„Auch Deutschland hat beim Zucker viel zu tun“
Zucker im Übermaß macht nicht nur krank, sondern auch unglücklich, sagt Robert Lustig. Der US-Wissenschaftler und Bestsellerautor beobachtet mit Sorge die dramatische Zunahme von Fettleibigkeit und Diabetes, gerade auch bei Kindern und Jugendlichen. In Deutschland sieht er im Kampf gegen zu viel Zucker den Staat in der Pflicht.
Herr Lustig, die Rate der Fettleibigen steigt weltweit dramatisch an, besonders rasch ist das der Fall bei Kindern. Was steckt dahinter?
Robert Lustig: Dass die Zahl der Fettleibigen zunimmt, hat viele Gründe. Fettleibigkeit ist das Ergebnis eines Zusammenspiels aus genetischen und Umweltfaktoren. Die Gene haben sich in den vergangenen 40 Jahren nicht verändert. Die Umwelt schon. Es gibt künstlich erzeugte chemische Stoffe in unserer Umwelt, die das Wachstum der Fettzellen fördern und ihre Funktionsweise ändern, zum Beispiel Phtalate und Bisphenol A (BPA). Eine wesentlich wichtigere Rolle als diese Stoffe spielen bei Fettleibigkeit allerdings industriell gefertigte Lebensmittel.
Inwiefern?
Lustig: Entscheidend ist die Frage, warum die Fälle von Typ-2-Diabetes und Fettleber schneller steigen als die Zahl der Fettleibigen. So ist die Rate der Fettleibigen in den vergangenen 40 Jahren Jahren jährlich um 2,78 Prozent gestiegen, die Diabetesrate dagegen um 4,07 Prozent. Außerdem gab es 1980 noch keinen Typ-2-Diabetes bei Kindern. Heutzutage ist eine von drei Diabetesdiagnosen bei Kindern Diabetes Typ 2. Wenn jemand vor 1980 eine Fettleber hatte, lag das am Alkoholmissbrauch. Heutzutage haben 40 Prozent der Erwachsenen und 20 Prozent der Kinder eine nicht alkoholische Fettleber.
Warum bezeichnen Sie Zucker als Volksfeind Nr. 1?
Lustig: Ursprünglich waren die Transfette, also stark erhitzte Fette, der Volksfeind Nr. 1. Aber die US-Lebensmittelbehörde hat Zucker an die oberste Stelle gesetzt. Haushaltszucker besteht aus etwa gleichen Anteilen aus Glukose und Fruktose. Obwohl diese Zuckerarten gleich viele Kalorien haben, unterscheiden sie sich völlig. Glukose ist unser Energielieferant. Jede Zelle verbrennt Glukose zur Energiegewinnung. Glukose ist so wichtig, dass unsere Leber sie produziert, wenn wir sie nicht zu uns nehmen. Fruktose ist zwar eine Energiequelle, hat aber sonst keine Funktion.
Sie ist aus mindestens vier Gründen schlimmer als Glukose. Erstens: Fruktose unterdrückt das appetitanregende Hormon Ghrelin nicht. Das Gehirn erkennt deshalb nicht, dass wir gegessen haben. Zweitens: Ist mehr Fruktose vorhanden, als die Leber verarbeiten kann, wird der Rest in Leberfett umgewandelt. Das führt zu einer Insulinresistenz und der Entstehung von chronischen Erkrankungen wie Diabetes Typ 2. Drittens: Glukose und Fruktose sind beide für Vorgänge verantwortlich, die die Zellen schädigen – bei Fruktose gilt das jedoch siebenmal mehr als bei Glukose. Schließlich regt Fruktose das Belohnungszentrum im Hirn an, fördert also das Wohlbefinden, aber auch die Gefahr, abhängig zu werden.
Betrachten Sie Salz und Fett ähnlich kritisch?
Lustig: Obwohl wir dreimal mehr Salz konsumieren, als wir sollten, sind nur 20 Prozent der Menschen in den USA salzempfindlich. 80 Prozent können überschüssiges Salz über die Nieren ausscheiden, ohne dass sich ihr Blutdruck erhöht. Fett hat ebenfalls einen schlechten Ruf. Transfette sind Gift. Aber neuesten Studienergebnissen zufolge werden chronische Erkrankungen nicht durch Fett verursacht. Tatsächlich schützen viele Fette vor Diabetes und Herzkrankheiten. Und obwohl sowohl Salz und Fett den Geschmack verstärken, stimulieren sie nicht das Belohnungszentrum, machen also nicht süchtig.
Welche Rolle spielen industriell gefertigte Lebensmittel bei Übergewicht?
