Dem Fehlverhalten auf der Spur
Ein Apotheker panscht Krebsmittel, Pflegedienste rechnen Luftleistungen ab – Betrug im Gesundheitswesen gefährdet nicht nur Leib und Leben, sondern kostet die Beitragszahler Milliarden. Rund 49 Millionen Euro konnten Ermittler der Kranken- und Pflegekassen zuletzt zurückholen. Wie sie dabei vorgehen, berichten Dominik Schirmer, Dr. Roman Grinblat und Ass. jur. Jörg Kaempfe.
Auf einer Skala von null bis 100 hat Deutschland im Jahr 2018 beim Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) 80 Punkte erreicht. Ein CPI von 100 bedeutet: keine wahrgenommene Korruption. In der Bewertung durch Transparency International landet Deutschland im Vergleich von insgesamt 180 Ländern auf Platz elf. Das ist eine bessere Platzierung als im Jahr zuvor (Platz zwölf). Doch der CPI hat sich um einen Punkt verschlechtert. „Das ist alarmierend“, kommentiert Edda Müller, Vorsitzende von Transparency Deutschland, das Ergebnis. „Offensichtlich existiert der Eindruck, dass man mit unlauteren Methoden auch hier in Deutschland Geschäfte fördern kann.“
Auch in der Gesundheitswirtschaft gibt es Schwarze Schafe, die sich mit Bestechung und Betrug Vorteile verschaffen. Deshalb hat der Gesetzgeber im Jahr 2004 die Kranken- und Pflegekassen in die Pflicht genommen, das Fehlverhalten im Gesundheitswesen zu bekämpfen: Mit den Paragrafen 197a Sozialgesetzbuch V und 47a im Sozialgesetzbuch XI legt er fest, dass die Kassen organisatorische Einheiten einrichten, „die Fällen und Sachverhalten nachzugehen haben, die auf Unregelmäßigkeiten oder auf rechtswidrige oder zweckwidrige Nutzung von Finanzmitteln“ im Zusammenhang mit ihren Aufgaben hindeuten. Und diese „Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen“ (StBvFG) arbeiten mit Erfolg: So holten sie in den Jahren 2016/2017 für die Beitragszahler insgesamt rund 49 Millionen Euro aus Korruptionsfällen zurück. Davon sind rund 27 Millionen Euro der Ermittlungsarbeit der AOK zu verdanken (siehe Grafik „Kassen kämpfen gegen Korruption“).
So viele Millionen Euro holten die Kassen zurück
Die Summe der gesicherten Forderungen aus Fehlverhalten im Gesundheitswesen ist im Berichtszeitraum 2016/2017 deutlich gestiegen: Die Ermittler der gesetzlichen Krankenversicherung konnten insgesamt mehr als 49 Millionen Euro zurückholen – davon allein die AOK rund 27 Millionen Euro. In den Jahren 2010/2011 lag die Summe um fast acht Millionen Euro niedriger (41,3 Millionen Euro).
Quelle: GKV-Spitzenverband
Mit den StBvFG hat der Gesetzgeber eine sozialrechtliche Zwischeninstanz auf dem Weg zur strafrechtlichen Verfolgung von Korruption eingebaut. Die strafrechtliche Sanktionierung, also das „schärfste Schwert“ des Gesetzes, unterliegt hingegen stets dem Gewaltmonopol des Staates. Diese Aufgabe verbleibt daher immer bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten.
Selbstreinigungskräfte unterstützen.
Der Gesetzgeber will mit den vorgenannten Regelungen für einen effizienten Einsatz der finanziellen Mittel von gesetzlicher Kranken- und Pflegeversicherung (GKV und SPV) sorgen und die Selbstreinigungskräfte innerhalb des Gesundheitssystems fördern. Dabei soll jedoch kein Klima des Misstrauens entstehen.
