Warum bei Zucker weniger mehr wäre
Viele Lebensmittel enthalten reichlich Zucker. Auf dem zweiten Zuckerreduktionsgipfel ging es deshalb um Strategien, wie sich das weiße Süße in Müsli, Limo & Co. verringern lässt. Denn die Folgen eines zu hohen Zuckerkonsums sind alarmierend. Von Thomas Hommel
Auf dem Potsdamer Platz
in Berlin hat die AOK vor Kurzem für einen Tag Deutschlands ersten „transparenten Supermarkt“ eröffnet. Vielen Besuchern dürfte es dort drinnen wie Schuppen von den Augen gefallen sein, dass in vielen gängigen und beliebten Lebensmitteln eine Menge Zucker enthalten ist. Und damit jedem auch wirklich klar wird, wie viel Süßes in Limo, Müsli & Co. steckt, hat die Gesundheitskasse neben jedes der Produkte einen Glasbehälter mit just der Menge an Würfelzucker gestellt, die man beim Verzehr des jeweiligen Lebensmittels zu sich nimmt.
Hochgerechnet sind es 90 Gramm Zucker, die jeder Bundesbürger am Tag konsumiert – fast doppelt so viel, wie die Weltgesundheitsorganisation maximal empfiehlt. Das Zuviel an Süßem hat gesundheitliche Folgen, wobei der AOK insbesondere der zugesetzte Zucker ein Dorn im Auge ist.
„Aktuelle Erhebungen zeigen, dass rund 80 Prozent der Fertigprodukte in Supermärkten zugesetzten Zucker enthalten, der für Verbraucher zumeist nur schwer zu erkennen ist“, sagte der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, beim zweiten Deutschen Zuckerreduktionsgipfel kürzlich in Berlin. Mehr als 200 Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft nahmen an dem Kongress teil. Der zugesetzte Zucker in Lebensmitteln – auch herzhaften – stehe in einem klaren Zusammenhang mit Adipositas, starkem Übergewicht, Karies und Diabetes, warnte Litsch.
Gute Ernährung ist Medizin.
Besonders drastische Worte für das Problem wählte der US-amerikanische Arzt und Wissenschaftler Dr. Robert H. Lustig. Zucker mache abhängig und sei in seiner Wirkung toxisch, so Lustig. „Für unsere Kinder ist er so schädlich wie Alkohol.“ Zucker verfette die Leber der Kinder und mache sie sehr krank.
Mehr Kompetenz
Mehr Ernährungskompetenz ist nötig. So zeigt eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, dass 74 Prozent der Eltern den Gesamtzuckergehalt von Lebensmitteln und Getränken nicht einschätzen können.
Neue App
Die neue und kostenfreie AOK-App „Gesund Einkaufen“ unterstützt Verbraucher beim Erkennen und Einordnen von Zucker-, Salz- und Fettanteilen in Lebensmitteln mittels Nährwert-Ampel oder einem Zuckerwürfel-Rechner.
Starkes Bündnis
Weniger Süßes: Dieses Ziel hat sich die „Aktion weniger Zucker“ auf die Fahnen geschrieben. Das Bündnis, dem auch der AOK-Bundesverband angehört, setzt sich für ein Verbot des Kindermarketings für zucker- sowie kalorienreiche Produkte, eine verständliche Lebensmittelkennzeichnung, Steueranreize für die Industrie sowie verbindliche Standards für die Kita- und Schulverpflegung ein.
Mehr Informationen: AOK fordert verbindliche Zusagen von der Lebensmittelindustrie
Weltweit steige die Zahl der Diabetiker dramatisch. Im Jahr 2014 seien mehr als 420 Millionen Menschen daran erkrankt gewesen. Die Krankheit schieße quasi in den Himmel. „Und das alles passiert vor unseren Augen.“ Lustig schloss seinen Vortrag mit einer einfachen, gleichwohl einprägsamen Botschaft: „Gute Ernährung ist Medizin, schlechte braucht Medizin.“
Steuer auf süße Kinderprodukte.