Lustig: Industriell gefertigte Lebensmittel enthalten viel Zucker und wenig Ballaststoffe. Der hohe Zuckeranteil dient dem Geschmack, durch einen geringen Ballaststoffanteil verbessert sich die Haltbarkeit. Abgesehen vom zugesetzten Zucker sind die fehlenden Ballaststoffe das entscheidende Problem. Ballaststoffe schützen vor chronischen Erkrankungen.
In Ihrem Buch „Brainwashed“ beschreiben Sie die Abhängigkeit vom Zucker und die Folgen für das Wohlbefinden. Was werfen Sie der Nahrungsmittelindustrie vor?
Lustig: In dem Buch erkläre ich die sieben Unterschiede zwischen Vergnügen und Glück. Vergnügen bedeutet: Das fühlt sich gut an, ich will mehr davon. Glück heißt dagegen: Das fühlt sich gut an, ich möchte oder brauche nicht mehr. Substanzen, die das Vergnügen fördern, zum Beispiel Kokain, Alkohol, Zucker, oder auch Handlungen wie Shoppen setzen den Neurotransmitter Dopamin im Belohnungszentrum des Gehirns frei und können im Extremfall zur Sucht führen. Glück unterscheidet sich völlig vom Vergnügen. Erfahrungen, die zufrieden und glücklich machen, setzen den Neurotransmitter Serotonin frei.
Das Problem ist, dass viele Branchen luststeigernde und abhängig machende Substanzen oder Handlungen bewerben, um uns davon zu überzeugen, dass wir durch sie glücklich werden. Wir werden dadurch aber nicht glücklich. Tatsächlich machen sie uns unglücklich.
Was ist zu tun?
Lustig: Ein Problem kann man nicht lösen, wenn man es nicht kennt. Den Unterschied zwischen Vergnügen und Glück zu verstehen, ist ein erster Schritt. Zu erkennen, wie die einzelnen Branchen die Werbetrommel für ihre Produkte oder Dienstleistungen rühren, ist der nächste Schritt.
Marketingverbot, freiwilliger Verzicht, Steuern: Welches Rezept im Kampf gegen zu viel Zucker ist das Beste?
Lustig: Die Lebensmittelindustrie wird sich nicht ändern, solange es nicht in ihrem eigenen Interesse ist. Wenn wir natürliche Lebensmittel billiger und industriell gefertigte teurer machten, würde sich die Lebensmittelindustrie ganz schnell ändern.
Welche Rolle kann und muss der Staat übernehmen?
Lustig: Er kann die Preisstruktur ändern, indem er natürliche Lebensmittel subventioniert und industriell gefertigte höher besteuert. Außerdem kann er alle an einen Tisch bringen. 2006 brachte die britische Regierung alle Interessenvertreter zusammen, um den Salzgehalt in industriell gefertigten Lebensmitteln langsam zu verringern. Fünf Jahre später waren Bluthochdruck und Schlaganfälle um 40 Prozent zurückgegangen.
Worin sehen Sie Chancen für Deutschland?
Lustig: Deutschland hat ein Zuckerproblem. Es ist nicht so gravierend wie in den USA, nichtsdestotrotz gibt es viel zu tun. Ich habe Kollegen in der Kinderendokrinologie in Ulm, Essen, Berlin und Leipzig, die ihr Bestes geben, um ihre Patienten zu schulen. Auch die AOK hat das Problem erkannt und setzt sich aktiv für Maßnahmen zur Zuckerreduktion ein.
Wie wird Ihr Engagement gegen Zucker und industriell gefertigte Lebensmittel in Ihrer Heimat USA gesehen, die für den Rest der Welt der Inbegriff von Fast Food mit einer hohen Rate übergewichtiger und fettleibiger Menschen ist?
Lustig: Das hängt davon ab, wen Sie fragen. Es gibt vier Gruppen: Die Dinosaurier, die nichts mehr dazulernen; die Verweigerer, die die Wahrheit nicht akzeptieren können; dann die Dilettanten, die von der Industrie bezahlt werden. Und schließlich die Abhängigen, die von ihrer Dosis Zucker nicht lassen können. Trotz allem bewegt sich etwas. Einer aktuellen Umfrage unter Ärzten zufolge glauben 65 Prozent der Befragten, dass Zucker eine, wenn nicht sogar die Ursache von Diabetes Typ 2 ist. Und die Zahnärzte sind alle im Boot. Die Botschaft verbreitet sich langsam, aber sicher.
Mehr zum Thema Zuckerreduktion in dieser Ausgabe:
- „Warum bei Zucker weniger mehr wäre”: Viele Lebensmittel enthalten reichlich Zucker. Auf dem zweiten Zuckerreduktionsgipfel ging es um Strategien, wie sich das weiße Süße verringern lässt. Von Thomas Hommel
- „Mit Steuern steuern”: Steuern auf Tabak ebenso wie auf Alkohol oder Zucker können das Gesundheitsverhalten günstig beeinflussen, sagt Präventionsexperte Dr. med. Kai Kolpatzik.