Die Graphic Novel „140 Jahre AOK. Eine Geschichte der Menschen“ macht Sozialgeschichte anschaulich.
Selbstverwaltung

Das Solidarprinzip feiert Geburtstag

Mit einer außergewöhnlichen Bildergeschichte lässt die AOK 140 Jahre Revue passieren. Wie sich die Errungenschaften der Sozialversicherung in Zukunft sichern lassen, diskutierten bei einem Festakt Politiker, Gewerkschafter und Arbeitgebervertreter. Von Frank Brunner

In der mit flottem Stift

gezeichneten Szene herrscht das Chaos: Dutzende Menschen protestieren vor der Charité. „Abreißen“, fordert ein Demonstrant, sein Nebenmann schwenkt ein Transparent, auf dem die Parole prangt: „Neubau jetzt“. Eine Dame im Kleid und mit Hut kämpft sich durchs Tohuwabohu, erreicht mit ihrer Dienstbotin den Eingang mit Mühe und Not. Es ist das Jahr 1893 und Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Krankenkassenchefs organisieren einen Boykott gegen unhygienische Zustände in der Berliner Klinik.
 
Mehr als ein Jahrhundert später steht Dr. Susanne Wagenmann auf einer Bühne im Haus des AOK-Bundesverbandes und an der Wand hinter ihr ist die Szene vor der Charité zu sehen. Sie ist Teil der Graphic Novel „140 Jahre AOK. Eine Geschichte der Menschen“, die die AOK-Aufsichtsratsvorsitzenden Susanne Wagenmann und Knut Lambertin zum Jubiläum in Berlin präsentierten.

Autonomie wahren.

Im Juni 1883 verabschiedete der Deutsche Reichstag das „Gesetz betreffend der Krankenversicherung der Arbeiter“. Fortan waren alle Beschäftigten im Notfall abgesichert. Fast alle. Seinerzeit ausgenommen: Dienstbotinnen, wie Luise Schaller, die junge Frau aus dem Cartoon. Die Dame mit Hut übernimmt in der Bildergeschichte die Kosten für die Behandlung ihrer kranken Angestellten.

Kein bisschen angestaubt: Was die gesetzliche Krankenversicherung bis heute leistet, haben Nino Bulling und Lutz Brocker in Bild und Text gesetzt.

Im Jahr 2023 sind mehr als 74 Millionen Menschen in einer gesetzlichen Krankenkasse versichert, davon rund 27 Millionen in einer der elf AOKs. „Uns gelingt es, wirtschaftliche und soziale Interessen zum Ausgleich zu bringen“, betonte Wagenmann zum Jubiläum. Sie warnte vor Versuchen, die Autonomie von Ärzten, Arbeitgebern, Klinikverbänden und Krankenkassen zu beschränken. „Es gibt immer wieder Eingriffe der Politik in die Selbstverwaltung, gegen die wir uns wehren müssen.“

Verlässliche Finanzierung gefordert.

Als erster Gratulant erschien Friedrich Merz beim AOK-Festakt. In einer Videobotschaft lobte der CDU-Parteivorsitzende und Chef der Unions-Bundestagsfraktion die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) als „Stabilitäts­anker für Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser“. Die AOK sei „ein verlässlicher Partner, der Sicherheit und Zuversicht vermittelt“.

Auf Merz folgte Saskia Esken, ebenfalls per Video: „Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit – das sind die Werte, die bis heute sowohl die Sozialdemokratie als auch die soziale Selbstverwaltung ausmachen“, erklärte die Vorsitzende der Sozialdemokraten. Die Selbstverwaltung stehe „vor erheblichen Herausforderungen“, nicht zuletzt „durch den demografischen Wandel“. Das erfordere „grundlegende Reformen“. Diese müssten die „verlässliche Finanzierung“ einer „hochwertigen medizinischen Versorgung“ und „stabile Beitragssätze“ für die Versicherten sicherstellen. Esken stellte klar, in welche Richtung der Zug keinesfalls rollen dürfe: „Für die SPD ist eine Ökonomisierung weiter Teile der öffentlichen Daseinsvorsorge keine Lösung, auch nicht im Gesundheitswesen.“

Die Sozialversicherung hat für viele Fälle eine Lösung.

Ähnlich äußerte sich ihr Parteifreund Professor Karl Lauterbach. Die GKV gehöre mit ihrem Solidarprinzip „zum Fundament unseres Sozialstaates“, unterstrich der Bundesgesundheitsminister.

Expertise zum Kassen-Defizit.

