Verliert das Alter seinen Schrecken?
Wer heute 65 ist, kann sich im Schnitt auf 20 weitere Lebensjahre freuen. Viele Menschen werden diese Zeit bei guter Gesundheit verbringen. Denn Krankheiten wie Herzinfarkt und Schlaganfall treten später auf und führen nicht so schnell zum Tod. Das zeigt eine aktuelle Studie auf Basis von Krankenkassendaten, die Dr. Sveja Eberhard erläutert.
Dreimal in der Woche schnürt Arthur G. seine Joggingschuhe, um dem Schicksal davonzulaufen. Sein Großvater starb mit 68 Jahren an einem Herzinfarkt, sein Vater erlitt mit 68 den ersten und mit 72 den zweiten Infarkt. Arthur selbst ist 59 Jahre alt und hat rein statistisch betrachtet eine gute Chance, älter zu werden als seine Vorfahren. Denn die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland steigt jährlich um rund drei Monate. Doch bleiben sie auch länger gesund oder überleben sie nur länger, wenn eine Krankheit auftritt? Eine Forschergruppe an der Medizinischen Hochschule Hannover untersucht gemeinsam mit der AOK Niedersachsen, in welchem Lebensalter sich bestimmte Krankheiten manifestieren und ob sich dieser Zeitpunkt im Lebenslauf nach hinten oder vorn verlagert. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob sich die biologische Alterung verzögern lässt und welche Rolle dabei Medizin und Lebensbedingungen spielen. Und nicht zuletzt geht es auch darum, welche Ressourcen die Gesellschaft an welcher Stelle aufwenden sollte, um die Gesundheit jedes Einzelnen zu schützen oder wiederherzustellen. Erste Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass die Menschen in Deutschland im Vergleich zu früheren Generationen gesünder alt werden. So tritt beispielsweise der Herzinfarkt, eine der häufigsten Todesursachen, insbesondere bei Männern später im Leben auf. Gleichzeitig erhöhte sich das allgemeine Sterbealter der Männer. Eine ähnliche Entwicklung ist beispielsweise bei Schlaganfall und Lungenkrebs zu beobachten.
Morbiditätsexpansion: Mit Krankheit länger leben.
Erst in jüngster Geschichte ist es den Menschen gelungen, den Zeitpunkt des Todes deutlich nach hinten zu verschieben. Die Verbesserung von Ernährung und Hygiene sowie der allgemeinen Lebensbedingungen trug erheblich zum Anstieg der Lebenserwartung bei. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sank insbesondere die bis dahin hohe Mütter- und Kindersterblichkeit. Seit den letzten fünfzig Jahren steigt die Lebenserwartung aber vor allem deshalb, weil die älteren Menschen noch mehr Lebenszeit gewinnen: Heute 65-jährige Männer können im Durchschnitt mit weiteren 17 Lebensjahren und sechs Monaten rechnen, 65-jährige Frauen mit 20 Jahren und neun Monaten. Nach dem Modell der Morbiditätsexpansion, 1977 formuliert vom US-amerikanischen Epidemiologen Ernest M. Gruenberg, verlängert sich unsere Lebenszeit, weil dank der Fortschritte der Medizin mehr Menschen mit Gesundheitsproblemen länger überleben. Demnach können viele Erkrankungen heute zwar behandelt, aber letztlich nicht geheilt werden. Deshalb steigt der Anteil der chronisch Kranken in einer Bevölkerung – nicht weil die moderne Medizin so schlecht ist, sondern weil sie so erfolgreich ist. Dabei könnte sich der Beginn bestimmter Erkrankungen sogar nach vorn verschieben: Allgemeinplätze wie „Volkskrankheiten sind auf dem Vormarsch“ suggerieren, dass immer mehr Menschen immer früher erkranken. Als Erklärung werden hier zumeist Folgen des modernen Lebensstils (wenig Bewegung, Stress, Umweltfaktoren) angeführt. Doch längere Krankheitszeiten könnten sich auch daraus ergeben, dass immer mehr Erkrankungen früher entdeckt und früher behandelt werden. Im besten Fall führt dies zur Heilung, im schlimmsten Fall würde sich das Leiden verlängern, aber nicht das Leben.