Auch Dr. Dietrich Garlichs, Berater des Vorstandes der Deutschen Diabetes Gesellschaft, beklagte einen zu hohen Zuckerkonsum in Deutschland. Ein Grund dafür seien die inzwischen zahlreichen industriell gefertigter Lebensmittel und Getränke sowie der künstlich zugesetzte Zucker darin. „Wir brauchen deshalb eine klare Kennzeichnung wie die Lebensmittel-Ampel.“
Eine solche Ampel, sagte Garlichs, führe dem Verbraucher klar vor Augen, was er tagtäglich zu sich nimmt. Kleingedruckte Nährwert- und Kalorienangaben auf den Produkten dagegen seien für viele Menschen irreführend und missverständlich. Darüber hinaus müsse der Staat den Lebensmittelkonsum mittels Steuern in die richtige, sprich die gesunde Richtung lenken. „Preise wirken“, betonte Garlichs – und verwies auf das Beispiel Großbritannien. Dort hätten Getränkehersteller nach der Einführung einer Steuer auf zuckerhaltige Softdrinks die Rezepturen ihrer Produkte geändert. „Scheint also zu wirken, wenn die Politik eingreift.“
Auch der SPD-Gesundheitsexperte Professor Dr. Karl Lauterbach warb beim Besuch des AOK-„Supermarktes“ für eine Zuckersteuer auf süße Kinderprodukte. Die Einnahmen sollten an Schulen und Kitas fließen, so der Politiker.
Solchem Aktionismus – insbesondere in Richtung Zucker – können Vertreter der Ernährungsindustrie wenig abgewinnen. „Wenn wir uns nur auf den Zucker konzentrieren, kommen wir nicht weiter. Wir müssen über zu viele Kalorien reden“, sagte Günter Tissen, Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftlichen Vereinigung Zucker. Hauptproblem sei, dass sich die Menschen zu wenig bewegen und die Kalorien nicht abbauen würden, die sie zu sich nehmen. Selbst bei einer Zuckerreduktion bliebe der Kaloriengehalt mitunter der gleiche. Tissen nannte als Beispiel den weniger gesüßten Yogurt. Viele Konsumenten sagten sich: „Prima, dann kann ich ja zwei essen.“ Tissens Appell: „Wir müssen uns ehrlich machen.“
Eine gesunde Wahl ermöglichen.
Eben diese richtige Balance wolle sie finden, betonte Bundesernährungsministerin Julia Klöckner beim Kongress. „Wir müssen hier mit politischem Augenmaß vorgehen. Es gibt nicht den einen Knopf, den man drückt und alles ist gut.“
Ihr Anliegen sei es, „die gesunde Wahl von Lebensmitteln zu einer leichten Wahl zu machen“. Deshalb sei es gut, dass jetzt mit der Ernährungswirtschaft eine erste Vereinbarung gefunden worden sei, nach der ab dem kommenden Jahr weniger Zucker, Fette und Salz in Fertignahrungsmitteln verwendet werden sollen. Außerdem werde sie Zucker und süßende Zutaten in Säuglings-und Kindertees verbieten, kündigte Klöckner an.
Mehr Wissen statt Zeigefinger.
Eine „Ernährungspolizei“, die den Menschen vorschreibe, was sie essen sollten und was nicht, helfe niemandem weiter, betonte Klöckner. Sie setze stattdessen auf mehr „Ernährungskompetenz“ in der Bevölkerung. Sie freue sich deshalb auch, die Schirmherrschaft für eine geplante AOK-Studie zu diesem Thema zu übernehmen. „Nach Abschluss dieser Studie wissen wir, wie es um die Ernährungskompetenz in Deutschland steht und können dann mit konkreten Maßnahmen daran anknüpfen.“
Verbindliche Zusagen notwendig.
Beim AOK-Bundesverband stößt die Grundsatzvereinbarung zwischen Politik und Wirtschaft grundsätzlich auf Zustimmung. Vertreter der Lebensmittelindustrie hätten inzwischen das gesundheitliche Risiko eines übermäßigen Zuckerkonsums erkannt und Reduktionsstrategien gestartet, sagte AOK-Vorstand Litsch.
„Sie merken, dass man damit Geld verdienen kann.“ Aber, fügte Litsch hinzu: „Das kappt leider nur die Spitze des Zuckerbergs.“ Die AOK setze darauf, „dass weitere Akteure Verantwortung übernehmen und sich der von der Politik geplanten nationalen Reduktionsstrategie anschließen“. Dazu gehöre eine Einigung auf kurzfristig nachvollziehbare und messbare Reduktionsziele.
Auch Experte Garlichs bezeichnete es als richtig, dass Politik und Wirtschaft gemeinsam Konzepte erarbeiten wollten, um den Anteil von Zucker, Salz und Fett in Lebensmitteln zu senken. „Die Frage ist nur, ob das ohne Sanktionsmöglichkeiten auskommt.“
Mehr zum Thema Zuckerreduktion in dieser Ausgabe:
- „Mit Steuern steuern”: Steuern auf Tabak ebenso wie auf Alkohol oder Zucker können das Gesundheitsverhalten günstig beeinflussen, sagt Präventionsexperte Dr. med. Kai Kolpatzik.
- „Auch Deutschland hat beim Zucker viel zu tun” – US-Wissenschaftler und Bestsellerautor Robert Lustig im Interview