Die gesetzlichen Regelungen verdeutlichen drei Kernpunkte: Zunächst einmal erkennt der Gesetzgeber damit an, dass Korruption im Gesundheits- und Pflegebereich viel Geld vernichtet. Die Ökonomen Jim Gee und Mark Button von der University of Portsmouth kommen in ihrer Langzeitstudie „The financial cost of healthcare fraud“ zu dem Ergebnis, dass durchschnittlich 6,19 Prozent der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen aufgrund von „Betrug (und Fehlern)“ verloren gehen. Auf Deutschland übertragen, würde das mehr als 14 Milliarden Euro von den GKV-Ausgaben entsprechen, die nicht direkt der Gesundheit der Versicherten zugute kommen. Der zweite Aspekt besteht darin, dass die Selbstreinigungskräfte innerhalb des Gesundheitssystems nur durch Intervention des Staates richtig funktionieren. Zudem muss der Staat das Geld der Beitragszahler gegen Korruption schützen, weil Versicherungspflicht besteht. Drittens erfolgt diese Kontrolle mit Augenmaß. Der pauschale Verdacht einer ganzen Branche würde in der Praxis das Gleichgewicht zwischen den Kostenträgern, Leistungserbringern und Versicherten aus den Fugen bringen und damit ein Klima des Misstrauens erzeugen. Ein Verdacht muss daher fundiert begründet sein. Die drei genannten Kernpunkte bilden den Rahmen für die Arbeit der Korruptionsbekämpfungsstellen der Kranken- und Pflegekassen.
Zusammenarbeit erwünscht.
Im Kampf gegen Fehlverhalten im Gesundheitswesen arbeiten die Einzelkassen zusammen und stehen nicht im Wettbewerb. Dies gilt sowohl für die gesamte GKV wie für die elf AOKs. Jede AOK beschäftigt einen gesetzlich vorgesehenen Fehlverhaltensbeauftragten. Die Beauftragten leiten in der Regel ein Team von mehreren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fachabteilungen unterstützen die Ermittlungsarbeit. Oft endet der Verdacht auf ein Fehlverhalten nicht an der Landesgrenze und der Grenze des Geschäftsbereichs einer AOK. Um Hinweisen nachzugehen, erfolgreich zu ermitteln und Fälle abschließen zu können, müssen die AOKs zusammenarbeiten. Der AOK-Bundesverband koordiniert die Arbeit in der Fehlverhaltensbekämpfung. Er organisiert unter anderem die Treffen des Fachteams Fehlverhaltensbekämpfung, um beispielsweise über neue rechtliche Entwicklungen und Tendenzen zu informieren und stellt eine Kommunikationsplattform zur Verfügung, um den Informationsaustausch der Beauftragten zu unterstützen. Neben den Fachteam-Sitzungen finden Fallkonferenzen statt, auf denen die AOK-Expertinnen und -Experten über besondere Fälle diskutieren und regionale Ermittlungskonzepte austauschen.
In der G+G-Digital:
- Interview mit Martina Niemeyer: „An erster Stelle steht der Schutz der Versicherten“
weiterführend:
- GKV-Spitzenverband: Tätigkeitsbericht Fehlverhaltensbekämpfung 2016/2017
- Transparency International Deutschland: Korruption im Gesundheitswesen und Korruptionswahrnehmungsindex 2018
- Zum Hören: Edda Müller, die Vorsitzende von Transperancy Deutschland, im Interview
- Bundeslagebild Korruption
- Klaus Lieb, David Klemperer et al.: Interessenkonflikte, Korruption und Compliance im Gesundheitswesen. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2018.
- Kubiciel, Michael; Hoven, Elisa (Hrsg.): Korruption im Gesundheitswesen. Nomos, Baden-Baden 2016.
Auch hier geht es um neue Formen von Fehlverhalten oder Schwachpunkte in gesetzlichen Regelungen beziehungsweise Verträgen sowie das Optimierungspotenzial im Sinne von Erfolgsmodellen. Die Koordinierungsstelle Fehlverhaltensbekämpfung beim AOK-Bundesverband bündelt zudem die Anforderungen der AOK-Gemeinschaft und vertritt diese auf der Bundesebene gegenüber der Politik, dem Gesetzgeber und im GKV-Spitzenverband. Letzterer organisiert und koordiniert das Thema dann kassenartenübergreifend.
Vielzahl unterschiedlicher Delikte.
Ein Beispiel für eine gelungene bundesweite Zusammenarbeit der Krankenkassen mit der Staatsanwaltschaft sind die Ermittlungen im Betrugsfall eines Apothekers in Bottrop. Er hatte zu niedrig dosierte Zytostatika hergestellt, abgegeben und den vollen Betrag mit den Krankenkassen abgerechnet. Die geschädigten Patientinnen und Patienten kommen aus dem gesamten Bundesgebiet. Neben einer hohen Gesundheitsgefahr für Versicherte vermutet die Staatsanwaltschaft einen Schaden von 56 Millionen Euro für die GKV. Der Apotheker ist wegen schwerer Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz und gewerbsmäßigen Betruges zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Allerdings ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, da alle Beteiligten Revision eingelegt haben.
