Plan für ein Lahnstein 2.0
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat die Eckpunkte für die Reform des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung vorgestellt. Mit seinem Entwurf geht der Minister weit über die seit längerem angekündigte Neujustierung hinaus. Spahn will alle gesetzlichen Krankenkassen bundesweit öffnen. Dagegen formiert sich bereits Widerstand in den Bundesländern. Von Thomas Rottschäfer
Anders als bei seinen bisherigen größeren Gesetzesvorhaben verzichtete Jens Spahn auf ein Eckpunktepapier als Diskussionsgrundlage. Nach einem Hintergrundgespräch mit Journalisten und einem kurzen Statement im Ministerium ließ der Minister gleich auch den Referentenentwurf zur Reform durchsickern. Das in Windeseile verbreitete Gesetzesvorhaben firmiert unter dem Wohlfühltitel „Gesetz für eine faire Kassenwahl in der GKV“.
Vorbereitend hatte Spahn bereits im „Handelsblatt“ angekündigt, dass er gedenke, die Krankenkassenlandschaft umzugestalten – gewissermaßen als „Lahnstein 2.0“. In dem Ort in Rheinland-Pfalz hatten sich 1992 CSU-Gesundheitsminister Horst Seehofer, SPD-Sozialexperte Rudolf Dressler und die FDP auf eine Neuorganisation der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verständigt. Dazu gehörte neben der freien Kassenwahl auch der Risikostrukturausgleich, um finanziellen Belastungen durch historisch gewachsene Versichertenstrukturen auszugleichen.
Reformprozess vollenden.
Nach der Weiterentwicklung des Mechanismus zu einem morbiditätsorientierten RSA durch SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nebst Bildung des Krankenkassen-Spitzenverbandes zum 1. Januar 2009 ist es nach Diktion Spahns jetzt an der Zeit, den vor einem Vierteljahrhundert begonnenen Reformprozess zu vollenden. Aus Sicht des CDU-Politikers hat sich das System der Krankenkassenarten mit Allgemeinen Ortskrankenkassen, Ersatzkassen, Betriebskrankenkassen und Innungskrankenkassen überlebt.
Einige Gesundheitsminister in den Ländern kritisieren die Pläne scharf.
Er will, dass sich Hamburger bei der AOK Bayern, Stuttgarter bei der IKK Nord oder Kölner bei der BKK Henschel Plus in Kassel versichern können. Ausnahmen von der generellen Öffnung soll es nur für Betriebskrankenkassen geben, die eng an ihr Trägerunternehmen gebunden sind.
Bundesweite Öffnung angestrebt.
Von den zehn größten Kassen seien nur vier bundesweit geöffnet, sagt der Minister und argumentiert mit dem Wettbewerb: „Krankenkassen, die durch ihre regionale Begrenzung bisher Vorteile aus unterdurchschnittlichen regionalen Ausgabenstrukturen ziehen konnten und daher unterdurchschnittliche Zusatzbeitragssätze anbieten, werden für Mitglieder aus dem gesamten Bundesgebiet wählbar. Dadurch werden Wettbewerbsvorteile, die sich derzeit aus unterdurchschnittlichen regionalen Ausgabenstrukturen ergeben, perspektivisch verringert.“ Spahn strebt zudem eine (bundes-)einheitliche Kassenaufsicht an.
Diese Ankündigungen haben bereits die Gesundheitsministerinnen und -minister von Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen auf den Plan gerufen. Durch den Wegfall des regionalen Bezugs der AOKs sei mit erheblichen Verwerfungen im Kassengefüge und negativen Auswirkungen auf das jeweilige Versorgungsgeschehen in den Ländern zu rechnen, warnen sie in einem Schreiben an Spahn. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann formulierte die Kritik an Spahns Konzept bei einem Gesundheitskongress in Köln am 27. März gewohnt handfest: „Eine Bundes-AOK kann er sich von der Backe putzen.“
Spahns Pläne für eine neue Kassenlandschaft überdecken fast die Inhalte der eigentlichen RSA-Reform.
Bayerns Ressortchefin Melanie Huml hat für die Gesundheitsministerkonferenz Anfang Juni in Leipzig bereits einen Beschluss vorbereitet. Darin heben die Länder „die große Bedeutung föderaler Strukturen in der Gesundheitsversorgung“ hervor und fordern den Bund auf, „die Aufgabenverteilung im föderalen System zu respektieren“.