Nach dem fraktionsübergreifenden Bekenntnis zur Selbstverwaltung verwandelte sich die Feierstunde in eine Klartextrunde – und dafür sorgte ein ehemaliger Referatsleiter in den Gesundheitsministerien Nordrhein-Westfalens und Brandenburgs. Hartmut Reiners formulierte jahrelang die Reformen der GKV mit, publizierte Bücher zum Thema, gilt als Koryphäe. „Damit hier keine Missverständnisse entstehen“, sagte Reiners gleich zu Beginn seines Vortrags, „das aktuelle Defizit der GKV ist vor allem Folge von ineffektiven Strukturen des Gesundheitswesens und damit von politischen Versäumnissen und Fehlentscheidungen.“ Reiners sieht drei Möglichkeiten, die chronische Krise anzugehen: höhere Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt, höhere Zuzahlungen der Versicherten oder eine Reform der Versorgungsstrukturen mit moderaten Beitragssteigerungen. Heilmethode Nummer eins, eine steuerfinanzierte GKV, sei ein „fiskalischer Rohrkrepierer“, der weder Versicherte noch Arbeitgeber entlaste, sondern spürbare Steuererhöhungen bewirke. „Ein Nullsummenspiel“, so Reiners.

Statement gegen Selbstbeteiligungen.

Option zwei sezierte er besonders akkurat. Aktueller Anlass: Finanzwissenschaftler Professor Bernd Raffelhüschen hatte vorgeschlagen, dass sich Kassenpatienten an ihren Behandlungen jährlich mit bis zu 2.000 Euro beteiligen. Reiners bezweifelte die Evidenz dieser Therapie, verglich ihre Wirkung mit einem „Schlag ins Wasser“ und attestierte Raffelhüschen die „Unbelehrbarkeit von Akademikern“. Seine Diagnose: Selbstbeteiligungen seien entweder hoch und senkten die Ausgaben, hätten aber negative soziale, ökonomische und gesundheitliche Effekte. Oder sie seien niedrig und sozial verträglich, dann jedoch ohne Auswirkungen auf die Ausgaben. Reiners plädierte deshalb für die dritte Variante. „Einzig rationale Lösung“ seien Beiträge, die sich an der Produktivitätsentwicklung orientierten. Zudem müsse die „unsinnige Mauer zwischen ambulanter und stationärer Versorgung“ verschwinden.

Diskussion über Machtverhältnisse.

In der anschließenden Podiumsdiskussion debattierten die Gesundheitspolitikerinnen Heike Baehrens (SPD) und Simone Borchardt (CDU) mit Alexander Gunkel von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und Anja Piel (DGB) über die geplante Gesundheitsreform. Christdemokratin Borchardt kritisierte eine „Vollkaskomentalität“ bei einem Teil der Versicherten und fügte hinzu: „Wenn wir ehrlich sind, können wir uns das die nächsten Jahre nicht mehr leisten, weil wir immer älter, die Ausgaben immer höher werden.“ Gewerkschafterin Piel widersprach. Der Anspruch auf die beste Behandlung sei ein berechtigtes Anliegen. Borchardt wiederum verwies auf Patienten, die Notaufnahmen besuchten, obwohl sie in Arztpraxen besser aufgehoben wären.

SPD-Gesundheitspolitikerin Heike Baehrens kritisierte die aus ihrer Sicht große Macht der Krankenkassen gegenüber Leistungserbringern, wie Ärzten, Apothekern und Klinikbetreibern. Arbeitgebervertreter Alexander Gunkel wollte dem nicht folgen: „Wir haben in Deutschland innerhalb der EU das teuerste Gesundheitswesen – das spricht nicht dafür, dass Leistungserbringer schlechte Möglichkeiten haben im Aushandeln von Bedingungen und Verträgen gegenüber den Krankenkassen.“

Sozialversicherung erklären.

„Wir stehen vor der Herausforderung, dass viele Leute nichts mehr über Sozialversicherungen wissen“, sagte Knut Lambertin, Versichertenvertreter im AOK-Aufsichtsrat. Deshalb feiere die AOK ihren Geburtstag nicht mit dem üblichen Sammelband, sondern mit einer Graphic Novel. „Auch eine altehrwürdige Institution ist in der Lage, Themen neu aufzugreifen.“
 
Statt in Aufsätzen voller Fachchinesisch beleuchten Zeichner Nino Bulling und Autor Lutz Brocker 140 Jahre Sozialversicherung in mal witzigen, mal ernsten Anekdoten vom Kaiserreich über Weimar, Weltkrieg, Wirtschaftswunder und Wiedervereinigung bis zu den aktuellen Turbulenzen. Leser wissen deshalb, dass der Protest vor der Charité erfolgreich war. 1897 begann die Sanierung des Spitals. Einige Jahre später konnten die Ortskrankenkassen durchsetzen, dass auch Dienstbotinnen, wie Luise Schaller, im Krankheitsfall abgesichert waren. Ihre und die anderen Geschichten im Buch reisen demnächst durch Deutschland, werden als Wanderausstellung AOK-Filialen schmücken. „Wir wollen Kolleginnen und Kollegen, Besucherinnen und Besuchern zeigen“, sagte Knut Lambertin zum Schluss, „dass Sozialversicherung für viele Fälle in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Lösung hat.“

Frank Brunner ist Redakteur im KomPart-Verlag.
Bildnachweis: Illustrationen von Nino Bulling; Foto Startseite: iStock.com/White Bear Studio