Der spektakuläre Fall aus Bottrop ist nur ein Beispiel für eine Vielzahl unterschiedlicher Delikte. Zu den Unregelmäßigkeiten bei der Verwendung von Finanzmitteln gehören Betrug, Untreue, Bestechlichkeit und Bestechung im Gesundheitswesen sowie Vorteilsannahme. Darüber hinaus kommt es zu Begleitdelikten, wie Urkundenfälschung oder das Fälschen oder Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse.
Typische Fehlverhaltensmuster sind: Abrechnung nicht (persönlich) erbrachter Leistungen („Luftleistungen“); Abrechnung von Leistungen, die durch nicht qualifiziertes Personal erbracht worden sind; unzulässige Zusammenarbeit von Leistungserbringern und Ausnutzung bestehender Geschäftsbeziehungen; Doppelabrechnung von Leistungen; Rezept- und Verordnungsfälschungen; Manipulation von Abrechnungsunterlagen, Urkundenfälschung; Verkauf der Krankenversicherungs-Karte und Anforderung einer Ersatzkarte; falsche Angabe von Sachverhalten in Leistungsanträgen.
Die Hinweise auf Fehlverhalten kommen einerseits von außerhalb der Krankenkasse, beispielsweise von Versicherten oder Mitarbeitern von Leistungserbringern („Whistleblower“). Zudem bringen die internen Abrechnungsprüfungen der Krankenkassen Fehlverhalten ans Licht.
AOK-Ermittler überproportional erfolgreich.
Dabei zeigen sich klare Schwerpunkte: Der größte Anteil an von der AOK aufgedeckten Neufällen von Fehlverhalten entfiel auf die ambulante Pflege nach SGB XI und häusliche Krankenpflege nach SGB V (siehe Grafik „Wo die Schwarzen Schafe auffliegen“). In den Jahren 2016/17 lag die Zahl der Fehlverhaltensfälle im Pflegebereich bei 2.654 – eine Steigerung um 78 Prozent gegenüber dem Zeitraum 2014/15. Im Arzneimittelbereich lag die Fallzahl bei 1.238 (minus drei Prozent gegenüber 2014/15), im Heil- und Hilfsmittelbereich bei 1.755 (minus 20,5 Prozent) und im Bereich der ärztlichen Leistungen bei 843 (plus 19 Prozent).
Insgesamt 9.302 neue Fälle von Fehlverhalten im Gesundheitswesen hat die AOK im Berichtszeitraum 2016/2017 aufgedeckt. Das entspricht einem Anteil von 37 Prozent der von den Experten der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung insgesamt registrierten Neufälle. Den größten Anteil daran hatten Fälle von Korruption in der Pflege (29 Prozent). Ein Grund könnte das Zweite Pflegestärkungsgesetzes sein, das die Prüfung von Abrechnungen der von Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen zur Pflicht machte.
Quelle: AOK-Bundesverband
Im Kampf gegen Korruption im Gesundheitswesen ist die AOK innerhalb der GKV überproportional erfolgreich: Bei einem Marktanteil von rund 36 Prozent nach Versichertenzahlen gehen 56 Prozent der GKV-weit gesicherten Forderungen gegenüber Delinquenten im Gesundheitswesen auf die Arbeit der AOK-Ermittler zurück – also mehr als jeder zweite Euro der rund 49 Millionen Euro, die 2016/17 insgesamt zurückgeholt wurden.
Diese Erfolge und Fortschritte sind umso höher zu schätzen, als die Arbeit der Korruptionsbekämpfungsstellen einigen Erschwernissen ausgesetzt ist. Hierzu gehören datenschutzrechtliche Unsicherheiten. So dürfen beispielsweise die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK), aber auch berufsständische Kammern bisher keine personenbezogenen Daten an die Antikorruptions-Stellen der Kassen weitergeben. Doch gerade eine zeitnahe elektronische Datenübermittlung zwischen diesen Stellen und anderen Einrichtungen ist für den Erfolg der Arbeit essenziell. Mit dem zum Mai 2019 geplanten Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) sollen nun die Übermittlungsbefugnisse personenbezogener Daten unter Restriktionen erweitert werden.
