„Wir müssen das Vertrauen in die Prozesse stärken“
Die Einführung von Corona-Impfstoffen in Europa ist ein spektakulärer Erfolg, sagt Dr. Emer Cooke. Die Direktorin der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) will nach den Erfahrungen in der Pandemie die Kommunikation mit der Öffentlichkeit intensivieren. Zudem zieht sie eine beschleunigte Zulassung für weitere Produkte in Betracht.
Frau Dr. Cooke, Sie sind in Ihrem Heimatland Irland im Februar zur „Europäerin des Jahres“ gekürt worden. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Emer Cooke: Für mich ist dies eine Anerkennung der enormen Arbeit, die meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die EMA, die Experten und unser Netzwerk geleistet haben, um die europäische Bevölkerung insbesondere auf dem Höhepunkt der Pandemie zu unterstützen. Ich bin stolz darauf, dass diese harte Arbeit vieler Menschen, die unbesungene Helden sind, dazu geführt hat, dass wir weniger als ein Jahr nach dem Auftauchen einer neuen Krankheit sehr schnell Zugang zu hochwertigen und wirksamen Impfstoffen hatten. Das ist eine große Leistung und geschah nicht durch Zauberei.
Können Sie die Arbeit der EMA im Kampf gegen die Pandemie beschreiben?
Cooke: Es sind jetzt acht Corona-Impfstoffe auf dem Markt. Die ersten Impfstoffe zur Verfügung zu haben, war ein großer Fortschritt. Aber auch nach der Zulassung eines Impfstoffs gibt es noch viel zu tun. Wir müssen dafür sorgen, dass wir genügend Nachschub haben, wir müssen unser Wissen über die Impfstoffe weiter ausbauen. Auch müssen wir die Vakzine ständig überwachen, um neue Nebenwirkungen rechtzeitig zu erkennen.
Die Sicherheitsüberwachung der EMA geht also weiter?
Cooke: Wir überwachen ein Produkt im Grunde für immer und ewig, nicht nur für ein paar Tage nach der Zulassung. Selbstverständlich ist die Intensität unserer Arbeit am höchsten, wenn die größte Anzahl von Dosen in Umlauf gebracht wird. Dann erhält man die meisten Informationen und muss diese sehr schnell verarbeiten. Wenn dann die Zahl der Bürger, die neue Impfstoffe erhalten, abnimmt, ist auch die Häufigkeit der Nebenwirkungen geringer.
Wie funktioniert die Überwachung?
Cooke: Wir hatten für die Covid-Impfstoffe außergewöhnliche Regeln eingeführt. Die europäischen Impfstoffhersteller mussten der EMA monatlich einen Bericht zur Sicherheit ihres Produktes vorlegen. Normalerweise müssten sie die Berichte in den ersten zwei Jahren nach der Zulassung alle sechs Monate einreichen, dann jährlich und dann nach fünf Jahren. Jetzt sind wir bei den Corona-Impfstoffen sozusagen auf dem Weg zu einem stabilen Zustand. Aber es tauchen auch immer wieder neue Berichte von Zwischenfällen auf, die wir auswerten, um zu sehen, ob sie möglicherweise mit den Impfstoffen in Verbindung stehen. Dies ist ein kontinuierlicher Prozess, er ist nur weniger intensiv als früher.
Zur Person
Dr. Emer Cooke ist Direktorin der Europäischen Arzneimittelagentur EMA in Amsterdam. Die gebürtige Irin studierte am Trinity College in Dublin Pharmazie und Betriebswirtschaft. Nach Ende ihres Master-Studiums war Cooke unter anderem in der irischen Arzneimittelregulierungsbehörde, der EU-Kommission und der Weltgesundheitsorganisation WHO tätig. Im November 2020, auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie, übernahm die heute 62-Jährige die Leitung der EMA.
Sie haben die Leitung der EMA in turbulenten Zeiten übernommen. War es eine große Umstellung, plötzlich im Rampenlicht zu stehen?
Cooke: Mein Leben hat sich damals stark verändert. Ich bin nach Amsterdam gezogen, um die Leitung der EMA zu übernehmen zu einer Zeit, in der die Arbeit der Agentur sehr stark im Blickfeld der Öffentlichkeit stand. Das hat mich wirklich ein wenig aus meiner Komfortzone geholt. Ich fand mich in einem ganz anderen Umfeld wieder als mein Vorgänger. Das war eine große Herausforderung, aber auch eine sehr lohnende.
Inwiefern?
Cooke: Es ist eine Chance. Wir bekommen mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Das bedeutet, dass wir unsere Kommunikation sowohl auf persönlicher als auch auf organisatorischer Ebene verstärken müssen. Wir erhalten viel mehr unmittelbares Feedback als in einer Situation ohne Krise. Alles in allem war es für uns eine sehr positive Erfahrung.
