Elternstress schadet Kindern
Doppelbelastung durch Familie und Beruf, Schlafmangel und fehlende Unterstützung zerren an den Nerven von Müttern und Vätern. Das kann ihren Nachwuchs krank machen, warnt Kinderärztin Dr. Karella Easwaran.
Es ist ein regnerischer Montagmorgen
in Köln-Sülz: Das Wartezimmer in meiner Praxis ist rappelvoll, und das Telefon klingelt ununterbrochen. Die Grippewelle hat Köln erreicht, und wir arbeiten auf Hochtouren. Die meisten Kinder haben Schnupfen, Husten und oft auch Fieber, andere Hals- oder Ohrenschmerzen. Und alle gemeinsam haben sie sehr gestresste Eltern. „Frau Doktor, schauen Sie bitte, ob Max die Grippe hat, ihm geht es nicht schlecht, aber ich habe Angst, dass er sich irgendwo angesteckt hat.“ Oder: „Luisa ist zwar wieder fit, aber sie hatte am Freitag etwas Fieber, und ich wollte sicher sein, dass alles in Ordnung ist.“ Oder: „Ich weiß, dass sich das blöd anhört, aber ich wollte Lilly diese Woche nicht in die Kita schicken, weil alle erkältet sind, und es gibt Scharlach in der Gruppe. Könnten Sie schauen, ob sie Streptokokken hat, es gab ein Schild im Kindergarten und ich wollte das ausschließen.“ Viele Eltern interpretieren kleinste Auffälligkeiten als schwere Krankheiten, was schlimmstenfalls zu latenten Panikzuständen führt. Sie sind unsicher und haben viel mehr Angst um ihre Kinder als frühere Generationen.
Nicht nur saisonale Erkrankungen wie die Grippe versetzen Mütter und Väter in Aufregung. Ein Kind verändert das Leben, und allein die Anpassung daran bedeutet Stress. Dazu kommt häufig ein chronischer Schlafmangel, der die Reizbarkeit verstärkt. Auch Ernährungsfragen, Probleme im Kindergarten oder die Doppelbelastung durch Familie und Beruf zerren an den Nerven. Früher wohnten Familien zusammen, hatten Großeltern in der Nähe und Nachbarn, die man kannte. Familien haben als Puffer gegen Stress sehr gut geholfen. Heute sind Eltern eher allein auf sich gestellt, kennen die Nachbarn selten. Jeder versucht, irgendwie alleine klarzukommen. Viele Frauen sind vor und nach der Geburt ängstlich. Die wichtigste Stütze, die Hebamme, ist inzwischen nicht mehr selbstverständlich und bei Bedarf verfügbar. Familien leben weit weg und Freunde haben keine Zeit.
Die Zahl der Mütter mit der Diagnose Erschöpfung oder Burnout steigt stetig.
Stress schadet der Gesundheit der Eltern und damit den Kindern. Chronisch ausgeschüttete Stresshormone haben eine Reihe von unerwünschten Nebenwirkungen wie Veränderungen in den Gefäßwänden, die zu Bluthochdruck und Gefäßverkalkungen führen, oder haben Folgen wie Burnout, Depression oder sogar Demenz. Die Zahl der Mütter mit der Diagnose Erschöpfung oder Burnout steigt stetig. Nach einer Bedarfsstudie könnten 20 Prozent aller Mütter mit minderjährigen Kindern sofort eine Kur beantragen. Da der Stress der Eltern die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen beeinflusst, steigt in den letzten Jahren auch unter ihnen die Zahl der Erkrankten eindeutig und stetig. Stress der Eltern führt zur Bindungsstörung bei den Kindern, das zeigt die steigende Zahl der Klinikaufenthalte von depressiven Kindern und Jugendlichen. Laut Weltgesundheitsorganisation besteht dringender Handlungsbedarf sowohl in der Versorgung von Frauen vor und nach der Geburt, wie auch in der Versorgung von Jugendlichen, die aufgrund von Dauerstress an einer Depression leiden.
Als Kinderärztin ist es mir ein Anliegen, die Wahrnehmung dafür nicht nur bei den Eltern, sondern in der Gesellschaft und bei den Krankenkassen zu wecken. Da die Auswirkungen auf die Gesundheit so groß sind, müssen wir unsere Lebensumstände modifizieren und lernen, neue Wege zu gehen. Die Stärke, die Eltern und Familien brauchen, um sich auf die Anforderungen des Alltags einzustellen, kommt aus ihnen selber. Das Geheimnis liegt darin, diese Kraft zu erkennen und einzusetzen. Aber manchmal brauchen Eltern etwas Ruhe und Unterstützung, um ihre Stärken zu entdecken. Es fällt ihnen schwer, sich nach großen Belastungen wieder aufzurichten. An dieser Stelle müssen Gesellschaft und Außenwelt sie auffangen. Hilfreich könnten dabei Angebote der Gesundheitsförderung und Prävention für Familien sein, aber auch Verbesserungen in der gesundheitlichen Versorgung rund um die Geburt.