Zudem stellen die durch Krankenkassen aufgedeckten Fehlverhaltensfälle im Gesundheitswesen nur die Spitze des Eisbergs dar. Das Bundeskriminalamt weist in seiner Statistik regelmäßig auf das hohe Dunkelfeld hin. Korruption ist ein Kontrolldelikt: Sie fällt erst auf, wenn die Strafverfolgungsbehörden entsprechende Nachforschungen anstellen. Je häufiger die Strafverfolgungsbehörden eingeschaltet würden, desto höher wären die Fallzahlen. Empirische Untersuchungen zum Dunkelfeld der Korruption sind daher von großer Bedeutung. Diese Forschung gilt es auszubauen. Die GKV sollte sich hier als Initiator und Impulsgeber einbringen.
Hohes Schadenspotenzial in der Pflege.
Eine weitere Herausforderung für die Fehlverhaltensbekämpfung im Gesundheitswesen sind der Abrechnungsbetrug und die organisierte Kriminalität (OK) in der Pflege. In der Presse häufen sich seit 2016 Berichte über „einen der größten Skandale im Gesundheitswesen seit Jahrzehnten“, so SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach 2016 im „Morgenmagazin“ der ARD. Er hat eine breite gesellschaftliche Debatte angestoßen.
Der Lagebericht des Bundeskriminalamtes von 2017 führt dazu aus: „Eine spezielle Ausprägung des Abrechnungsbetrugs, vor allem vor dem Hintergrund einer OK-Relevanz, ist der Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen durch russischsprachige beziehungsweise mehrheitlich von Personen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion geführten Pflegediensten. Hierbei handelt es sich um ein bundesweites Phänomen, das insbesondere dort auftritt, wo sich durch Sprachgruppen geschlossene Systeme bilden.“ Ermittlungen des Bundeskriminalamtes und der Landeskriminalämter zum Beispiel aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zeigen das hohe Schadenspotenzial, das vom Abrechnungsbetrug durch betrügerisch agierende Pflegedienste ausgeht.
Bayern gründet Task Force Pflege.
Doch die Kranken- und Pflegekassen halten dagegen: Auf Initiative der AOK hat sich in Bayern die „Task Force Pflege“ gebildet. In ihr arbeiten Vertreter aller Kassenarten beziehungsweise ihrer Verbände zusammen. Die Task Force Pflege tauscht sich zudem regelmäßig mit dem MDK Bayern, den Trägern der Sozialhilfe und den Ermittlungsbehörden aus. Die Mitglieder der Task Force besprechen die kassenbezogenen Auffälligkeiten aus den Gutachten der Abrechnungsprüfung des MDK Bayern und stimmen die weitere Vorgehensweise ab. In Einzelfällen bearbeiten sie die Sachverhalte gemeinschaftlich unter Federführung einer Kasse und zeigen das mögliche Fehlverhalten bei der Staatsanwaltschaft an. Zusätzlich besprechen und bearbeiten die Task Force-Mitglieder weitere kassenübergreifende, fachliche und strategische Themen.
Hierzu zählt das im Februar 2018 gemeinsam erarbeitete Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassenverbände in Bayern (ARGE) „Verbesserungsvorschläge für die Kriminalitätsprävention im Bereich der ambulanten Pflege und in der häuslichen Krankenpflege“, das die politischen Entscheidungsträger erhalten haben. Kernpunkte des ARGE-Positionspapieres sind die Schaffung einer transparenten Leistungsabrechnung, die Erweiterung der Prüfmöglichkeiten der Kranken- und Pflegekassen, die Entwicklung weiterer vertragsrechtlicher Maßnahmen sowie die Einrichtung einer bundesweiten Betrugspräventions-Datenbank.
Gemeinsame Geschäftsstelle einrichten.
Der Umgang mit Betrug im Pflegebereich zeigt exemplarisch, wohin ein möglicher Weg der Fehlverhaltensbekämpfung zukünftig führen sollte. Zunächst ist die Vernetzung innerhalb der AOK-Gemeinschaft, aber insbesondere auch kassenartenübergreifend, von großer Bedeutung. Wie oben beschrieben, beauftragen die beteiligten Kassen eine von ihnen mit der Federführung des Verfahrens. Diese macht dann im Namen aller Kassen deren Rechte geltend. Dieses Modell trägt nicht nur zu einer besseren regionalen Zusammenarbeit bei, sondern führt gleichzeitig zu einer wirksameren Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen, zu Lerneffekten und langfristig auch zu Ressourceneinsparungen für alle beteiligten Kassen.
Die aufgedeckten Fälle von Fehlverhalten stellen nur die Spitze des Eisbergs dar.