- Siegfried Geyer: Die Morbiditätskompression und ihre Alternativen. In: Gesundheitswesen 2015; 77:442-446
- Lena Bachus, Sveja Eberhard, Karin Weißenborn, Denise Muschik, Jelena Epping, Siegfried Geyer: Morbiditätskompression bei Schlaganfall? Langzeitanalysen zur Veränderung des Auftretens von Schlaganfall. In: Gesundheitswesen. Juni 2017. DOI: 10.1055/s-0043-109860
- Statistische Daten zur Lebenserwartung (destatis)
- Deutscher Alterssurvey (DEAS)
Morbiditätskompression: Länger leben und gesund bleiben.
Der Diskussion um eine schleichend kränkere Bevölkerung setzte James Fries, Professor an der Stanford University School of Medicine, Kalifornien, Anfang der 1980er Jahre die optimistischere These der Morbiditätskompression entgegen: Er ging davon aus, dass Menschen nicht nur länger leben, sondern auch mehr Lebenszeit in guter Gesundheit verbringen. Krankheit und Gebrechlichkeit – Morbidität – würden demnach in die letzte Lebensphase „hineinkomprimiert“. Die Gründe sah er darin, dass es durch weiter verbesserte Lebensbedingungen, vor allem aber durch die zunehmende Verbreitung gesundheitsförderlicher Lebensstile und Prävention möglich sei, medizinisch nicht heilbare chronische Beeinträchtigungen sowie Altersprozesse hinauszuzögern. Man mag ihm unmittelbar Glauben schenken, wenn man alte Fotos oder Filme betrachtet: Heutige 60-Jährige wirken heute oft viel jünger als 60-Jährige noch Mitte des letzten Jahrhunderts. Von Fries stammt auch die „Runners-Studie“: Sie zeigt, dass Menschen, die sich regelmäßig bewegen, weniger unter Altersbeschwerden leiden und im Schnitt länger leben. „Relative Kompression“ bedeutet, dass sich die Zeitspanne, die Menschen in Krankheit und Behinderung verbringen, zwar nicht verkürzt, aber dass sie erst später im Leben beginnt. Damit hat die betroffene Person gesunde Lebensjahre gewonnen und bezogen auf die gesamte Lebenszeit relativ weniger Lebenszeit in Krankheit verbracht. Bei „absoluter Kompression“ leben Menschen nicht nur länger, sondern sind auch kürzer krank.
Dynamisches Gleichgewicht: Gute Lebensqualität trotz Krankheit.
Ein drittes Modell zur Entwicklung von Lebenserwartung und Krankheitslast geht von einem „dynamischen Gleichgewicht“ aus und verbindet die beiden anderen. Kenneth Manton formulierte 1982 die These, Menschen seien bei steigender Lebenswartung zwar länger krank, könnten aber zunehmend besser am Alltag teilnehmen, da die Krankheitssymptome sie weniger beeinträchtigten. Dies sei ein Erfolg der Früherkennung und einer besseren Therapie chronischer Erkrankungen, die ein Fortschreiten und das Auftreten von Folgekrankheiten verzögert oder verhindert. So bleibt die Lebensqualität trotz unvermeidlicher Alterserscheinungen lange erhalten. In der Realität finden verschiedene Entwicklungen parallel statt. Doch welche dominiert? Und zeigen sich in allen Ländern und Bevölkerungsschichten die gleichen Trends, oder gibt es gegenläufige Entwicklungen? Die Beantwortung dieser Fragen ist wichtig, denn für die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme, sowie für Wirtschaft und Politik spielt es eine entscheidende Rolle, ob sich der Beginn von Krankheiten im Lebenslauf nach hinten verschiebt und ob bestimmte Erkrankungen häufiger oder seltener auftreten als früher. Um den Versorgungsbedarf zu planen, müssen die Entscheidungsträger wissen, wie sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung über die Zeit verändert hat und sich möglicherweise weiter verändern wird.
Daten der AOK Niedersachsen zeigen, dass der Herzinfarkt bei Männern im Vergleich zu 2005 im Jahr 2014 rund acht Monate später aufgetreten ist und Männer insgesamt zudem im Durchschnitt zehn Monate länger leben. Das belegt die These, dass Menschen künftig mehr Jahre in Gesundheit verbringen.