Frauen, die ein öffentliches Amt bekleiden, werden im Internet mitunter in erschreckendem Maße angegriffen. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Cooke: Die Sichtbarkeit der Agentur und meine eigene Sichtbarkeit haben mich vielen persönlichen Angriffen ausgesetzt. Ich glaube nicht, dass es unbedingt daran liegt, dass ich eine Frau bin, sondern eher an der Arbeit, die ich mache. Die Öffentlichkeit hat unterschiedliche Ansichten über den Wert unserer Arbeit. Ich denke, man muss einen Schritt zurücktreten und akzeptieren, dass die Welt so funktioniert.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Cooke: Wir haben ein wunderbares Team von Kommunikationsexperten, die sich mit den verschiedenen Fragen, Vorwürfen und manchmal auch Komplimenten, die wir bekommen, auseinandersetzen. Ich denke, man muss hinter dem stehen, was man macht, und von dem überzeugt sein, was die Organisation macht. Es wird immer Menschen geben, die das mehr unterstützen, und solche, die es weniger unterstützen. Das kann man nicht kontrollieren. Wir hören zu und versuchen, die Kommunikation so zu gestalten, dass wir auch Menschen erreichen, die möglicherweise falsch informiert sind.
Die EMA hat acht Sars-Cov-2-Impfstoffe und vier maßgeschneiderte Impfstoffe gegen Omikron zugelassen. Wie fällt Ihr Rückblick auf die Markteinführung aus?
Cooke: Die Einführung von Corona-Impfstoffen in Europa ist ein spektakulärer Erfolg. Die EU-Impfstoffstrategie ermöglichte auf der Grundlage unserer Zulassungen den Zugang zu Impfstoffen in allen 27 Mitgliedstaaten innerhalb von Tagen oder maximal Wochen nach der Zulassung. Wir müssen uns immer wieder in Erinnerung rufen, dass dies eine Erfolgsgeschichte ist. Wir haben über eine Milliarde Dosen Impfstoffe innerhalb der EU ausgeliefert und 2,4 Milliarden Dosen in 160 Länder exportiert. Ich bin sehr stolz auf die Rolle, die die EMA dabei gespielt hat.
Die EMA war die erste Überwachungsbehörde, die auf eine seltene Blutgerinnungsstörung im Zusammenhang mit dem AstraZeneca-Impfstoff aufmerksam gemacht hat.
Cooke: Dass wir eine sehr seltene Nebenwirkung in sehr kurzer Zeit erkannt haben und auch Maßnahmen ergriffen haben, um das Risiko zu minimieren, war eine unglaubliche Leistung. Damals wussten wir noch nicht alles. Es war ein Lernprozess. Zu dieser Zeit herrschte ein hohes Maß an Unsicherheit.
Die Risikokommunikation innerhalb der Europäischen Union war nicht einheitlich?
Cooke: Der Kontext in den verschiedenen Mitgliedstaaten war sehr unterschiedlich. Einige hatten eine breite Palette von Impfstoffen zur Verfügung, andere hatten nur den AstraZeneca-Impfstoff. Das führte zu unterschiedlichen Entscheidungen.
Was haben Sie daraus gelernt?
Cooke: Sehr viel, beispielsweise wie wir diese Art von Herausforderungen in einer Weise kommunizieren, die das Vertrauen in die Systeme und Prozesse erhält. Die unterschiedlichen Vorgehensweisen im Zusammenhang mit dem AstraZeneca-Impfstoff waren für die Bevölkerung schwer nachvollziehbar. Daraus müssen wir lernen und versuchen, das Vertrauen in die Prozesse zu stärken. Das ist für die Zukunft das Wichtigste.
Wir hören zu und versuchen, die Kommunikation so zu gestalten, dass wir auch Menschen erreichen, die möglicherweise falsch informiert sind.
Wie lassen sich Fehlinformationen bekämpfen?
Cooke: Wir müssen die Gründe für verschiedene Sichtweisen verstehen und herausfinden, ob andere Kommunikationswege zum besseren Verständnis beitragen. Wir haben auf jeden Fall versucht, einfacher zu kommunizieren, sodass unsere Botschaft über das Produkt und die Nebenwirkungen klar ist. Wir müssen deutlich vermitteln, was wir wissen und was nicht. Wir haben in Social Listening investiert, um zu verstehen, wie diese Informationen in den Sozialen Medien aufgenommen werden. Das nutzen wir, um unsere Kommunikation anzupassen.
Gibt es Verbesserungsbedarf?
Cooke: Ich denke, wir sollten stärker in verschiedenen Sprachen kommunizieren. Wir müssen mit Experten zusammenarbeiten, die uns sagen können, ob die Bevölkerung unsere Aussagen so wahrgenommen hat, wie wir es beabsichtigt haben. Wir haben auch mit Fachleuten aus dem Gesundheitssystem einzelner Länder zusammengearbeitet, wenn wir gesehen haben, dass es dort ein Problem mit dem Vertrauen in die Impfstoffe gab. Aber das kam ziemlich spät. Ich würde mir wünschen, dass wir damit in Zukunft früher beginnen.