Allerdings kämpfen nicht alle Kostenträger mit gleicher Intensität gegen die Korruption im Gesundheitswesen. Journalistin Kristina Gnirke schreibt dazu (Spiegel-Online, 16. Oktober 2018): „Die Diskrepanz zwischen den Kassen ist groß, wenn es um den Erfolg in der Betrugsbekämpfung geht. Nur wenige stechen heraus, die beweisen, dass die Versicherungen Betrügern durchaus das Handwerk legen können. Von den insgesamt mehr als 110 gesetzlichen Kassen haben nach Spiegel-Informationen fünf AOK-Versicherungen zusammen 40 Prozent des Betrugsschadens in der ambulanten Pflege in den vergangenen zwei Jahren zurückgeholt.“ Um weitere Potenziale in der Betrugsbekämpfung zu heben, sollten sich Kassen künftig über die gesetzliche Mindestverpflichtung hinaus vernetzen. Dies wäre beispielsweise möglich durch die Einrichtung einer Geschäftsstelle, die von allen Kassen getragen wird.
Fachwissen für Ermittlungsbehörden.
Zudem lässt sich die Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden und Staatsanwaltschaften noch verbessern. Maßgeblich für den Erfolg der Arbeit sind die Personalausstattung sowie die Qualifizierung. Die Ermittlungsbehörden haben häufig keine fundierten Kenntnisse über die zum Teil komplexen gesetzlichen und vertraglichen Regelungen in der GKV. Durch Weiterbildung sowie durch die Bündelung von Fachwissen über die Abrechnung von Gesundheits- und Pflegeleistungen sollten die Ermittlungsstellen in die Lage versetzt werden, die Anzeigen der Krankenkassen schnell zu bearbeiten und effizient zu ermitteln.
In Bayern treffen sich die Experten der Kassen deshalb regelmäßig mit Behördenvertretern auf Tagungen oder Seminaren. Dies fördert nicht nur die konstruktive Zusammenarbeit und vergrößert das Wissen im Straf- und Sozialrecht, sondern beeinflusst entscheidend die präventive Arbeit. Als für die Fallbearbeitung vorteilhaft haben sich in diesem Zusammenhang die seit 2014 bestehenden drei bayerischen „Schwerpunktstaatsanwaltschaften Betrug im Gesundheitswesen“ erwiesen. Ebenfalls begrüßenswert ist die Spezialisierung bei der bayerischen Polizei. Seit 2018 gibt es in jedem der zehn bayerischen Polizeipräsidien eine eigene Ermittlungsgruppe Betrug im Gesundheitswesen mit Abrechnungsspezialisten und IT-Experten.
Einzeltäter diskreditieren die Branche.
Wichtig für den Erfolg der Arbeit gegen Fehlverhalten im Gesundheitswesen sind darüber hinaus die Kooperation und der fachliche Austausch mit dem MDK sowie den Leistungserbringern und deren Verbänden, das heißt mit den Ärzten, Apothekern, Krankenhäusern und Pflegediensten. Die rechtskonform agierenden Leistungserbringer und Krankenkassen sitzen in einem Boot, weil Schwarze Schafe eine ganze Branche diskreditieren und letztlich zahlreichen Patientinnen und Patienten schaden können. Eine konstruktive Zusammenarbeit von Kostenträgern mit Leistungsanbietern ist daher im beiderseitigen Interesse und stellt einen wichtigen Schritt in Richtung Betrugsbekämpfung und Betrugsprävention dar. Daher gilt es, Verfahrensweisen zu entwickeln und festzulegen, wie Erkenntnisse aus der Fehlverhaltensbekämpfung systematischer in die Vertragsgestaltung mit den Vertragspartnern der Kassen einbezogen werden können.
Schnittstellen mit anderen Fachbereichen.
Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die organisatorische und personelle Ausgestaltung der Antikorruptionsarbeit bei den Kassen. Die Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen arbeiten nicht autark, sondern sind Teil einer Gesamtorganisation. Sie haben überdurchschnittlich viele Schnittstellen zu anderen Fachbereichen wie beispielsweise zum Leistungs- und Vertragsmanagement, Controlling oder Justiziariat. Die unternehmensinterne Zusammenarbeit muss optimiert und weiterentwickelt werden. Angesicht der genannten Herausforderungen rücken neue IT-Lösungen, Digitalisierung und Big Data noch stärker in den Fokus. Der Einsatz von Data-Mining-Anwendungen zur besseren Identifizierung von Fehlverhaltensfällen und -mustern wird an Bedeutung gewinnen. Data-Mining-Anwendungen analysieren vorhandene Daten, um Querverbindungen und Trends zu erkennen. Hier geht es auch darum, die Anwendung von Prüfroutinen einer kritischen Bestandsaufnahme zu unterziehen und die Prozesse hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und dem Ressourceneinsatz zu hinterfragen.