Quelle: MHH/AOK Niedersachsen
Forschung auf Basis von Krankenkassendaten.
Seit die US-amerikanischen Forscher vor mehr als 30 Jahren ihre drei gegensätzlichen Thesen formulierten, haben Wissenschaftler sie in vielen ökonomischen, medizinischen und soziologischen Artikeln aufgegriffen – fast immer allerdings mit dem Hinweis, dass nicht hinreichend geklärt sei, welche der drei erwähnten Thesen gelte. Es fehlten die erforderlichen empirischen Belege, insbesondere zur Entwicklung bestehender, gut diagnostizierbarer Erkrankungen. Dieser Aufgabe widmet sich seit 2013 ein Kooperationsprojekt der Medizinischen Soziologie an der Medizinischen Hochschule Hannover und der AOK Niedersachsen unter der Leitung von Professor Dr. Siegfried Geyer (siehe Interview). Die Forscher werteten anonymisierte Daten von über drei Millionen Frauen und Männern aus, die zwischen 2005 und 2015 bei der AOK Niedersachsen versichert waren. Verwendet man Diagnosedaten von Krankenkassen für wissenschaftliche Fragen, gilt es einige Klippen zu umschiffen. Eine sich ändernde Versichertenstruktur, neue diagnostische Möglichkeiten, Änderungen in der Krankheitsdefinition oder sich ändernde Dokumentationsgewohnheiten könnten die Ergebnisse verzerren. Aus diesem Grund haben die Forscher alle Daten umfangreich validiert, plausibilisiert, standardisiert sowie die Auswahl der betrachteten Krankheiten und alle Ergebnisse mit Experten diskutiert. Inzwischen liegen erste Ergebnisse vor: Vieles deutet darauf hin, dass die Menschen gesünder alt werden.
Herzinfarkt verschiebt sich nach hinten.
Beim Herzinfarkt etwa zeigt sich insbesondere bei den Männern ein deutlicher Trend: 2014 waren AOK-versicherte Männer, die erstmalig einen Herzinfarkt erlitten, etwa acht Monate älter als 2005 (siehe Grafik „Männer gewinnen gesunde Lebenszeit“). Das durchschnittliche Alter aller in einem Kalenderjahr gestorbenen Männer (Sterbealter) erhöhte sich um rund zehn Monate. Das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, sank im selben Zeitraum um durchschnittlich 22 Prozent. Parallel dazu sank die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, innerhalb eines Jahres zu sterben (Sterblichkeitsrisiko), um einen ähnlichen Wert. Das bedeutet, These zwei trifft zu: Bei Männern hat eine (relative) Morbiditätskompression stattgefunden, denn das Alter beim Versterben und das Alter beim Ausbruch des ersten Infarkts stiegen um etwa den gleichen Betrag. Bei Frauen verlief die Entwicklung etwas anders. Zwar sank das Herzinfarktrisiko über die betrachteten zehn Jahre deutlich: insgesamt um über 30 Prozent. Demgegenüber gab es beim Alter zum Zeitpunkt des ersten Herzinfarkts keine wesentlichen Veränderungen. Bei der Interpretation dieser Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass Frauen insgesamt älter werden als Männer. Aktuell liegt das durchschnittliche Sterbealter bei 82,3 Jahren, bei Männern sind es 73,8 Jahre.
Männer holen auf.