Müssen Soziale Medien stärker gegen Fehlinformationen vorgehen?
Cooke: Es ist für uns als Arzneimittelbehörde sehr schwierig, Sozialen Medien Vorgaben zu machen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass wir die richtigen Botschaften vermitteln. Wenn wir Falschinformationen aufdecken, müssen wir versuchen, dies über die uns zur Verfügung stehenden Kanäle anzusprechen. Darüber hinaus müssen wir mit den Sozialen Medien zusammenarbeiten, um zu sehen, welche Perspektiven sie haben und wie sie zu einer guten Information beitragen können.
Steht die EMA unter Druck, nach den Corona-Impfstoffen das Zulassungsverfahren auch für andere Produkte zu beschleunigen?
Cooke: Wenn wir über die richtigen Informationen und einen umfangreichen Datensatz verfügen, können wir das sicherlich in Erwägung ziehen. Die Herausforderung besteht darin, dass wir dies nicht für alle Produkte tun können. Die Arbeitsbelastung ist groß. Wir müssen sehr genau abwägen, wo wir diese Instrumente einsetzen. Wir haben vor einigen Jahren das PRIME-Programm für prioritäre Arzneimittel aufgelegt, das wir in Zukunft für eine beschleunigte Zulassung in Betracht ziehen könnten. In dem Programm bieten wir Entwicklern und Herstellern eines neuen Produkts eine Beratung für prioritäre Arzneimittel in sehr frühen Entwicklungsphasen an. Wir werden unser Bestes geben, wenn für ein Arzneimittel ein sehr dringender Bedarf im Bereich der öffentlichen Gesundheit besteht und ein ausgereiftes Dossier vorliegt. Dann werden wir sehen, wie wir auch diese Dossiers beschleunigen können.
Was ist der Grund für die Lieferengpässe bei gängigen Arzneimitteln in Europa?
Cooke: Die Ursachen für Engpässe können sehr vielschichtig sein. Ich komme gerade aus einem Meeting, in dem es um die Knappheit von vier Produkten ging. Bei jedem lagen andere Gründe vor. Einige der jüngsten Engpässe sind auf die gestiegene Nachfrage zurückzuführen. Vielleicht wurde der Grundbedarf nicht richtig eingeschätzt, weil im Jahr zuvor die Zahl der zirkulierenden Infektionen, abgesehen von Covid, niedriger war. Wir sehen aber auch Probleme mit den Produktionskapazitäten und damit, dass diese nicht schnell genug ausgebaut werden können, wenn die Nachfrage stark steigt. Und wir sehen Probleme mit einigen Produktionsstätten. Manchmal führt auch der Off-Label-Gebrauch eines Medikaments zu Engpässen.
Ist ein Ende in Sicht?
Cooke: Zur Behebung der Engpässe wird es keine schnelle Lösung geben. Aber wir werden in der Lage sein, an einigen Stellen kurzfristig Abhilfe zu schaffen. Doch wenn zusätzliche Produktionskapazitäten erforderlich sind, geht es in der Regel darum, andere Standorte zu finden. Solche Dinge brauchen Zeit.
Welche Rolle spielt die EMA dabei?
Cooke: Unser Mandat besteht darin, Engpässe, die zu einer Krisensituation im Bereich der öffentlichen Gesundheit führen könnten, zu überwachen und abzumildern. Im Moment betrifft das eine begrenzte Anzahl von Produkten. Wir ermitteln, bei welchen Produkten die Versorgungslage kritisch ist, und überwachen diese Produkte dann intensiv. So haben wir zum Beispiel eine Liste von Antibiotika erstellt, die wir in Vorbereitung auf den nächsten Herbst und Winter einem genauen Monitoring unterziehen. Wir bitten die EU-Mitgliedstaaten um Bedarfszahlen, damit wir diese an die Unternehmen weitergeben und so besser vorbereitet sind. Wir versuchen, Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen. Wir sind auch verpflichtet, eine Plattform zur Überwachung von Engpässen einzurichten, eine IT-Plattform für kritische Arzneimittel, die alle Daten über Angebot und Nachfrage in den Mitgliedstaaten enthält.
Sehen Sie erste Erfolge?
Cooke: Wichtig sind der Informationsaustausch zwischen den EU-Mitgliedstaaten und die direkte Kommunikation mit den Unternehmen im Namen der Europäischen Arzneimittelagentur, damit nicht jedes Land einzeln mit den Unternehmen Kontakt aufnehmen muss. Wir sehen hier Erfolge, aber es bleibt noch viel zu tun.