Kampf gegen Korruption intensivieren.
Die steigende Fallzahl und die für die Solidargemeinschaft zurückgeholten Beitragsgelder sind Ansporn genug, dass die AOK-Gemeinschaft ihren Kampf gegen Korruption fortsetzt und – mit Blick auf das große Dunkelfeld – weiter intensiviert. Die Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen müssen sich daher auf dem Weg in die Zukunft sowohl intern als auch mit Blick auf externe Kooperationspartner weiterentwickeln. Damit tragen sie ihren Teil dazu bei, dass Deutschland bei der nächsten Bewertung durch Transparency International Punkte gutmachen kann.
Die Fehlverhaltensbekämpfung ist auf einem guten Weg, sagt Simone Lötzer, die Fehlverhaltensbeauftragte der AOK Rheinland/Hamburg. Von Seiten des Gesetzgebers müsse aber auch noch einiges getan werden.
Frau Lötzer, was hat die AOK im Kampf gegen Fehlverhalten im Gesundheitswesen erreicht?
Simone Lötzer: In der Fehlverhaltensbekämpfung hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Vor rund 25 Jahren reagierten Ermittlungsbehörden ungläubig, als eine AOK einen Apotheker anzeigte. Diese Naivität ist in den letzten Jahren gewichen. Die Ermittlungen gegen russischsprachige Pflegedienste haben gezeigt, mit welch professionellen Strukturen betrogen wird. Der Fall des Apothekers in Bottrop, der Krebsmedikamente zu niedrig dosierte, hat bei vielen Menschen das Vertrauen in das Gesundheitssystem gestört. Die Fehlverhaltensbekämpfung trägt dazu bei, Vertrauen zurückzugewinnen.
Simone Lötzer ist Fehlverhaltensbeauftragte der AOK Rheinland/Hamburg, Apothekerin und Betriebswirtin.
Welche Unterstützung brauchen Sie, um gegen Fehlverhalten vorgehen zu können?
Lötzer: Kompetente Mitarbeiter können durch Prüfung der Abrechnungsdaten unter Einsatz künstlicher Intelligenz Fehlverhaltensfälle aufdecken. Data-Mining-Programme könnten einen Zusatznutzen bringen. Aber immer wieder wird deutlich, dass uns auch Fehlverhaltensfälle verborgen bleiben. Ein Grund ist, dass den Kassen nicht alle relevanten Daten zu abgerechneten Leistungen vorliegen, die für eine erfolgreiche Fehlverhaltensbekämpfung auch aus Sicht der Ermittlungsbehörden notwendig wären. Es bedarf einer effizienten Aufsicht, die unangekündigt prüft, zudem sollten Versicherte und Leistungserbringer aktiv gegen Fehlverhalten vorgehen und Fälle anzeigen, von denen sie Kenntnis haben. Unverzichtbar sind in diesem Kontext Whistleblower, also Hinweisgeber aus dem Umfeld der Täterinnen und Täter.
Wie sollte der gesetzliche Rahmen für Ihre Arbeit gestaltet sein?
Lötzer: Es gibt einige Fälle, in denen es wünschenswert wäre, dass der Gesetzgeber verbindliche Vorgaben macht beziehungsweise die Rahmenbedingungen nachbessert: So fehlt es vielfach an der Berechtigung zum Austausch personenbezogener Daten mit Behörden, Whistleblower müssen geschützt werden und nicht immer gelingt die vertragliche Vereinbarung mit Leistungserbringern, alle relevanten Leistungsdaten zu übermitteln. Es fehlen beispielsweise im Arzneimittelbereich die Buchungsnummern der Apothekensoftware und im Pflegebereich die Anfangs- und Endzeiten des Einsatzes eines Pflegedienstes beim Patienten. Darüber hinaus ist die Einrichtung von Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften für Straftaten im Gesundheitswesen auch in Nordrhein-Westfalen und Hamburg seit Langem eine zentrale Forderung der AOK Rheinland/Hamburg.