Der gesundheitliche Unterschied zwischen Männern und Frauen verringert sich also – die Männer holen auf. Lungenkrebs-Häufigkeit sinkt. Im Vergleich zum Herzinfarkt treten Schlaganfälle meist in einer noch späteren Phase des Lebens auf. Männer waren in den Jahren 2005 bis 2014 beim ersten Schlaganfall im Schnitt knapp 70 Jahre alt, Frauen rund 77 Jahre. Dabei veränderte sich das Alter bei Frauen über die Jahre nicht wesentlich, bei den Männern tritt er heute etwas später als vor zehn Jahren auf. Das Risiko, einen blutungsbedingten Schlaganfall zu erleiden, ist bei Männern und Frauen über die Zeit gesunken. Dagegen zeigten sich beim ischämischen Hirninfarkt, dem Verschluss von Blutgefäßen im Gehirn, keine interpretierbaren Veränderungen. Insgesamt ist also beim Schlaganfall ein leichter Trend in Richtung Morbiditätskompression zu beobachten. Besonders interessant sind die Entwicklungen beim Lungenkrebs. Das Auftreten dieser Krebsart hängt stark vom Rauchverhalten ab. Studien zeigen für mehrere westliche Länder, dass der sinkende Tabakkonsum in den letzten Jahren zu einer graduellen Verringerung der Lungenkrebsraten geführt hat. Dies belegen auch die Daten der AOK Niedersachsen. Die Erkrankungsraten bei Männern unterschritten im Jahr 2014 die Ausgangswerte aus dem Jahr 2005 um mehr als 60 Prozent. Bei Frauen verlief die Entwicklung weniger kontinuierlich, insgesamt fielen die Raten auch bei ihnen deutlich ab. Die Ergebnisse lassen hier also ebenfalls auf eine absolute Kompression der Morbidität schließen.
Der sogenannte Alterszucker trifft insbesondere jüngere Frauen immer früher. Eine Studie auf Basis von Daten der AOK Niedersachsen zeigt, dass in der Altersgruppe der 18- bis 39-Jährigen sich die Erstmanifestation (Beginn einer Krankheit) von Diabetes Typ 2 gegenüber 2006 im Jahr 2013 um mehr als zehn Monate nach vorn verschoben hat. Ein ähnlicher, aber weniger stark ausgeprägter Trend zeigt sich auch bei Männern.
Quelle: MHH/AOK Niedersachsen
Alterszucker verlagert sich nach vorn.
Demgegenüber weist die zeitliche Entwicklung des Diabetes Typ 2 in eine Gegenrichtung. Diabetes Typ 2, der sogenannte Alterszucker, tritt immer früher auf. Die Forscher fanden allerdings heraus, dass sich dies nur in der Altersgruppe zwischen 18 und 39 Jahren zeigt. Im Vergleich zu 2006 waren Menschen dieser Altersgruppe im Jahr 2013 fast zehn Monate jünger, als Typ 2-Diabetes erstmalig bei ihnen diagnostiziert wurde (siehe Abbildung „Diabetes beginnt bei Jüngeren immer früher“). Gleichzeitig stieg die Häufigkeit von Diabetes Typ 2 in allen Altersgruppen deutlich an: Bei Frauen von zwölf auf fast 16 Prozent, bei Männern von elf auf 15 Prozent. Dies deutet darauf hin, dass für Diabetes das Modell der Morbiditätsexpansion gilt. Kritisch ist hier insbesondere das sinkende Erkrankungsalter in der Gruppe der jüngeren Menschen. Da Diabetes ein Risikofaktor für weitere Erkrankungen ist, könnten sich die Ergebnisse beim Herzinfarkt wieder verschlechtern, wenn diese Altersgruppe älter wird. Gleichzeitig zeigen die Daten jedoch, dass das Sterbealter von Diabetikern steigt. Dies könnte ein Indikator für eine verbesserte medizinische Behandlung sein und somit auf das dritte Modell hinweisen – das dynamische Gleichgewicht.
Subjektive Gesundheit verbessert sich.
