Interview

„Die Zukunft der Gesundheit ist digital“

Von der Digitalisierung erwartet Sascha Lobo große Fortschritte für Patienten. Der Internet-Experte und Autor (Spiegel Online) hält es jedoch für unabdingbar, dass Menschen über den Gebrauch ihrer Gesundheitsdaten selbst bestimmen können.

Herr Lobo, immer mehr Menschen nutzen Gesundheits-Apps oder Fitness-Tracker und geben dabei persönliche Daten bereitwillig preis. Gleichzeitig sind die Datenschutz-Hürden bei Projekten im Gesundheitswesen sehr hoch. Passt das zusammen?

Sascha Lobo: Natürlich passt das zusammen. Die Dissonanz ergibt sich aus der problematischen Doppelbedeutung des Begriffs Datenschutz, der einerseits besteht aus: harte Regulierung beim gewünschten Gebrauch der Daten. Und andererseits aus: Datensicherheit und Schutz vor Missbrauch der Daten. Datenschutz muss sich weiterentwickeln in Richtung von echter Datensouveränität. Ich halte es für falsch, Menschen davor zu schützen, ihre Daten auszuwerten, wenn sie es selbst wollen und durchschauen.

Was heißt das für den Gesundheitsbereich?

Lobo: Das heißt, dass die Leute so weit wie sinnvoll über ihre Daten insbesondere im Bereich Digitale Körperlichkeit bestimmen können sollten. Ich halte es für absolut legitim, normal und oft auch sehr sinnvoll, wenn man etwa seine persönlichen Fitness-Daten auf den dafür vorgesehenen Plattformen auswerten lässt, das tue ich selbst übrigens auch. Aber zugleich sind Daten rund um die Digitale Körperlichkeit die mehr oder weniger intimsten Daten, die zugleich größte Macht über die einzelne Person bedeuten können. Diese Ambivalenz erfordert es, zwischen Datengebrauch und Datenmissbrauch zu unterscheiden, die Prozesse verständlicher zu machen, die Selbstbestimmung der Nutzenden besser zu ermöglichen.

„Die Haupttreiber haben erst seit sehr kurzer Zeit begriffen, dass und wie stark die Digitalisierung in die digitale Körperlichkeit eingreift.“

In Dänemark hat jeder Einwohner seine elektronische Patienten­akte, in Estland geht ohne E-Health im Gesundheitswesen nichts mehr. Davon ist Deutschland weit entfernt. Sehen Sie das kritisch oder können Sie dem etwas Positives abgewinnen?

Lobo: Ich sehe daran nichts Positives, mit einer leider nur theoretischen Ausnahme: Wenn es so wäre, dass in der verlorenen Zeit substanziell darüber nachgedacht worden wäre, wie die Digitalisierung des Gesundheitswesens sinnvoller, sicherer, simpler funktionieren hätte können – dann wäre die Verzögerung klug gewesen. Ich nehme es aber eher gegenteilig wahr, als worst of both worlds.

Wie meinen Sie das?

Lobo: Die Blockierer waren so lange erfolgreich, dass inzwischen schnell irgendwas getan werden muss, ohne dass eine tiefere Strategie oder Konzeption dahinter stünde. Ich kann mich hier irren, weil es im Bereich der Digitalisierung nicht das Gesundheitswesen gibt, sondern eine Vielzahl von Einzelprojekten und Subsystemen. Aber mir fehlt der große gesundheitssystemische Wurf, und er fehlt meiner Ansicht nach ausnahmsweise nicht so sehr, weil die Politik hier versagt hätte, sondern weil die Haupttreiber erst seit sehr kurzer Zeit begriffen haben, dass und wie stark die Digitalisierung in die Digitale Körperlichkeit eingreift.

Der Datenschutz hat hierzulande im Vergleich zu anderen Staaten einen sehr hohen Stellenwert, nicht nur im Gesundheitswesen. Ist das in einem guten oder in einem schlechten Sinne typisch deutsch?

Lobo: Weder noch, ich würde sogar die Ausgangsthese anzweifeln. Was hierzulande einen hohen Stellenwert hat, ist gefühlter Symboldatenschutz. Nach einer ganzen Reihe von Datenschutzbrüchen kräht kein Hahn, beziehungsweise in manchen Fällen nur ein Hahn, also ich. Ich verweise auf die fast 70 Artikel, die ich zu den Snowden-Enthüllungen geschrieben habe und bei denen ich am Ende mit ein paar Hunderttausend anderer Empörter dastand – und es hat niemanden mehr interessiert. Ich kann die Frustration vieler Datenschützer gut nachvollziehen, weil die Datenschutz-Debatte anhand von manchmal untauglichen Quatsch-Symbolen geführt wird: Datenschutz-Esoterik also. Meine Hoffnung ist, dass eine jüngere, digital aufgeklärtere Generation selbstverständlicher und einfach klüger mit dem Thema Digitale Gesellschaft und auch Digitale Körperlichkeit umgeht.