Auch beim Haftungssystem will der Gesundheitsminister das System der Krankenkassenarten überwinden. Bei Schließung, Auflösung oder Insolvenz einer Krankenkasse sollen nicht mehr die betreffenden Kassenartenverbünde, sondern der GKV-Spitzenverband haften. Die entstehenden Kosten würden dann auf alle Kassen umgelegt.
Für den Wettbewerb der Krankenkassen, insbesondere für Werbemaßnahmen, soll künftig das „Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb“ als verbindlicher Mindeststandard gelten. Kassen, die sich durch einen Rechtsverstoß eines Konkurrenten benachteiligt sehen, sollen unabhängig von der zuständigen Aufsichtsbehörde selbst aktiv werden und vor Zivilgerichten klagen dürfen. Als möglicher Klagegrund werden auch „RSA-Manipulationen“ genannt.
Die eigentliche Neujustierung des RSA.
Spahns Pläne für eine neue Kassenlandschaft überdecken fast die Inhalte der eigentlichen RSA-Reform. Die Neujustierung des Risikostrukturausgleichs beinhaltet laut Referentenentwurf die nachfolgend skizzierten Schwerpunkte:
- Krankheits-Vollmodell
Statt der bisherigen Begrenzung auf 50 bis 80 Krankheiten, die bei der Einführung des Morbi-RSA als Übergangslösung vorgegeben wurde, soll das gesamte Krankheitsspektrum berücksichtigt werden. „Durch das Vollmodell werden für einen Großteil der Versicherten Über- und Unterdeckungen verringert, wodurch Anreize zur Risikoselektion, Differenzen zwischen den Deckungsbeiträgen der Krankenkassen und somit Wettbewerbsverzerrungen verringert werden“, heißt es im Entwurf.
- Einführung einer Regionalkomponente
In den RSA sollen regionale Variablen einbezogen werden, „die einen hohen statistischen Erklärungsgehalt für regionale Deckungsbeitragsunterschiede aufweisen“ – zum Beispiel der Anteil ambulant Pflegebedürftiger in einer Region. Angebotsorientierte Faktoren wie Arztdichte oder Krankenhausbettenzahl sollen nicht in den Ausgleich einbezogen werden, „um Fehlanreize im Hinblick auf die Verstetigung von Über- und Unterversorgung zu vermeiden“.
- Risikopool
Finanzielle Belastungen für einzelne Krankenkassen, die sich aus Hochkostenfällen ergeben, sollen durch den Risikopool verringert werden. Aus dem Pool sollen Krankenkassen für jeden Versicherten 80 Prozent der Leistungsausgaben erstattet bekommen, die über 100.000 Euro pro Jahr hinausgehen.
- Altersinteraktionsterme
„Bisher erhalten junge Versicherte mit hoher Morbidität tendenziell zu niedrige und ältere, multimorbide Versicherte tendenziell zu hohe Zuweisungen“, sagt Spahn. „Altersinteraktionsterme“ sollen dafür sorgen, dass identische Krankheiten je nach Alter zu unterschiedlichen Behandlungskosten führen können.
Zudem sollen beim RSA mittelfristig identische Diagnosen von Hausärzte und Fachärzten unterschiedlich bewertet werden, weil die hausärztliche Versorgung bei vielen Krankheiten zu niedrigeren Ausgaben führe. Der Entwurf enthält überdies zahlreiche Detailregelungen, die RSA-Manipulationen verhindern sollen. Um die Prävention zu stärken, sollen Krankenkassen eine Vorsorgepauschale für alle Versicherten erhalten, die Vorsorge-, Gesundheits- und Früherkennungsmaßnahmen in Anspruch nehmen.
Kassen-Vorstände sollen in Spitzenverband.
Schlussendlich enthält auch das „Faire-Kassenwahl-Gesetz“ eine Spahn-Spitze gegen die Selbstverwaltung. „Um eine Professionalisierung zu erreichen und die Anbindung an das operative Geschäft der Mitgliedskassen zu unterstützen“, so der Minister, sollen im Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbandes nicht länger die Vertreter der Arbeitgeber und Versicherten sitzen, sondern Vorstände der Krankenkassen. Und eine verbindliche Quotenregelung soll „eine angemessene Repräsentanz von Frauen“ in Vorstand und Verwaltungsrat des Spitzenverbandes sichern.
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„Das ist machtpolitischer Zentralismus“: Wie die Vorstandsspitzen der AOKs und des AOK-Bundesverbandes auf Jens Spahns Eckpunkte für die Reform des Risikostrukturausgleichs reagiert haben.