Nationale Bewertung soll bleiben
Im Streit um die Nutzenbewertung von Arzneimitteln und Medizinprodukten hat jetzt das Europäische Parlament eigene Leitlinien vorgelegt. Sie könnten als Basis für einen Kompromiss dienen. Von Thomas Rottschäfer
Ein halbes Jahr
nach seiner Veröffentlichung ist der Vorschlag der EU-Kommission für eine zentrale Nutzenbewertung von Gesundheitstechnologien (Health Technology Assessment, HTA) auf Europaebene mit einer Verpflichtung zur Eins-zu-eins-Übernahme der Ergebnisse durch alle Mitgliedstaaten (siehe G+G 3/2018, Seite 18) vom Tisch. Der Rat der Gesundheitsminister hat sich bei seiner Tagung am 22. Juni gegen eine verpflichtende Anwendung ausgesprochen. „Damit ist klar, dass es im Rat auch keine Mehrheit für das von der Kommission langfristig angestrebte Verbot nationaler Nutzenbewertung gibt“, sagt der AOK-Vertreter in Brüssel, Evert Jan van Lente. „Dennoch haben alle Beteiligten deutlich gemacht, dass ihnen grundsätzlich an einer Harmonisierung der Zusammenarbeit gelegen ist. Das ist auch die Position der Kassen in Deutschland und des Gemeinsamen Bundesausschusses.“
Gemeinsame Position gesucht.
Um die Kuh vom Eis zu holen, hat Bulgarien zum Ausklang seiner EU-Präsidentschaft Ende Juni die Gesundheitsminister gebeten, eine Richtungsentscheidung zu treffen. Eine Arbeitsgruppe soll eine gemeinsame Position für den Rat erarbeiten. „Die Kernfrage ist, ob sich die Länder eine langfristige und nachhaltige HTA-Kooperation auch ohne obligatorische Teilnahme eines Landes und Übernahme der Ergebnisse vorstellen können“, erläutert Europaexperte van Lente.
Parlament will manches anders.
Die Vorlage für einen tragfähigen Kompromiss könnte aus dem Europaparlament kommen. Im Mai hat die Berichterstatterin des Parlamentsausschusses für Gesundheit, die spanische Europaabgeordnete Soledad Cabezón Ruiz, umfangreiche Änderungen am Kommissionspapier vorgeschlagen. „Sie will abweichende nationale Bewertungen zulassen, um spezielle HTA-Anforderungen in einzelnen Ländern berücksichtigen zu können. Das betrifft insbesondere Deutschland mit seinem hohen Qualitätsanspruch an die Nutzenbewertung neuer Arzneimittel“, so van Lente. Allerdings votiert auch die Ausschussberichterstatterin für eine verpflichtende Nutzung der gemeinsam erarbeiteten Assessments. Einzelne Mitgliedsländer könnten danach zusätzliche klinische Bewertungen vornehmen, die auf EU-Ebene noch nicht berücksichtigt wurden.
Hohe Standars gefordert.
Cabezón Ruiz fordert zudem maximale Transparenz, hohe Standards und ein von der EU-Kommission unabhängiges wissenschaftliches Arbeiten der HTA-Gremien. Bei der Nutzenbewertung von Medizin- und Gesundheitstechnologien müsse der Nutzen für die Patienten klar im Mittelpunkt stehen. Die Industrie würde verpflichtet, alle verfügbaren Daten und Studien zu liefern. Die abschließenden HTA-Be-richte sollen grundsätzlich veröffentlicht werden. Die EU-Kommission hatte sich in ihrem Vorschlag die jeweilige Entscheidung über eine Veröffentlichung von Ergebnissen vorbehalten.
Gesundheitspolitik spielte für die bulgarische Ratspräsidentschaft keine Hauptrolle. Zu den vom Rat der Gesundheitsminister Ende Juni verabschiedeten Schlussfolgerungen gehört aber die Aufforderung an die EU-Mitgliedsländer, Lebensmittelinhalte besser zu kennzeichnen und Kinder vor Werbung für Ungesundes zu schützen. In Bildungs- und Sporteinrichtungen dürfe es kein Sponsoring durch betreffende Marken und Firmen geben.
Nur ein Experte pro Land.
Der Bericht greift nach Darstellung van Lentes fast alle Bedenken auf, die auch der AOK-Bundesverband in Brüssel vorgebracht habe. Dabei gehe es auch darum, die Position der HTA-Experten zu stärken und den Einfluss Brüssels auf die Organisation zu beschränken. In der unabhängigen HTA-Koordinierungsgruppe soll danach jedes Land nur mit einem Experten für drei Jahre vertreten sein. Bei Uneinigkeit müssten Entscheidungen mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden. Voraussichtlich im Oktober gibt der Gesundheitsausschuss des EU-Parlaments sein endgültiges Votum ab. Wie es auf Ratsebene weitergeht, liegt nun in den Händen der neuen Ratspräsidentschaft: Österreich hat zum 1. Juli Bulgarien abgelöst. „Die Österreicher sind auch in dieser Frage sehr ambitioniert“, sagt van Lente. Doch die meisten Beobachter seien skeptisch, ob noch vor der Europawahl 2019 ein Ergebnis vorliegt.