„Ich erwarte, dass sich die Entwicklung auch in Deutschland beschleunigt und zwar vom gegenwärtigen Tempo auf ein solides Schneckentempo.“

Der neue Gesundheitsminister Jens Spahn vertritt die These, dass Datenschutz nur etwas für Gesunde sei, weil Patienten im Fall der Fälle von einem unkomplizierten Datentransfer profitierten. Teilen Sie diese Ansicht?

Lobo: Die allermeisten Sätze, die mit „Jens Spahn glaubt“ beginnen, müsste ich mit „Aber ich nicht“ beantworten. In diesem Fall allerdings hat er, wie so oft, mit einem Unterton der Verächtlichkeit etwas zugespitzt, das nicht völlig falsch ist. Es gibt einen Aspekt beim Thema Datenschutz, der bestimmte Formen der datenbasierten Behandlung sehr erschwert, zum Beispiel dadurch, dass die Datenauswertung sehr viel teurer wird und dadurch nicht mehr wirtschaftlich abbildbar ist. Trotzdem sehe ich bei Jens Spahn in diesem Fall die Gefahr, dass er das Fortschrittskind mit dem Datenbade auskippt. Konkret: Dass er hier nicht so behutsam neu reguliert, wie es sinnvoll wäre, sondern mit der Behauptung, jeder Fortschritt sei gut, auf problematische Weise dereguliert.

Sie beobachten kritisch, dass die Digitalisierung dem Körper immer näher kommt – vom PC auf dem Schreibtisch über die Smartwatch am Handgelenk bis zum digitalen Medikament, das im Körperinneren aktiv ist. Was stört Sie daran?

Lobo: Ich beobachte natürlich alles kritisch, auch mich selbst. Kritik ist für mich erstmal eine Form der Auseinandersetzung, die sich nicht pauschal auf gut oder schlecht festlegt und schon gar nicht vor der Beschäftigung mit dem Thema. Insofern stört mich kaum etwas daran, dass sich eine Digitale Körperlichkeit entwickelt, und auch nichts daran, dass sie bis in den Körper hineinreicht. Das erscheint mir als sinnvolles Ausschöpfen der Kräfte der Digitalisierung – wenn es auf menschenwürdige Weise geschieht. Leider ist genau diese Einschränkung bei sehr vielen Entwicklungen bisher schwierig oder gar nicht zu erkennen. Oft auch dadurch, dass sich ein Teil der Erfinder kaum Gedanken dazu macht, welche gesellschaftlichen Folgen und Spätfolgen ihre Produkte haben.

Auf der anderen Seite: Welche Chancen bieten digitale Anwendungen für die Gesundheit?

Lobo: Diese Frage würde ich anders stellen, denn die Zukunft der Gesundheit ist zweifellos digital, in fast jedem Aspekt. Das heißt nicht, dass man jetzt anfängt, am Smartphone zu lecken, aber von Sensorik über Diagnostik mithilfe etwa Künstlicher Intelligenz bis zur Behandlung durch gezielte Information befindet sich die Gesundheitswirtschaft hier auf einem unumkehrbaren und auch sinnvollen Weg. Leider ist es wie so oft: Die doofen und schlimmen Dinge passieren von allein, die guten und großartigen Dinge müssen hart und kompliziert erarbeitet werden.

Zum Schluss: Welche wesentlichen digitalen Entwicklungen erwarten Sie für die kommenden zehn Jahre? Ersetzt das Smartphone den Besuch beim Doktor?

Lobo: Das ist heute schon so, die deutsche Gesundheitslandschaft hat es bloß noch nicht mitbekommen. In anderen Bereichen löst dafür das Smartphone und alles, was man darin finden und besprechen kann, einen Arztbesuch überhaupt erst aus. Für die kommenden zehn Jahre erwarte ich, dass sich die Entwicklung auch in Deutschland beschleunigt. Und zwar vom gegenwärtigen Tempo, das etwa der Kontinentaldrift entspricht, hoch auf ein solides Schneckentempo.

Hans-Bernhard Henkel-Hoving führte das Interview. Er ist Chefredakteur der G+G.
Bildnachweis: Reto Klar