Die ärztlichen Diagnosen weisen also insgesamt auf eine positive Entwicklung hinsichtlich der Gesundheit im höheren Alter hin. Das belegen auch Studien zur subjektiven Gesundheit. Teilnehmer des am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung angesiedelten Sozio-Ökonomischen Panels berichteten von 1997 bis 2010 regelmäßig über ihre Alltagsbeeinträchtigungen und ihre Gesundheit. Hierbei zeigen sich bei den 65-Jährigen zwei bemerkenswerte Trends: Zum einen gaben im Verlauf des Befragungszeitraums weniger Menschen an, unter Alltagsbeeinträchtigungen zu leiden. Gleichzeitig schätzten mehr Menschen ihre Gesundheit als „gut“ oder „sehr gut“ ein, während der Anteil der Nennungen von „weniger gut“ oder „schlecht“ leicht sank – allerdings nur bis zum Alter von 80 Jahren. Mit Ausnahme der ältesten Altersgruppe steigt also offenbar auch die subjektive Gesundheit der Seniorinnen und Senioren. Insgesamt zeigen die Ergebnisse aus AOK-Daten und aus Befragungen somit, dass sich die Gesundheit der untersuchten Bevölkerungsgruppen über die Zeit verbessert hat. Dies gilt jedoch nicht ausnahmslos: Wie bereits dargestellt, tritt beispielsweise Diabetes Typ 2 inzwischen zunehmend in jüngeren Jahren auf. Offen bleibt darüber hinaus, ob alle sozialen Gruppen in gleicher Weise von einer Morbiditätskompression profitieren, ob diese Entwicklung in Abhängigkeit von der sozialen Lage zeitlich verzögert verläuft – oder gar gegenläufig ist. Dies sollen im Rahmen der Studie zur Morbiditätskompression weitere Analysen zeigen, die Rückschlüsse darauf zulassen, ob Risikofaktoren, Lebensbedingungen und Lebenswandel auseinanderdriften oder sich angleichen.
Immer mehr Senioren schätzen ihre Gesundheit als gut oder sehr gut ein.
Freiwillig länger arbeiten?
Relevanz haben die Forschungsergebnisse zur Morbiditätskompression auch für die Debatte um das Renteneinstiegsalter. Das 65. Lebensjahr ist eine Norm vom Ende des 19. Jahrhunderts. Damals betrug die Lebenserwartung weniger als 50 Jahre, sodass die meisten Menschen ihre Rente gar nicht mehr erlebten. Wäre das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung gekoppelt, würden Menschen heute erst mit über 80 Jahren in den Ruhestand gehen. Wenn das Leben bei guter Gesundheit länger wird – was spricht dagegen, dass Menschen freiwillig länger arbeiten? Gleichzeitig deuten empirische Daten darauf hin, dass eine verbessere Gesundheit nicht pauschal gilt: Wer in einem belastenden Beruf arbeitet, sollte vielleicht sogar eher aus dem Arbeitsleben ausscheiden dürfen. Weitere Analysen sollen zeigen, wie groß gesundheitliche Unterschiede zwischen Berufs- und Sozialschichten tatsächlich sind und in welche Richtung die Trends verlaufen. In Zeiten von Fachkräftemangel und der Furcht vor Löchern in den Rentenkassen könnten flexible Lösungen mit freiwilligen Altersteilzeitmodellen auch über das heutige Rentenalter hinaus Beschäftigten, Arbeitgebern und der Gesellschaft insgesamt nützen.
Spielraum für neue Modelle in der Pflege.
Auch für die Diskussion um den Pflegebedarf haben die Ergebnisse der Studie zur Morbiditätskompression Konsequenzen. Häufig wird argumentiert, dass die Pflegekosten außer Kontrolle geraten, weil die Menschen immer älter werden. Trifft die These der Morbiditätskompression zu, werden künftige 80-Jährige jedoch etwas seltener pflegebedürftig sein als heutige 80-Jährige. Zwar wird es mit den geburtenstarken Jahrgängen mehr Hochaltrige und damit Pflegebedürftige geben. Doch entscheidend ist, dass sich auch die Gesundheit der Älteren über die Zeit ändert: Der Anteil pflegebedürftiger Menschen könnte weniger stark steigen als befürchtet und damit mehr Spielraum entstehen, um gute und neue Modelle in der Pflege zu erproben und umzusetzen. Ausgabenprofile der Krankenkassen zeigen, dass ältere Menschen im Durchschnitt höhere Gesundheitskosten verursachen. Dennoch ist die Frage nach den Auswirkungen der Alterung auf die Gesundheitsausgaben in der Ökonomie höchst umstritten. Zum einen verursachen vor allem die letzten Monate vor dem Tod oft hohe Kosten. Wenn die Lebenserwartung steigt, ist davon auszugehen, dass sich diese Sterbekosten nach hinten verschieben. Und es gibt einen weiteren Grund, dass die Annahme „je älter, desto teurer“ in dieser Schlichtheit nicht stimmt. Die meisten Prognosen gehen davon aus, dass sich am Gesundheitszustand der 60-, 70- oder 80-Jährigen über die Zeit nichts ändert. Doch der Gesundheitszustand jeder Altersgruppe ist gerade nicht gleichbleibend über die Zeit. Damit lassen sich auch Ausgabenprofile nicht einfach in die Zukunft fortschreiben. Wie und in welche Richtung sie sich verändern, hängt wesentlich davon ab, welches der beiden Modelle zutrifft: Morbiditätskompression oder -expansion.
