwendungsgebiet kein Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie belegt sei. Im neuen Anwendungsgebiet könnten die Wirkstoffe Adenosin und Nitroprussid eingesetzt werden.
Lässt sich eine Vergleichstherapie nicht bestimmen, kann es keinen Beschluss zur Nutzenbewertung geben, so die Bundesrichter.
Nachdem die Verhandlungen über den Erstattungsbetrag gescheitert waren, rief das Pharmaunternehmen die Schiedsstelle an. Diese setzte auf der Grundlage des GBA-Beschlusses den Erstattungsbetrag und weitere Vereinbarungsinhalte fest. Daraufhin verklagte das Unternehmen die Schiedsstelle. Deren Schiedsspruch sei aufzuheben und die Schiedsstelle zu einer neuen Entscheidung zu verpflichten. Der GBA-Beschluss sei rechtswidrig gewesen. Das Landessozialgericht wies jedoch die Klage ab. Der GBA-Beschluss sei nicht zu beanstanden und der darauf beruhende Schiedsspruch rechtmäßig. Gegen dieses Urteil legte die Pharmafirma Revision beim BSG ein – mit Erfolg.
Vergleichstherapie muss existieren.
Die obersten Sozialrichter führten aus, dass der GBA nach Paragraf 35a SGB V den Nutzen von erstattungsfähigen Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen bewerte, und zwar insbesondere den Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie, das Ausmaß des Zusatznutzens und seine therapeutische Bedeutung. Diese Nutzenbewertung sei ausschließlich als eine Zusatznutzenbewertung im Verhältnis zu einer vom GBA jeweils zu bestimmenden zweckmäßigen Vergleichstherapie angelegt. Ebenso knüpfe der Mechanismus der Preisbestimmung im Erstattungsbetragsverfahren nach Paragraf 130b SGB V ausschließlich an Nutzenbewertungen an, die im Verhältnis zu einer nach Paragraf 35a SGB V und dessen Maßgaben zu bestimmenden Vergleichstherapie vorgenommen worden sind. Lasse sich eine zweckmäßige Vergleichstherapie nicht bestimmen, könne es keinen Beschluss zur Nutzenbewertung geben und ein begonnenes Nutzenbewertungsverfahren sei zu beenden.
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Ferner stellte das BSG klar, dass die Zusatznutzenbewertung eines therapeutischen Solisten rechtswidrig und unwirksam sei. Denn bei der Nutzenbewertung nach Paragraf 35a SGB V gehe es um den Zusatznutzen im Vergleich zu einer vom GBA bestimmten zweckmäßigen Vergleichstherapie. Da aber bei einem therapeutischen Solisten eine zweckmäßige Vergleichstherapie nicht bestimmt werden könne, sei über die Nutzenbewertung als Basis für das Erstattungspreisverfahren nicht zu beschließen. Sei für ein Anwendungsgebiet nur ein Präparat zugelassen und komme nur eine medikamentöse Behandlung in Betracht, könne der zulassungsüberschreitende Einsatz anderer Arzneimittel (Off-Label-Use) grundsätzlich nicht als Vergleichstherapie gegenüber einem Solisten angesehen werden.
Gestaltungsspielraum überschritten.
Ferner stellte das BSG fest, dass der GBA in seinem Nutzenbewertungsbeschluss zwar keine konkrete Arzneimittelanwendung als zweckmäßige Vergleichstherapie bestimmt, sondern eine „pharmakologische Stressauslösung nach Maßgabe des Arztes“ angeführt habe. Dies zielte aber auf die Wirkstoffe Adenosin und Nitroprussid im Off-Label-Use und damit auf eine Vergleichstherapie, die seit der erweiterten Zulassung von Rapiscan® für das Anwendungsgebiet FFR-Messung nicht mehr bei gesetzlich Krankenversicherten zum Einsatz kommen konnte. Damit habe der GBA seinen Gestaltungsspielraum als Normgeber überschritten. Die Unwirksamkeit seines Beschlusses zur Nutzenbewertung berühre den Bestand des Schiedsspruchs der beklagten Schiedsstelle. Denn ein rechtswidriger und unwirksamer Beschluss könne keine Grundlage für das Erstattungsbetragsverfahren nach Paragraf 130b SGB V sein. Eine Verpflichtung der Schiedsstelle, erneut über den Erstattungspreis zu entscheiden, gebe es nicht. Denn das Festsetzen eines Erstattungsbetrags ohne zweckmäßige Vergleichstherapie als Preisanker sei unzulässig.
Kommentar: Die Entscheidung des Bundessozialgerichts hat finanzielle Konsequenzen für die Kassen. Therapeutische Solisten unterliegen keiner Erstattungsbetragsverhandlung und werden zum hochpreisigen Preisanker für nachfolgende Wirkstoffe im Anwendungsgebiet. Nur der Gesetzgeber kann diese negativen Folgen stoppen.