Beim Diabetes gegensteuern.
Die vorliegenden Daten zeigen, dass nicht nur die Lebenserwartung steigt, sondern dass auch die Gesundheit – insbesondere der Männer – im Durchschnitt besser geworden ist. Arthur G. also hat gute Chancen, gesünder alt zu werden als seine Vorfahren. Die Daten zeigen aber auch, dass Gesundheit kein Automatismus ist, sondern sich durch politische Entscheidungen beeinflussen lässt. Im Fall von Lungenkrebs waren die Initiativen gegen das Rauchen erfolgreich: Die Krankheit ist seltener geworden und beginnt später im Leben. Dass aber Diabetes immer häufiger und immer früher auftritt, ist ein Alarmzeichen. Hier sind Schritte wie eine leicht verständliche Lebensmittelkennzeichnung oder die Einführung einer Zuckersteuer überfällig, damit sich der insgesamt positive gesundheitliche Trend künftig nicht wieder umkehrt.
Prof. Dr. Siegfried Geyer erläutert im Interview mit Änne Töpfer, warum sich der Ausbruch von Erkrankungen nach hinten verschiebt und welche Vorteile Krankenkassendaten haben.
Herr Professor Geyer, schöne Aussichten: Wir leben nicht nur länger, sondern werden auch später krank. Oder was hat die Studie von MHH und AOK zur Morbiditätskompression ergeben?
Siegfried Geyer: Das hängt von der Art der Erkrankung ab. Das Herzinfarkt-Risiko beispielsweise hat sowohl bei Männern als auch bei Frauen über die Jahrzehnte abgenommen. Für die Männer gilt zudem, dass sie heute älter sind, wenn sie einen Herzinfarkt erleiden. Das durchschnittliche Alter beim Versterben hat sich ebenfalls erhöht. Auch bei Lungenkrebs und Schlaganfall zeigt sich diese sogenannte Morbiditätskompression. Beim Diabetes Typ 2 sehen wir dagegen eher eine Morbiditätsexpansion: Das durchschnittliche Alter beim Ausbruch der Erkrankung ist zwar gesunken, sie lässt sich aber besser behandeln. Deshalb werden die Zeiten länger, die Patienten mit der Krankheit verbringen.
Prof. Dr. Siegfried Geyer leitet die Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Soziologie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).
Warum verschiebt sich der Ausbruch einiger Erkrankungen nach hinten?
Geyer: Die meisten Menschen essen gesünder, bewegen sich mehr und nutzen Präventionsangebote. Die Lebensbedingungen haben sich insgesamt verbessert. Allerdings bestehen dabei große soziale Unterschiede: Je schlechter gebildet Menschen sind, desto größer ist ihr Erkrankungsrisiko.
Sie nutzen Krankenkassendaten für Ihre Studie. Warum?
Geyer: Die Kassendaten haben den Vorteil, dass wir damit eine komplette Bevölkerung oder eine große Untergruppe beobachten können. Im Vergleich dazu liefern beispielsweise Befragungen unvollständige Daten, weil Menschen mit Erkrankungen weniger bereit sind, daran teilzunehmen. In den Krankenkassendaten ist alles drin, was Behandlungen auslöst. Diese pseudonymisierten Abrechnungsdaten spiegeln zudem die soziale Lage wieder.
Welche Konsequenzen haben die Ergebnisse für die Gesellschaft?
Geyer: Wenn man eine Morbiditätskompression annimmt, wird der Anstieg der Gesundheitskosten etwas flacher verlaufen. Die zweite Frage betrifft die Lebensarbeitszeit. Berufe wie Dachdecker oder Maurer sind zwar weiterhin oft mit einem frühzeitigen körperlichen Verschleiß verbunden. Aber Menschen, die keine körperlich beanspruchenden Tätigkeiten ausüben, könnten künftig vielleicht später in den Ruhestand gehen.